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Das Eidechsenkind von Vincenzo Todisco, 2018

Nehmen wir an, wir könnten uns für einen Augenblick in die Schweiz der 1960er-Jahre versetzen, fünfzehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Wirtschaft in Mitteleuropa boomt, doch sie lässt Regionen oder gar ganze Länder der europäischen Peripherie aussen vor: Süditalien, Spanien, Portugal, Griechenland. In der Schweiz nannte man Migranten aus dem Süden «Gastarbeiter». Ein seltsamer Begriff allerdings, der suggeriert, dass derartige Immigranten zwar willkommen sind, doch nur so lange sie auch gebraucht sind. 

 

Die Geschichte von Vincenzo Todisco trifft a priori nicht gerade den Nerv der Zeit, doch die Ansicht täuscht. Viele italienische Gastarbeiter sind in der Schweiz geblieben, haben Familien gegründet, sich die schweizerischen Gepflogenheiten angeeignet, sich einbürgern lassen und die zweite oder spätestens die dritte Generation studiert an einer Universität. Das Klischee vom mittellosen, ungehobelten und laut vor sich brüllender Italiener, trifft hierzulande nicht mehr zu. Doch ganz verschwunden ist das Klischee wohl nicht. Es ist im Verlaufe der Zeit vom Südeuropäer auf andere Menschengruppen gesprungen und hat Immigranten aus Südosteuropa oder Flüchtlinge aus kriegsgebeuteten Ländern erfasst. 

 

In diesem Kontext der 1960-1980er-Jahre lernen wir ein italienisches Ehepaar kennen, das irgendwo in der deutschen Schweiz seinen Lebensunterhalt mit dem Saisonier-Statut verdient. Da dieses Statut den Familiennachzug verbietet, versteckt das Ehepaar sein einziges Kind in der Wohnung. Aufwachsen wird es ohne Schule und mit äusserst wenig sozialen Kontakten. Das Kind fristet das Leben eines Nobody. Tatsächlich erfährt man im ganzen Buch seinen Vornamen nie. Niemand ruft nach ihm, als sei es Luft, und doch schafft es immer wieder, Freunde zu gewinnen. Doch sein Verhalten erinnert tatsächlich an eine Eidechse – starr und doch immer bereit zu flüchten. 

 

Das Buch ist in drei Teilen gegliedert. Jedes Teil steht für eine räumliche und zeitliche Abgrenzung. Je kleiner das Kind, desto kleiner auch der verfügbare Raum und desto schneller verläuft die Geschichte. Im ersten Teil ist der Ausgangsrayon des Eidechsenkindes stark eingeschränkt. Es besteht lediglich aus der Wohnung. Das Lesen bringt es sich selber mühsam bei. Im zweiten Teil erobert das ausgewachsene Eidechsenkind allmählich das ganze vierstöckige Haus mitsamt Keller und Estrich. Das Tempo der Geschichte nimmt langsam ab. Im dritten Teil ist die Rede vom Eidechsenjunge, der sich nun ausserhalb des Hauses wagt. Mit dem Rest der grossen weiten Welt macht er sich bekannt durch die Weltliteratur. Am Ende spitzt sich die Lage zu.

 

Das Buch basiert anfangs auf scharfen Kontrasten, die sich im Verlaufe der Lektüre allmählich auflösen, aber ohne ganz zu verschwinden. So treffen wir auf die Dualität zwischen dem Herkunftsdorf Ripa in Italien und dem Wohnort im Gastland Schweiz, dessen Namen man auch nie erfährt. In Ripa gibt es zwar keine Arbeit, «nur ein elendes Kaff», wie die Mutter des Eidechsenkindes sagt, doch das hält sie nicht davon ab, davon zu träumen, genug Geld in der Schweiz zu verdienen, um in Ripa ein Haus zu bauen und dort zu verweilen. Das Buch deckt auch Reibungsflächen zwischen Gastarbeitern und Schweizern auf. Doch es stellt sich bald heraus, dass nicht alle Gastarbeiter banditi oder mafiosi sind. Andererseits erweisen sich auch nicht alle Schweizer als reich und arrogant. 

 

Der Autor ist nach eigenen Angaben Dozent, hat also auch mit Kinder- oder Jugendpsychologie zu tun. So zeigt er auf, wie das Eidechsenkind seine Einsamkeit und schiere Verwahrlosung in seinen Albträumen verarbeitet. Die Wölfe, die ihn nachts beim Schlafen beobachten, sind nichts weiter als eine Metapher für die Polizisten, die es auf Kinder von Saisoniers abgesehen haben. Die kleine Statue der Madonnina steht für Nonna Assunta, die Grossmutter, die als einzige psychologisch geschickt mit dem Kind umzugehen wusste. 

 

Die Sprache des Autors ist insofern bemerkenswert, als sie gespickt ist mit italienischen Begriffen, die jedermann versteht, weil diese Sprache eigentlich seit über 500 Jahren Teil der Schweizer Kultur ist. Sie wird dem Leser auch nähergebracht und in Erinnerung gerufen, durch die Erwähnung von zahlreichen italienischen Schlagern, die bis heute noch am Schweizer Radio zu hören sind. 

 

Das Buch ist für den Schweizer Buchpreis 2018 nominiert worden und hätte es auch zweifellos verdient, ihn auch zu bekommen. Gefallen hat mir die Story vor allem deshalb, weil sie durch und durch glaubwürdig ist. Tatsächlich kann eine derart ergreifende Geschichte nur ein Autor geschrieben haben, der selber einen – wie man heute so schön sagt – Migrationshintergrund hat. Um die Geschichte jedoch in allen ihren Einzelheiten zu begreifen und zu verinnerlichen, bedarf es auch einem Migrationshintergrund. Das ist nun mein Privileg. 

 

«Das Eidechsenkind» ist ein Drama, das sich heute an vielen Orten unter unseren Nasen abspielen könnte, in der Schweiz, in Deutschland und überall auf der Welt, wo Immigranten in gewissen gesellschaftlichen Kreisen unerwünscht sind. 

 

 

Vincenzo Todisco, «Das Eidechsenkind», Rotpunktverlag, Edition Blau, 4. Auflage 2019, Zürich. 

 

 

Virginia Bischof Knutti@27.03.2020

 

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