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Teil 3: Essay zur globalen Gesundheitspolitik vs. Sozialdarwinismus

Spätestens seit dem Ausbruch der Coronapandemie kursieren in den Medien zwei wesentliche Erkenntnisse: Erstens hat die Änderung vieler Parameter in Wirtschaft, Urbanisierung, Verkehr und Ernährung zunehmend Auswirkungen auf die Gesundheit. Zweitens ist aufgrund der Globalisierung die Verbreitung von übertragbaren Krankheiten kein Phänomen mit lokaler oder regionaler Tragweite mehr, das ausschliesslich die Entwicklungsländer trifft. Die Coronapandemie hat die Grenzen, die zwischen Industrieländern und Entwicklungsländern bisher als klar galten, verwischt. 

 

Diese neue Entwicklung deckt geopolitische Konsequenzen auf, auf die wir kurz eingehen werden. Wir skizzieren zuerst eine virtuelle Geografie der Gesundheit, indem wir die Haupttodesursachen der Weltbevölkerung ergründen und wie sich Reichtum bzw. Armut auf die Gesundheit der Menschen auswirken. Dann geht es darum, die Ursachen und Hauptvektoren von übertragbaren Krankheiten zu erfassen. Schliesslich stellen wir grundlegende Anforderungen an den Corona-Impfstoff zum Wohl der ganzen Menschheit. 

 

Woran sterben die Menschen? 

Laut Weltgesundheitsorganisation WHO ist von den 56,9 Millionen registrierten Todesfällen weltweit im Jahr 2016 mehr als die Hälfte (54 %) auf folgende zehn Ursachen zurückzuführen:

 

Rang        Krankheiten                                                  Mio.

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1. und 2. Ischämische Krankheiten und Schlaganfälle   15,2 

3.            Chronische Bronchopneumopathien                3,0

4.            Infektionen der unteren Atemwege                  3,0

5.            Alzheimer und andere Demenzerkrankungen  2,1

6.            Luftröhrenkrebs und Lungenkrebs                  1,7

7.            Zuckerkrankheit                                              1,6

8.            Verkehrsunfälle                                               1,4

9.            Durchfallerkrankungen                                    1,4

10.          Tuberkulose                                                    1,3

               Total 10 häufigste Erkrankungen                   30,7

               Total sämtliche Todesfälle                             56,9

 

Quelle: WHO (1)

 

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass chronische Krankheiten wie Herzkrankheiten, Schlaganfall, Krebs, chronische Atemwegserkrankungen und Diabetes mit 63 % der Todesfälle weltweit bei weitem die häufigste Todesursache darstellen.

 

Die Gesundheit der Bevölkerung hängt in erster Linie mit dem Reichtum des Landes zusammen. Aber der Reichtum des Landes ist keine absolute Garantie für eine gute Gesundheit, weil es von der Lebensweise abhängt, d.h. von Nahrung, Bildung, Art der Aktivität und Zugang zur Pflege. In den meisten Industriestaaten und parallel zum Rückgang der Sterblichkeit durch Infektionskrankheiten haben sich jedoch so genannte „Degenerationskrankheiten“ in Folge neuer Essgewohnheiten, Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie Umweltverschmutzung entwickelt. Dazu zählt man unter anderem: ungesundes Essen, Stress, Rauchen, Alkoholismus, Drogenkonsum, Verschmutzung oder krebserregende Berufskrankheiten, die auf den Kontakt mit toxischen Stoffen zurückzuführen sind (Asbest, Chrom, Nickel, Chemikalien, radioaktive Stoffe).

 

Vergleicht man das allgemeine Krankheitsbild der Industrie- und Entwicklungsstaaten, so stellt die WHO folgende Konstanten fest: 

 

- Mehr als die Hälfte aller Todesfälle in einkommensschwachen Ländern wurden 2016 durch drei Faktoren verursacht: übertragbare Krankheiten, schwangerschafts- und geburtsbedingten Krankheiten und Ernährungsmängel. Im Gegensatz dazu waren weniger als 7 % der Todesfälle in Ländern mit hohem Einkommen auf solche Ursachen zurückzuführen. 

Infektionen der unteren Atemwege gehörten zu den häufigsten Todesursachen in allen Einkommensgruppen. 

Nichtübertragbare Krankheiten verursachten weltweit 71 % der Todesfälle; in den Ländern mit niedrigem Einkommen liegt diese Rate bei 37 %, bei den Ländern mit hohem Einkommen liegt sie bei 88 %. 

 

Diese Zahlen offenbaren ein scheinbar klares Muster, das sich auf zwei wesentliche Merkmale reduzieren lässt: Industriestaaten sind grösstenteils von zivilisationsbedingten, nicht übertragbare Krankheiten betroffen, während die Entwicklungsländer eher unter übertragbaren Krankheiten zu leiden haben. Die Ausbreitung von Viren der Coronasorte hat allerdings dieses Muster durcheinandergebracht  und die Durchlässigkeit der Grenzen, gekoppelt mit dem intensiven Menschen- und Warenstrom, die Verletzlichkeit der Industriestaaten hervorgehoben.  

 

Hauptvektoren und Übertragungswege von aktuellen Epidemien bzw. Pandemien

Heute verfolgt die WHO um die zwanzig Epidemien. Die meisten von ihnen (ca. 90 %) haben einige ernstzunehmende Gemeinsamkeiten: Sie sind viral, tierischen Ursprungs und auf den Menschen übertragbar, hoch ansteckend und zum ersten Mal in Entwicklungsländern entdeckt worden. Viele von ihnen haben sehr hohe Sterblichkeitsraten.

 

Als Ursachen für den Ausbruch von Epidemien in den Entwicklungsländern können folgende identifiziert werden: 

 

- Waldrodung: Ökosystemumwälzungen wie Waldrodung oder Wüstenbildung, die durch menschliche Aktivitäten verursacht werden, sind ein wesentlicher Faktor für die Ausbreitung von übertragbaren Krankheiten. So entstand das Ebola-Virus in einem tropischen Waldgebiet in Zentralafrika als Folge der industriellen Entwaldung. Wir haben da mit einem tödlichen Virus zu tun, das bereits existierte, das durch eine flächenmässige Einschränkung plötzlich mit Menschen in Berührung kam.

- Veränderung in der Landnutzung: Im Amazonasbecken sollen 19 % des Regenwaldes infolge Rodung verschwunden sein. 62 % der abgeholzten Flächen sind für die Sojaproduktion bestimmt. Sojabohnen sind im Allgemeinen als Proteinquelle und Fleischersatz bekannt. Tatsächlich sind sie jedoch ein zentraler Bestandteil der intensiven Schweinehaltung. Sollte sich das westliche Konsumverhalten auf andere Erdteile im gleichen Masse ausbreiten, so wird die Zahl der gezüchteten Tiere weltweit 120 Milliarden Einheiten erreichen (1960 waren es noch 10 Milliarden) und zwei Drittel des Ackerlands auf der Erde ausschliesslich für den Futtermittelanbau verwendet werden. (2)

- Klimaerwärmung: Zu den invasiven Vektoren, welche zurzeit im Fokus europäischer Überwachungsaktivitäten stehen, zählen vor allem exotische Mückenarten der Gattung Aedes. Diese können zahlreiche Infektionskrankheiten übertragen, welche bislang vorwiegend in den subtropischen und tropischen Zonen verbreitet waren. Was die Schweiz betrifft, sind insbesondere das Chikungunya-, Dengue-, Zika- und West-Nil-Fieber von Bedeutung. Die in der Schweiz verzeichneten Fälle gehen laut Bundesamt für Gesundheit (BAG) alle auf Reiserückkehrer zurück, die sich ausserhalb der Schweiz angesteckt haben. Die asiatische Tigermücke wurde – vorwiegend durch den globalen Handel mit Altreifen und Glücksbambus aus Südostasien in die USA, nach Lateinamerika, Afrika, Europa und auf mehrere Inseln im pazifischen und indischen Ozean verschleppt. Seit 2003 ist diese Mückenart auch in der Schweiz, im Tessin, heimisch geworden.

- Urbanisierung: Die Faktoren, welche die Rückkehr oder Entstehung von Krankheiten fördern, hängen oft mit unserer Lebensweise zusammen. Einer der wichtigsten Faktoren ist die Urbanisierung, die zu Promiskuität führt und die Ausbreitung von Epidemien fördert. Bis 2050 werden 70 % der Weltbevölkerung in Städten leben. Ungeplante schnelle Urbanisierung ist vor allem in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen ein alltägliches Phänomen.

- Globaler Verkehr und Migrationsströme: Der Verkehr spielt auch eine Rolle bei der Ausbreitung von Krankheiten. Die Pest verbreitete sich im Mittelalter auf den Seehandelswegen durch Ratten, die in den Ladeflächen von Schiffen Unterschlupft fanden. Heute tragen der Welthandel, aber auch Touristenströme zur Ausbreitung von übertragbaren Krankheiten bei. So ist es nicht verwunderlich, dass die grösste Anzahl Corona-Infizierten in Staaten mit einem hohen Anteil am Welthandel und/oder touristischen Attraktionen zu verzeichnen ist (USA, Mitteleuropa, Russland…). Auch Migranten können Gesundheitsrisiken ausgesetzt sein und sie aus ihren Heimatländern importieren, sich in Flüchtlingscamps oder in den Industriestaaten infizieren.

 

Doch auch die Industriestaaten werden von Zoonosen (Krankheiten, die von Mensch auf Tier oder umgekehrt übertragen werden können) nicht verschont. Man kann zwei Ursachen hervorheben: 

 

- Infizierte Lebensmittel: Die Industrialisierung der Nahrungskette kann eine Krankheitsquelle sein, da sie Krankheitserreger und Menschen in Verbindung bringt. Dies ist der Fall des Rinderwahnsinns (oder BSE), der bei Mutation und Übertagung auf den Menschen zu Creutzfeld-Jacob-Krankheit wird. Es ist eine seltene Krankheit, die beim Menschen eine Degeneration des Gehirns verursacht.

- Veränderung in der Landnutzung: Die Entwicklung der Lyme-Borreliose, die durch Zecken auf Menschen übertragen wird, hat gezeigt, dass im Nordosten der USA die Entwaldung oder Fragmentierung der Wälder zu einer höheren Konzentration von Tieren, die Zecken tragen, geführt hat.

 

Kampf um den Impfstoff gegen COVID-19

Um erfolgreich gegen Corona vorgehen zu können, müsste ein Impfstoff weltweit und für alle Bevölkerungen eingesetzt werden. Fachleute sind sich weitgehend einig, dass es noch mindestens 12 bis 18 Monate dauern wird, bis der erste Impfstoff gegen Covid-19 die Marktzulassung erhalten wird. 

 

Einen Impfstoff zu produzieren ist ein langwieriger Prozess, der immense Summen verschlingt. Dennoch herrscht weitgehend Konsens darüber, dass ein Impfstoff früher oder später gefunden wird. Ist ein Pharmaunternehmen erfolgreich und bringt einen solchen auf den Markt, so wird es zwangsläufig versucht sein, einen hohen Preis dafür zu verlangen, um die Kosten zu decken und eine substanzielle Gewinnmarge herauszuholen. Hier mischen eine Handvoll Unternehmen mit, die die finanzstarke Kundschaft unter sich aufteilen könnten.

 

Weniger Optimismus hingegen herrscht über die gerechte Abgabe eines solchen Impfstoffes, denn damit sind zwangsläufig finanzielle Fragen geknüpft. Sollte der Impfstoff allen Menschen verfügbar gemacht werden, müssen die Staaten einspringen und die Produktions- und Vertriebskosten zu einem grossen Teil oder gar selbst übernehmen. Dabei können Staaten in einen geopolitischen Konflikt geraten, solange keine globale Governance in Sachen Gesundheit das Szepter übernimmt. Heute werden Stimmen lauter, wonach  die Forschungsergebnisse im Bereich Gesundheit der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden sollten. Das wäre vernünftig, wenn die öffentliche Hand die Kosten übernehmen soll. Doch bis es soweit ist, bleiben viele Fragen unbeantwortet wie zum Beispiel: Wer hütet und verwaltet die Forschungsergebnisse? Wie werden die Produktionskosten unter den Staaten verteilt? Gibt es eine Rangordnung nach Ländern in der Belieferung des Impfstoffes? Werden den Bedürfnissen der Entwicklungsländer genügend Rechnung getragen? 

 

Ich fürchte, dass am Ende solche Fragen mehr Zeit beanspruchen als die blosse Forschung und sich die ganze Menschheit in Geduld üben muss, bis einige Key Players sich über finanzielle Gegebenheiten geeinigt haben. All diese Unsicherheiten führen mich unweigerlich dazu, das Thema Sozialdarwinismus auf das Tapet zu bringen. 

 

Welcher Staat als Ester den Impfstoff einsetzen darf, und wer danach und, wer überhaupt, am Schluss kommt, ist, so wie die Dinge heute stehen, eine Frage der finanziellen Mittel auf individueller und staatlicher Basis und des geopolitischen Gewichts eines Staates. Die Länder und die Bevölkerungsteile, die den Impfstoff nicht vermögen, würden unter Umständen leer ausgehen. Wobei wir es dann mit einem Fall von Sozialdarwinismus zu tun hätten, weil ganze Teile der Weltbevölkerung zynischerweise in Folge natürlicher Selektion beim „Kampf ums Dasein“ aufgegeben würden. 

 

Fazit

Die Coronapandemie stellt nicht nur eine gesundheitliche Herausforderung für die ganze Menschheit dar, sondern bringt die zentrale Frage der Sozialgerechtigkeit in Form des Zugangs aller Menschen zu einem Impfstoff aufs Tapet. Für die Pharmaindustrie ist der finanzieller Anreiz zur Produktion eines solchen Impfstoffs zu niedrig, sodass es immer wahrscheinlicher wird, dass Staaten einen Grossteil der Entstehungskosten übernehmen werden müssen. Doch ohne eine weltweite Entscheidungsinstanz mit entsprechendem Durchsetzungsvermögen und angesichts der kontroversen Glaubwürdigkeit der Weltgesundheitsorganisation wird sich die Frage der Verteilung des Impfstoffs unter den Staaten ebenso problematisch gestalten. Die Lösung dieser Frage dürfte viel mehr Zeit in Anspruch nehmen als der Zulassungsprozess des Impfstoffs. 

 

Virginia Bischof Knutti©28.05.2020

 

(1) https://www.who.int/fr/news-room/fact-sheets/detail/the-top-10-causes-of-death. 

 

(2) Stefano Liberti, Fleisch für die Welt, in: Le Monde diplomatique, Ausgabe Schweiz, März 2019, S. 12-13. 

 

 

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