Leseprobe 1: Der Einschluss

Definitionen

Die Einschlusslage (oder Einkesselung) (1) ist unter allen geopolitischen Determinismen (2) der wichtigste, denn sie bestimmt in sehr hohem Maße das Verhalten einer Nation gegenüber ihren Nachbarn. Aymeric Chauprade definiert den Einschluss wie folgt: „Ein umschlossener Staat ist ein Staat, der über keinen direkten Meerzugang verfügt.‟ (3)

 

Es gibt eine lange Liste von eingeschlossenen Staaten in der Welt. Hier einige Beispiele: In Europa haben die Auflösung Jugoslawiens und die Unabhängigkeit Montenegros 2006 Serbien vom Zugang zur Adria abgeschnitten. In Asien ist Nepal zwischen China und Indien eingeklemmt. Usbekistan ist doppelt eingeschlossen, da es zwei souveräne Staaten durchqueren muss, bevor es das Kapische Meer (ein Binnenmeer) erreichen kan. 

 

Um die Bedeutung des Einschlusses zu verstehen, muss man zunächst erfassen, was der Zugang zum Meer unter dem geopolitischen Gesichtspunkt bedeutet. 

 

 

Die geopolitischen Funktionen des Meeres

Die Erde wird seit der bemannten Raumfahrt „Blauer Planet‟ genannt. Das steht im Zusammenhang mit der Tatsache, dass die Ozeane 71 % der Erdoberfläche bedecken. Die Ozeane sind ungleich auf dem Planeten verteilt; so enthält die Nord- zweimal mehr Landmassen als die Südhemisphäre. 

 

Die Geopolitik teilt dem Meer mehrere Funktionen zu. Zwei unter ihnen sind   seltsam widersprüchlich. In der Tat ist das Meer gleichzeitig für den Menschen ein Trennungs- und ein Verbindungsfaktor. Trennungsfaktor, wenn zwischen zwei Landmassen die zu überquerenden Distanzen so groß sind, dass deren Überschreitung ohne hoch entwickelte Schifffahrt kaum möglich ist. Dies war lange Zeit der Fall des amerikanischen Kontinents, der bis zu den großen Entdeckungen des 15. Jahrhunderts vom Rest der Welt abgeschnitten blieb. Heute und trotz des technischen Fortschritts bleibt die Isolierung von Inseln ungeachtet ihrer Größe ein wichtiger geopolitischer Faktor. Es ist kein Zufall, wenn einige Hochsicherheitsgefängnisse, wie zum Beispiel Alcatraz in der Bucht von San Francisco, auf Inseln liegen oder dass Napoleon endgültig auf St. Helena verbannt wurde. Aber das Meer ist auch ein verbindender Faktor; deshalb spricht man heute von Seewegen. Ein großer Teil der Güter wird über diese transportiert und weder die Luftfahrt noch der Landtransport können ökonomisch damit konkurrieren. 

 

Sobald der technische Fortschritt es erlaubt hat, die Meere zu durchqueren, sind sie zu Konfliktzonen geworden. Im Gegensatz zu den Landflächen hat das Meer lange niedemandem gehört. Selbstverständlich haben sich Völker das Recht angeeignet, es in ihre Territorien einzuschließen wie das Mare nostrum der Römer. So wurden die damit verbundenen Konflikte zunehmend auf dem Meer ausgetragen. Seekriege, Piraterie und Schiffskontrollen sind überzeugende Beispiele dafür. Es wurde deshalb bald notwendig, Seerecht zu schaffen. Aber erst im Jahre 1982 auf der Konferenz von Montego Bay wurde eine verbindliche internationale Gesetzgebung erlassen. Im Wesentlichen garantiert das Seerecht die Durchgangsfreiheit in den internationalen Meerengen. Die Staatssouveränität beschränkt sich auf zwölf Seemeilen (4) und jene der wirtschaftlichen Zone auf 200 Seemeilen. Aber auch in den wirtschaftlichen Zonen sind die Kompetenzen der Staaten stark begrenzt. Die Handels- und Militärflotten aller Länder haben freies Zugangsrecht und können sich allen Aktivitäten einschließlich Militärmanövern zuwenden. Was den Meeresboden betrifft, so ist dieser der Meeresbodenbehörde der Vereinten Nationen (UNO) unterstellt, die mit dessen Verwaltung beauftragt wurde. (5)

 

Das Meer, geografisches Hindernis, völkerverbindendes Element, ist auch eine wichtige Nahrungssressource des Planeten. Man schätzt, dass das Meer der weltweiten Bevölkerung etwa 15 % der Tierproteine liefert. 

 

Welches ist denn nach diesen Feststellungen die Beziehung zwischen der Schweiz und dem Meer? Die Schweiz ist von fünf Staaten umgeben und hat keinen direkten Zugang zum Meer. Geografisch ist die Schweiz also ein eingeschlossenes Land. Doch der Einschluss der Schweiz ist ebenfalls geopolitischer Natur. Alle Nachbarländer, außer dem Fürstentum Liechtenstein, sind Mitglieder der EU. Dazu ist der Einschluss der Schweiz auch eine geostrategische Realität, da außer Österreich und dem Fürstentum Liechtenstein alle Nachbarländer Mitglieder der Nordatlantik-Organisation (NATO) sind. Mit einer solchen Lage fehlt es dem Schweizer Volk wahrlich nicht an objektiven Gründen, Ersticklungsgefühle, ja oft die Haltung eines belagerten Volkes zu verspüren. In dieser Hinsicht gibt es eine Behauptung von Aymeric Chauprade, die uns beunruhigt: „Die Enklave, die sich nicht öffnen, sind zum Ersticken verurteilt.‟ (6)

 

Bevor wir diese Behauptung bestätigen oder widerlegen können, müssen wir sie anhand der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und demographischen Beziehungen zu den Nachbarländern untersuchen. 

 

(1) Einleuchtender ist der französische Begriff: „enclavement‟ (Anm. der Autorin).

(2) Ein durch Vorbedingungen eindeutig festgelegtes Ereignis (Anm. der Autorin). 

(3) CHAUPRADE Aymeric, Géopolitique, Constantes et changements dans l'histoire, 2e édition, Editions Ellipses, Paris, 2003, S. 111 (Übersetzung der Autorin).

(4) Eine Meile entspricht 1,852 m (Anm. der Autorin). 

(5) Vgl. COUTAU-BEGARIE, Traité de stratégie, Editions Economica et Institut de Stratégie Comparée, 2e édition, Paris, 1999, S. 778-794.

(6) CHAUPRADE Aymeric, Géopolitique, Constantes et changements dans l'histoire, 2e édition, Editions Ellipses, Paris, 2003, S. 111 (Übersetzung der Autorin). 

 

 Virginia Bischof Knutti©2011