· 

Lieber streiten als untergehen

Anlass für diesen Essay ist der Artikel von Donat Caduff, visueller Gestalter und Redaktor bei Radiotelevisiun Svizra Rumantscha, auf dem Blog von Raetia Publica vom 2. April 2020. Der Artikel deckt eine paradoxe Entwicklung auf, die derzeit nicht nur in den Bündner Gemeinden zu beobachten ist: Wir stehen einerseits vor einem mangelnden Interesse der Bürgerinnen und Bürger, sich für das Amt des Bürgermeisters aufzustellen, und andererseits vor der zunehmenden Erscheinung von Vereinen und Gemeinschaftsinteressen als alternative Methode, die Interessen der Bürger wahrzunehmen. Da die Situation manchmal Konfliktpotenzial birgt, stellt Caduff die Frage: „Wäre es manchmal nicht sogar besser, wenn die Menschen nicht immer der Politik dreinreden würden?“ 

 

Eine mutige Frage, welche die Gelegenheit bietet, eine umfassende Diskussion zu führen. Ich bin Herrn Caduff sehr dankbar, die Debatte lanciert zu haben. 

 

Mein Spezialgebiet ist die Geopolitik. Daher liegt es auf der Hand, dass ich das Verhalten von Bevölkerungsteilen geopolitisch zu erklären versuche. Doch Geopolitik ist keine Wissenschaft, die im luftleeren Raum operiert, sondern sie nährt sich von anderen wissenschaftlichen Fächern und bereichert somit die Reflexion. Nebst Geografie und Politikwissenschaft sind es die Soziologie und von Fall zu Fall die Philosophie. Deshalb werde ich die von Caduff beschriebene Situation unter drei Aspekten durchleuchten und am Ende, eine Antwort auf seine Frage formulieren.

 

1. Der geopolitische Aspekt: Die Suche nach der verlorenen Identität 

Der Autor hat festgestellt, dass in den letzten zwanzig Jahren in Graubünden eine Vielzahl von Dorfvereinen mit gesellschaftlichen Zielen, zur „Wahrung einer mikro-lokalen Identität“, gegründet worden sind. Dieser Zustand lässt sich geopolitisch erklären. Stark vereinfacht, hat der Kanton Graubünden eine Reihe von Problemen, die sich aus der ungünstigen Geografie ergeben: 

 

- Das Siedlungsgebiet in tiefer Lage ist flächenmässig äusserst beschränkt. 

- Die Topografie schränkt die Mobilität der Bevölkerung stark ein. 

- Die Bevölkerungszahl im Kanton steigt im Schweizer Verhältnis unterdurchschnittlich.

- Die Bündner Bevölkerung hat eine traditionelle Tendenz, ab- bzw. auszuwandern.

 

Daraus folgt, dass die Wirtschaftsbasis zu dünn und ungenügend diversifiziert ist, was wiederum Wirtschaftsunternehmen und Arbeitskräfte fern hält bzw. verscheucht. Es ist ein Teufelskreis. Ausgenommen ist das Churer Rheintal, auf welches die eben aufgeführten Hindernisse nur im geringeren Masse zutreffen. 

 

Die Globalisierung und die liberale Marktwirtschaft setzen grosse und bevölkerungsreiche Einflussgebiete voraus, um rentabel wirtschaften zu können. Das zwingt auch die Politik, in diesem Sinne zu handeln und Fusionen zu begünstigen. Ziel der kantonalen Regierung ist es, am Horizont 2050 im Idealfall die Anzahl Gemeinden auf 50 zu reduzieren, in fünf Regionen gegliedert. 

 

In Graubünden haben mittlerweile ganze Talschaften zu einer Gemeinde fusioniert. Das ist der Fall zum Beispiel von Lumnezia, Safiental, Surses, Bregaglia oder Val Müstair. Im Oberengadin wird aktuell über die Fusion zwischen den Seegemeinden diskutiert. Doch was für die Wirtschaft von Vorteil ist, ist nicht unbedingt auch gut für das gesellschaftliche Leben in der Gemeinde.  

 

Der Mensch im Allgemeinen ist in seinem Wohngebiet physisch und emotionell verankert. Diese Verankerung ist jedoch nicht immer konstant. Sie kann je nach Alter, Familienverhältnissen oder wirtschaftlichen Perspektiven mehr oder weniger stark variieren. Für Bergbevölkerungen, die im Allgemeinen weniger mobil sind, wirken die Berglandschaft, das Dorf, die Wohngemeinde stark identitätsstiftend. Wird der Raum künstlich vergrössert, wie es bei Fusionen der Fall ist, kann der Fusionsprozess mit einer gewissen Entfremdung einhergehen. Der erste Reflex besteht dann meist darin, die Wurzeln mit dem ursprünglichen Dorf zu festigen. Die Identifikation mit der grösseren Gemeinde erfolgt nur langsam, und wenn überhaupt, dann über die jüngere Generation. 

 

Daher ist es nicht verwunderlich, dass wenige Bürgerinnen und Bürger bereit sind, sich für ein Amt aufzustellen, das von ihnen verlangt, über die ursprüngliche Gemeinde hinaus zu handeln. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass die Interessen eines kleinen Dorfes oder der Elite eines solchen Dorfes sich nicht unbedingt mit denjenigen einer durch Fusion vergrösserten Gemeinde decken. Die Vernunft würde von solchen Bürgern verlangen, dass sie sich rasch anpassen. Das sagt sich so leicht, doch die Realität ist eine andere. Auf die Schweiz übertragen, würde es grosso modo bedeuten, dass die Schweizerinnen und Schweizer von heute auf morgen als EU-Bürger denken und handeln müssten. Das ist flächendeckend nicht realistisch, weder auf kommunaler noch auf internationaler Ebene. 

 

Dass viele Dorfbewohner ihre Bindung zur ursprünglichen Gemeinde nicht verlieren wollen, zeigt sich, wie Caduff es zu Recht beobachtet hat, in der Anzahl apolitischer Vereine mit überschaubarem Aktionsradius, die aus dem Boden spriessen. Mein Ansatz wäre hier, Kulturhäuser zu gründen, in denen man allerlei feste und mobile gesellschaftliche Aktivitäten ansiedeln könnte. Kulturhäuser haben zusätzlich den Vorteil, dass sie eine touristische Attraktion werden können - der Leuchtturm des Dorfes oder der Talschaft.   

 

Ein gravierendes Problem ist, wie gesagt, die fehlende Bevölkerungszahl. Die Gemeinden in Graubünden, die keine Touristenmagneten sind oder an der Peripherie liegen, dazu mit schlechtem Verkehrsanschluss, werden früher oder später verwahrlosen. Wenn keine dezidierte Politik von Bund und Kanton hier bald eingreift, werden ganze Talschaften Graubündens nur noch Ferienparadiese sein für Touristen und Zweitwohnungsbesitzer, die hier je nach geistigem Befinden ihre Ruhe oder wilde Parties geniessen wollen und kein Verständnis für die Bedürfnisse der Bergbevölkerung aufbringen können. 

 

Dazu kommt, dass Bund und Kanton bisher konsequent die grossen Zentren gestärkt und die Peripherie vernachlässigt haben, weil sie das Gesetz der Anzahl befürworten. Dieser Fehler haben alle Industrienationen begangen, ja selbst die Schwellen- und Entwicklungsländer. Da, wo grosse Ansammlungen von Menschen leben, kann man auch am besten Agglomerationseffekte nutzen und profitabel wirtschaften, so die Begründung. Das hat auch bis zu einem gewissen Punkt funktioniert. Doch spätestens nach der Corona-Krise wird die Politik einsehen müssen, dass die Förderung von Ballungszentren nicht nur zur Verwahrlosung ganzer peripherer Landesteile, sondern auch zur unkontrollierten Verbreitung von Krankheitserregern führt. 

 

Eine Verlagerung des wirtschaftlichen Schwergewichts zwischen Zentrum und Peripherie tut in Graubünden not. 

 

2. Der soziologische Aspekt: Die Aufteilung der Macht zwischen Staat und Bürgern

Der Autor bezieht sich auf das Phänomen der zunehmenden Professionalisierung der Gemeindeführung und stellt fest: „Wenig diskutiert wurde bisher die Frage, wie sich die Verwirtschaftlichung von Gemeinden auf das Verhältnis zwischen Bürger und Staat auswirkt“. 

Er führt das Beispiel der Gemeinde Bonaduz an, die sich im Clinch mit einer Interessengemeinschaft befindet.  

 

Ich werde hier mithilfe der Konflikttheorie argumentieren. Namhafte Soziologe wie Karl Marx oder Max Weber haben den Faktor Macht und seine Auswirkung auf die Gesellschaft gründlich untersucht. Ihre Forschungsergebnisse sind heute noch relevant. 

 

Die Schweizer Bürgerinnen und Bürger haben ein zwiespältiges Verhältnis zur Macht. Jede und jeder würde sich gern ein Teil davon abschneiden, doch wehe dem, der mehr davon hat, als allgemein geduldet wird. Die Schweizer Geschichte ist voll von Menschen, die im übertragenen Sinne „kürzer gemacht wurden“, weil sie zu viel Macht akkumuliert hatten. Merkwürdigerweise wird allerdings hierzulande die wirtschaftliche Macht - noch - nicht in Frage gestellt. 

 

Wie angedeutet, gegenüber dem Staat herrscht seit Menschengedenken ein gewisses Misstrauen, ein Zustand, der sich bis heute feststellen lässt. Weber zum Beispiel sah die Legitimierung des Staates im frühen Mittelalter in der Steuererhebung. Da die Bauern sich vielfach weigerten zu zahlen, berief sich der Staat auf Vögte und Ordnungskräfte, um notfalls gewaltsam die Steuern einzutreiben. Sobald die Steuern eingegangen waren, stellte der Staat weitere Beamte ein, um mehr Steuern einzutreiben - noch ein Teufelskreis, aus dem bis heute kein Entkommen bekannt ist. 

 

Heute handelt ein demokratischer Staat nach klar definierten Regeln und mit dem Konsens des Stimmvolks. So mächtig er auch sein mag, der Staat kann aber seine Macht nicht in allen Belangen des Lebens ausüben. Zum Beispiel kann er nicht wesentlich auf die Kultur und die Bräuche Einfluss nehmen, er kann die Wirtschaft nicht kontrollieren, er ist auch nicht in der Lage, sämtliche Gesetze stetig und konsequent anzuwenden und er hat in der Regel auch keinen Einfluss auf die Welt ausserhalb seiner Grenzen. 

 

Marx und Weber verstanden den Ursprung und die Wirkung der Macht verschiedentlich. Doch es gibt einen Punkt, über den sich die beiden einig waren: Macht ist ein Nullsummenspiel. Das bedeutet, dass die Menge an Macht in einem bestimmten Raum, auf einem bestimmten Territorium oder in einer bestimmten Menschengruppe konstant ist. Wenn zum Beispiel in einer Zweiergruppe eine Person dominiert, ist die andere die Dominierte. Auf den Staat übertragen verhält es sich ähnlich. Da, wo der Staat keinen oder wenig Einfluss hat, springen Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaftsunternehmen oder Lobbyisten in die Bresche und kämpfen um die restlichen Machtanteile. 

 

Dabei entstehen, wie im Falle von Gemeindefusionen, die Vereine zur Wahrung von spezifischen Interessen der Bürgerinnen und Bürger. Heisst das, dass die bisherige Fusionswelle in Graubünden kein positives Ergebnis hervorgebracht hat? Eine Fusion gilt in meinen Augen als gescheitert, wenn sie als Selbstzweck forciert wird und ihr keine Massnahmen folgen, um die Wirtschaftsbasis der neuen Gemeinde zu stärken und zu diversifizieren. Das ist in Graubünden von Fall zu Fall zu beurteilen und ich gehe hier nicht darauf ein. 

 

Noch ein Wort zu potenziellen Nachfolgern von Gemeindepräsidenten: Solche Menschen sind per se schon Elitemenschen. Sie haben meistens ja entweder Land, Vermögen, Bildung, einen gewissen Bekanntheitsgrad, eine angesehene Stellung oder kumulieren gar mehrere dieser Faktoren. Daher dürfte es selten dazu kommen, dass solche potenzielle Nachfolger angefragt werden.

 

3. Der philosophische Aspekt: Die Dualität Kynismus/Zynismus

Schliesslich hat der Autor am Anfang seines Beitrags die Problematik der Verrohung der Gesellschaft gestreift. Ein Grund, weshalb viele potenzielle Amtsträger sich bewusst drücken würden. 

 

Die soziologische Konflikttheorie erlaubt mir nun eine Brücke zur Philosophie zu schlagen. Dabei berufe ich mich auf Peter Sloterdijk und seiner Kritik der zynischen Vernunft, der Kynismus und Zynismus in einer dualistischen Perspektive stellt. 

 

Der Kynismus hat seinen Ursprung im antiken Griechenland. Kynismus kommt vom griechischen Wort kuon, das „Hund“ bedeutet. So sollen sich die Anhänger dieser philosophischen Denkschule  wortwörtlich wie Hunde benommen haben. Diogenes, der namhafteste Vertreter der Zyniker,  pflegte in einer Tonne zu leben, was an die Nische eines Hundes erinnerte. Zyniker sollen sich auch öffentlich auf der Strasse erleichtert haben. Das lässt sich nicht mehr beweisen, doch wenn das wahr ist, dann hat die Verrohung, die man heutzutage in den sozialen Medien beobachtet, eine lange Tradition. 

 

Der Begriff Zynismus hat im Verlaufe der Zeit eine ziemliche Ausdehnung erfahren. Er findet seinen Ursprung in dem oben erwähnten Kynismus. Heute qualifiziert man als zynisch zum Beispiel einen Konzernchef, der einen Teil seiner Mannschaft entlässt, um die Dividenden für seine Aktionären zu erhöhen.

 

Das Merkmal der Anhänger des Kynismus war, (gewaltlosen) Widerstand gegen die Obrigkeit zu leisten und sich öffentlich über sie zu mokieren. Darauf antwortete die Obrigkeit mit Zynismus. Seitdem sind Kynismus und Zynismus Konstanten unserer Geschichte, welche die Wahrnehmung von unten und von oben widerspiegeln.

 

Spinnt man den Gedanken weiter, so Sloterdijk, kann Zynismus nur dort entstehen, wo zwei Ansichten möglich sind - die offizielle und die nicht offizielle Wahrheit. In einer Kultur oder einem Staat, wo man regelmässig belogen wird, sei es, um ein unpopuläres oder fragwürdiges Projekt durchzubringen, sei es, um einen Zustand zu erreichen, der nur gewissen Kreisen zu Gute kommt, wird in gewisser Weise in der Öffentlichkeit angenommen, dass Herrschen und Lügen Synonym sind, was Sloterdijk wie folgt zusammenfasst: „Herrschaftswahrheit und Dienerwahrheit lauten verschieden.“ 

 

So gesehen handeln Amtsträger einerseits und Bürgerinnen und Bürger andererseits nach einem seit Jahrhunderten überlieferten Muster. Jede Seite spielt seine Rolle, so gut sie kann.  

 

Schlussfolgerung

Wir stehen also vor einer schizophrene Situation, in der die Anzahl potenzieller Amtsträger zunehmend schwindet, während gleichzeitig die Anzahl alternativer Interessengemeinschaften steigt. Dazu wird die Sprache zunehmend roher.

 

Und nun zurück zur Caduffs Frage: „Wäre es manchmal nicht sogar besser, wenn die Menschen nicht immer der Politik dreinreden würden?“

 

Die Professionalisierung und Verwirtschaftlichung der Amtsführung sorgt bereits für eine automatische Selektion der potenziellen Amtsträger. Die Gemeindepolitik wird somit zur Angelegenheit einer Elite. Das stösst in der Schweiz teilweise auf Widerstand, was manche Bürgerinnen und Bürger dazu führt, sich alternative Partizipationsmethoden ausdenken, um sich in die Gemeindepolitik einzubringen. Es unterbinden zu wollen, wäre undemokratisch und sogar mehrfach kontraproduktiv. 

 

Eventuell wäre der Wechsel vom System der einfachen Mehrheit zur einfachen qualifizierten oder absoluten qualifizierten Mehrheit zu prüfen. Im Sprachgesetz des Kantons Graubünden haben wir bereits einen Systemwechsel beim Sprachwechsel in den Gemeinden eingeführt. So kann zum Beispiel eine Romanisch sprachige Gemeinde erst zum Deutsch wechseln, wenn 60 % der Stimmbürger dafür abgestimmt haben. Man könnte diesen Ansatz an weiteren Abstimmungen oder Wahlen erweitern, doch eine Garantie für eine grössere Partizipation der Bürgerinnen und Bürger wird eine solche Massnahme kaum bewirken.

 

Fazit: Alle menschlichen Probleme sind nicht lösbar. Doch die Probleme, die Graubünden hat hinsichtlich der fehlenden Wirtschaftsperspektiven vieler Talschaften und peripherer Regionen sind lösbar. Man muss ihnen die Möglichkeit geben, ihre Wirtschaftsbasis zu entwickeln und zu diversifizieren, ihre Bevölkerung zu steigern und ihnen damit erlauben, ein Stück Identitätsstolz zurück zu gewinnen.  

 

In dem Sinne, Herr Caduff, lieber streiten - selbstverständlich am liebsten mit Stil - als untergehen. 

 

Virginia Bischof Knutti©07.04.2020

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0