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Teil 2: Essay zum Wirtschaftsliberalismus vs. Staatsstrategie

Zentraler Punkt dieses Beitrags ist die Strategie. Um sich die Bedeutung des Begriffes zu vergegenwärtigen,  machen wir zuerst einen Exkurs ins Altgriechenland und heben den militärischen Stellenwert der Strategie hervor. Dann untersuchen wir die betriebswirtschaftliche Strategie, wie sie in einer marktliberalen Wirtschaft angewendet wird und stellen sie der militärischen Strategie gegenüber. Schliesslich zeigen wir, aus welchen Überlegungen und Konsequenzen eine neue Staatsstrategie entstehen könnte. 

 

Militärische Strategie

Wenn das Ziel des Wirtschaftsliberalismus sich auf wenige Worte reduzieren lässt - nämlich die Gewinnmaximierung -, dann sind Definition und Ziel der Strategie weniger einleuchtend, obwohl sie in aller Munde sind. 

 

Der Begriff „Strategie“ erschien im 5. Jh. v.Chr. in Athen. Die vorherrschenden Stämme pflegten damals zehn Strategen zu wählen. Sie bildeten ein Kollegium, das im Turnus von einem der Gewählten geführt wurde. Der Auftrag der Strategen bestand darin, die Armee und Teile davon zu führen. So gab es einen Strategen für die Feldarmee, einen für die Verteidigung der Attika (die Landschaft um Athen), zwei für die Küstenverteidigung und einen für die Bewaffnung der Flotte; den anderen fünf wurden Missionen nach Bedarf zugewiesen. Doch so sehr die Rolle des Strategen gut gesichert war, so unscharf erschien schon damals die Idee, was man eigentlich unter „Strategie“ verstand. 

 

Die Begriffe strategema und strategika sind eng verwandt. Sie erschienen etwa gleichzeitig Mitte des 4. Jh. v.Chr. und waren während über 300 Jahre gleichbedeutend - ohne Konnotation von Täuschung. Ab dem 1. Jh. v.Chr. wurde strategema mit der Idee von List und Täuschung verbunden, während strategika auf das Amt des Generals verwies. Das Verb strategeo erhielt seinerseits eine präzisere Bedeutung und meinte „manövrieren.“ 

 

„Strategie“ wurde also ursprünglich in der Kriegskunst angewendet. Es ging darum, die Mittel - Kriegsgeräte, Armeeteilen, Waffen - so einzusetzen, dass der Feind bestenfalls zur Aufgabe des Kampfes gezwungen, schlimmstenfalls vernichtend geschlagen werden konnte. Erstmals vor Beginn des Ersten Weltkriegs, unter dem Einfluss namhafter U.S.-amerikanischer Marineoffiziere und Generäle, wurde eine Marinestrategie in Friedenszeiten entwickelt. Ab Ende des Zweiten Weltkriegs wurde „Strategie“ im Zuge des Wiederaufbaus Europas zunehmend der Betriebsökonomie in der Marktwirtschaft angepasst. Seitdem bedienen sich Konzernleiter, Kaderleute und Unternehmensberater einer rundum assimilierten martialischen Rhetorik, die im Grunde darauf abzielt, die Mittel - die Produktionsfaktoren statt der Waffen - so einzusetzen, dass sie den grösstmöglichen Gewinn erzielen unter gleichzeitigem partiellen oder gänzlichen Ausschalten der Konkurrenz - allerdings ohne letale Waffen. Mit diesem Vergleich hören die wenigen Gemeinsamkeiten zwischen Militär- und Betriebswirtschaftsstrategie schon auf. 

 

Eine Armee zu errichten und zu unterhalten ist eine komplexe Angelegenheit. Sie muss kontinuierlich mit neuen Waffensystemen, Material, Personal und Know-how alimentiert werden, die wiederum immer komplexer und teurer werden. Jeder noch so kleine Auftrag wird von Spezialisten ausgeführt und die Ausbildung an den Geräten wird immer komplizierter und länger. Deshalb müssen militärstrategische Konzepte langfristig ausgelegt und in Friedenszeiten aufrechterhalten werden. 

 

Eine Besonderheit des militärstrategischen Denkens ist die sogenannte „Eventualplanung“. Jede Eventualplanung wird gleichzeitig mit dem laufenden Grund- oder Teilauftrag entwickelt. Man kann sie auch „Plan B“ nennen. Sie kommt zur Anwendung, sobald es erkennbar wird, dass Plan A zum Scheitern verurteilt ist. Ohne Plan B würde keine Armee der Welt langfristig funktionieren. Der Nachteil? Die Eventualplanung hat ihren Preis. Denn ein Plan B impliziert meistens Doppelspurigkeiten, Redundanzen, Absicherungen, Vorräte und Reserven und andere Vorkehrungen, die - falls der Plan A aufgeht -, nicht einmal zum Einsatz kommen, was als Verschwendung angesehen werden kann. 

 

Ob der grosse finanzielle Aufwand sich dennoch rechtfertigen lässt, hängt mit der Wahrnehmung der Bedrohung oder des Risikos ab. Die Angst vor einem sowjetischen Überfall haben viele westliche Staaten - allen voran die neutrale Schweiz - dazu veranlasst, diesen Mehraufwand mit Überzeugung und Eifer zu betreiben. Bis 1989 die Wende kam. Mit dem - vorläufigen - Verschwinden des erklärten Feindes im Osten hat global ein Umdenken eingesetzt, wonach die Streitkräften nach betriebswirtschaftlichen Methoden zu planen und zu führen seien. Somit wurden alle Doppelspurigkeiten, Redundanzen, Absicherungen, sowie die meisten Vorräte und Reserven weitgehend abgeschafft.

 

Ökonomische und Betriebswirtschaftliche Strategie

Beispiele, die zeigen, wie wider die Natur es ist, öffentlichen und privatwirtschaftlichen Unternehmen betriebswirtschaftliche Methoden auferlegen zu wollen, sind in der akuten Phase der Coronapandemie zuhauf zum Vorschein getreten, zum Beispiel:  

In Thurgau ist dringend ein Armeespital reaktiviert worden, das dem Abriss geweiht worden war. 

Der Güterimport ist der Landesversorgung vorgezogen worden.

Die Pflichtlagerhaltung ist bezüglich chemischer Grundstoffe und medizinischen Schutzmaterials auf ein bedrohendes Minimum reduziert worden. 

 

Resultat: Ende April 2020, also sechs Wochen nach der Ausrufung des Notstands durch den Bundesrat, waren einfache Produkte wie Hygienemasken noch immer Mangelware, nicht zu sprechen von Grundstoffen, die die Schweizer Industrie daran hindern, die Produktion von Handsterilisationsmitteln oder Medikamenten selbst aufzunehmen, selbst wenn sie es wollte. Schlimmer noch: Nach gewissen Einschätzungen soll ein Drittel der Schweizer KMU in Folge der Coronakrise in den Konkurs gehen. Das bedeutet, dass diese Unternehmen so gut wie keine Reserven haben und zwei oder drei Monate Lockdown nicht verkraften können. Wie konnte es soweit kommen? Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: 

1. Die Gewinnmaximierung: Die Wertschöpfung ist, stark vereinfacht, das Resultat der Transformation von vorhandenen Gütern in Güter mit höherem Geldwert. Man spricht auch von Veredelung. Demzufolge besteht für die Schweizer Wirtschaft, die traditionell durch die Schaffung von hohen mehrwertigen Gütern komparative Vorteile besitzt, kaum einen Anreiz, Hygienemasken zu produzieren, die verhältnismässig wenig Mehrwert mit sich bringen. Die Gewinnmaximierung setzt also die Auslagerung der Produktion „billiger“ Ware voraus. Die vor wenigen Wochen erfolgte Aufnahme der inländischen Produktion von Schutzmasken bestätigt diese Haltung. Die „swiss made“-Masken sind teilweise aus Stoff, waschbar, mehrfach einsetzbar und daher teurer. 

2. Die internationale Arbeitsteilung: Sie begann mit der Kolonialisierung, wobei die Kolonien Rohstoffe lieferten, die in den Kolonialländer verarbeitet wurden. Diese Arbeitsteilung besteht heute noch mit den Industriestaaten einerseits und den Entwicklungsstaaten andererseits. Die Abhängigkeitsverhältnisse haben sich allerdings unerwartet dank der Globalisierung zugunsten der Entwicklungsländer verschoben, seit diese neben günstigen Rohstoffen auch billige Arbeitskräfte für die Massenproduktion anbieten. Dadurch sind sie zu Konkurrenten von Betrieben in den Industriestaaten geworden und haben diese in Bedrängnis gebracht. Dabei hat China die grösste Entwicklung gemacht, indem es sich innert einem halben Jahrhundert von einem Entwicklungsland zur Werkstatt der Welt bis hin zu einem Industriestaat mit weltweiten geopolitischen Absichten gemausert hat.   

 

Die Schweiz pflegt traditionell freundschaftliche Beziehungen mit China, da sie einer der ersten westlichen Staaten war, der 1949 die Volksrepublik China anerkannte. Die Schweiz hat 2017 ein Handelsabkommen mit China unterzeichnet. In den letzten Jahren hat sich der bilaterale Warenhandel zwischen der Schweiz und China rasanter und dynamischer als der grosse Rest des Schweizer Aussenhandels entwickelt. China ist der wichtigste Handelspartner der Schweiz in Asien und drittwichtigster hinter der EU und den USA (bei Exporten und Importen).  Fokussiert man auf zwei Schlüsselbereiche der Schweizer Industrie, nämlich pharmazeutische Erzeugnisse und die Herstellung chemischer Grundprodukte, stellt man eine beunruhigende Tendenz fest:  

 

Laut SECO hat zwischen 2017 und 2018 der Export von pharmazeutischen Erzeugnissen nach China um 4,6 % abgenommen und der Import von chemischen Grundstoffen aus China um 25,3 % zugenommen (1). Und das ist nur ein Teil der Problematik. Mit dem strategischen Plan „Made in China 2025“ beabsichtigt China, zu einem zunehmend anspruchsvollen Hersteller von Industrieprodukten zu werden und Erzeugnisse aus fortschrittlichen Industrienationen wie der Schweiz in zehn Schlüssel-Industriebereichen durch eigene zu ersetzen. 

 

Mögliche Staatsstrategie

In Krisenzeiten ist der Staat gefragt. Es wird von ihm erwartet, dass er die Wirtschaft ohne Wenn und Aber unterstützt. Staatsinterventionismus, Staatsinvestitionen, Subventionen und Hilfspakete sind keine Tabus mehr und die Gesellschaft gewöhnt sich allmählich daran. Durch Notrecht haben sich viele Staaten eine Legitimität gegeben, um die Coronakrise in den Griff zu bekommen und haben Massnahmen von einer nie da gewesenen Tragweite erlassen. Drei Milliarden Menschen haben weltweit den Lockdown, Quarantäne und Selbstisolation über sich ergehen lassen. Derzeit spricht vieles dafür, dass Staaten versucht sein könnten, ihre neu gewonnene Macht nach der Coronakrise in einer Form oder einer anderen behalten zu wollen.   

 

Dabei wird eine zentrale Frage von weltweiter Tragweite sein, ob die marktliberale Wirtschaftsform und die Regierungen, die dieses Modell bedingungslos unterstützen, noch immer angebracht sind. Man wird sich fragen, ob man an einem System, das in den letzten zwei Jahrzehnten immer grössere Teile der Wirtschaft und der Gesellschaft von einer Krise in die andere geführt hat und selbst die wohlhabenden Staaten nach einem zweimonatigen Lockdown mittellos zurücklässt, vorbehaltlos wieder anknüpfen soll.  

 

In Bezug auf die Schweizer Wirtschaft kommt noch eine Verschärfung der Konkurrenz durch China hinzu. Traditionell hat Bundesbern seine liebe Mühe mit Begriffen wie „Strategie“. Das klingt vielleicht allzu martialisch und in Friedenszeiten fehl am Platz. Stattdessen hört man vermehrt das Attribut „systemrelevant“. Darunter subsummiert man lebenswichtige Güter wie Trinkwasser, Energielieferanten, Nahrungsmittel, aber auch Dienstleistungsanbieter wie Kitas und Coiffeurs… Von mir aus, sei es drum. Demzufolge müsste der Bund eine Liste der für die Schweiz systemrelevanten Güter und Dienstleistungen aufstellen und deren Produktion bzw. Versorgung per Gesetz regeln, was eben im kompletten Widerspruch zum Wirtschaftsliberalismus steht. 

 

In Frankreich überlegt man sich in gewissen Kreisen, strategische oder systemrelevante Industriebereichen (wieder) zu verstaatlichen. Doch man muss auch hinzufügen, dass jede Form von Staatsinterventionismus (Verstaatlichungen, Subventionen, Zölle, Preiskontrollen, etc.) von den EU-Verträgen strikt abgelehnt werden. Doch das war vor Corona… Gut möglich, dass sich selbst die marktliberale EU dazu genötigt sieht, eine Kehrtwendung vorzunehmen. 

 

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen:

1. Mit Strategie im Sinne  der langfristigen Existenzsicherung eines Unternehmens hat die Gewinnmaximierung wenig zu tun, denn dieser zuliebe verzichten die Unternehmen freiwillig auf jegliche Absicherung für schwerere Zeiten - keine Reserven, keine Redundanzen, keine Vorräte. Was sich für grosse Teile der Wirtschaft als fataler Fehler erweisen könnte.

2. Militärstrategie und Betriebswirtschaftsstrategie schliessen sich gegenseitig aus, solange die aktuelle internationale Arbeitsteilung besteht und die Gewinnmaximierung das Credo der Wirtschaft bleibt. 

3. Der Ruf nach mehr staatlicher Strategie oder mindestens nach mehr staatlichen Eingriffen ist eine normale Reaktion der verunsicherten Schweizer Bevölkerung, die auf einmal realisiert, wie wenig nachhaltig sich der Kapitalismus erweist, wie abhängig die Schweiz von Asien geworden ist und wie teuer Corona der Bevölkerung zu stehen kommen könnte. 

 

Virginia Bischof Knutti©20.05.2020

 

(1) Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Länderinformation Volksrepublik China, Oktober 2019, https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Aussenwirtschaftspolitik_Wirtschaftliche_Zusammenarbeit/Wirtschaftsbeziehungen/laenderinformationen/asien---ozeanien.html.

 

 

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