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Die Agonie einer Sprache

Anlass für diesen Artikel ist die bevorstehende Volksabstimmung in der Gemeinde Surses vom 24. Juli 2020 sowie die an der Urne bereits am 26. Juni 2020 gutgeheissene Fusion zwischen den vier Gemeinden am Schamserberg. In beiden Fällen widerspiegelt der Urnengang die düstere Realität, mit welcher die romanische Sprache konfrontiert ist: Sie liegt im Sterben. Am schnellsten trifft es die kleinsten Idiome Surmiran und Sutsilvan. 

In diesem Artikel geht es mir darum, die äusserst wichtige geopolitische Funktion der Sprache hervorzuheben und die Konsequenzen daraus zu erläutern. Denn eine Sprache ist nicht ein Konsumgut, das leichtfertig gewechselt oder entsorgt werden kann.

 

Die geopolitische Funktion der Sprache

Geopolitisch gesehen gibt es wenige Merkmale, welche die Identität einer Bevölkerungsgruppe prägen. Es sind die Religion, die Sprache und einige kulturelle Besonderheiten wie Sitten, Rituale, Bräuche oder auch eine gemeinsame Geschichte. In Europa war grosso modo zwischen dem Mittelalter und der Französischen Revolution die Religion als identitätsstiftendes Merkmal massgebend. Im 19. Jh. wiederum haben sich die meisten Staaten Europas aufgrund sprachlicher Gemeinsamkeiten zusammengeschlossen, Nationen gebildet und ihre jeweilige Sprache zum wesentlichsten Unterscheidungsmerkmal von anderen Völkern gemacht. Dass die Schweiz mehrsprachig ist, ist für europäische Verhältnisse eine geopolitische Anomalie. Tatsächlich wäre sie heute, ohne den damaligen nachhaltigen Einfluss von Napoleon, ein deutschsprachiger Staat. 

 

Sprache sowie Religion werden nicht selten politisch instrumentalisiert - ein Tatbestand, dessen sich die Bevölkerung nicht immer bewusst ist. Die Sprache ist also ein Politikum; Sprache und Macht gehen Hand in Hand zusammen. So wird eine Sprache bewusst eingesetzt, um die verschiedensten Ziele zu erreichen: Sie kann beispielsweise dazu dienen, Völker zusammenzuschweissen, zu trennen, zu unterdrücken oder zu erobern. So wurde die romanische Sprache 1938, quasi am Vortag des Zweiten Weltkrieges, in einer nationalen Volksabstimmung zur vierten Landessprache der Schweiz erhoben. Es ging damals darum, Mussolini den Wind aus dem Segel zu nehmen, als dieser unmissverständliche Eroberungsabsichten auf die italienischsprachigen Territorien ausserhalb Italiens angekündigt hatte. Gemeint waren unter anderem Tessin und Teile Graubündens. Der Coup des Bundesrates gelang und Mussolini musste sich fortan anderen Geschäften zuwenden. In diesem Fall diente die romanische Sprache dazu, das Schweizer Volk vor dem Kriegsausbruch zusammenzuschweissen und die Unversehrtheit des Territoriums zu gewährleisten.

 

Ein halbes Jahrhundert später entstand Rumantsch grischun aus dem politischen Willen, dem Schwund der romanischen Sprache im Allgemeinen und dem Verzetteln der zahlreichen romanischen Idiome im Einzelnen entgegenzuwirken. Von der Bündner Bevölkerung wurde das Rumantsch grischun nicht gerade mit Begeisterung aufgenommen, um es diplomatisch auszudrücken. Für diese Situation kann man verschiedene Gründe geltend machen, doch aus geopolitischer Sicht überwiegt die fehlende territoriale Verankerung des Rumantsch grischun. Das erklärt, weshalb diese Sprache in der Öffentlichkeit so gut wie nie und von niemandem gesprochen wird. Hingegen kann Rumantsch grischun punkten, wo es „nur“ geschrieben wird, will heissen, als offizielle zweite Sprache des Kantons Graubünden und als vierte Landessprache des Bundes. 

 

Die Macht einer Sprache hängt direkt von der Macht des Stammlandes und von der Anzahl der Sprechenden ab. So hängt beispielsweise die Macht der englischen Sprache von der geopolitischen Macht der USA ab. Dasselbe gilt in Europa in Bezug auf die deutsche Sprache bzw. Deutschland - ein Zustand, der auch auf die Schweiz übertragen werden kann. Obwohl alle vier Landessprachen gleichgestellt sind, ist der höhere Stellenwert der deutschen Sprache gegenüber den drei anderen nicht zu leugnen. Auch hat die romanische Sprache den Sprung zur vierten offiziellen Amtssprache der Schweiz nie geschafft. Das hat auch einen direkten Effekt auf die Sprachpolitik und auf die Sprachsituation in Graubünden.

 

Eine Sprache von einem Dialekt zu unterscheiden, ist ebenfalls ein Politikum. Folglich, wenn ein Dialekt zur Sprache erhoben wird oder wenn eine Sprache zum Dialekt verkommt oder herabgestuft wird, wird dies in aller Regel nicht dem Zufall überlassen. So wurden in Graubünden fünf Idiome erkoren: Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Puter und Vallader. Eine elegante Weise, ihre Herabstufung als Dialekt zu vermeiden unter gleichzeitiger Unterstellung unter dem Fachbegriff „romanische Sprache“. 

 

Es ist auch kein Zufall, wenn eine Sprache aufgegeben wird. Dahinter steckt der Ausdruck eines politischen Willens. Dabei braucht dieser Wille nicht einmal explizit zu sein. 

 

Akteure im politischen Prozess sind in erster Linie der Staat, aber auch die Bevölkerung in- und ausserhalb des Staates, internationale Organisationen und Lobbies. 

 

Warum stirbt die romanische Sprache? 

Erfahrungsgemäss kann eine Sprache aus drei Gründen sterben: Sie wird ausgerottet, verdrängt oder aufgegeben. Nach Beurteilung der Lage haben wir in Graubünden mit dem dritten Fall zu tun. Die romanische Sprache wird aufgegeben - ein Prozess, der bereits im 9. Jh. eingesetzt hat und sich seitdem unaufhörlich fortsetzt. 

 

Weshalb die romanische Sprache aufgegeben wird, kann anhand folgender Hauptgründe erklärt werden: 

 

die zunehmende Ansiedlung von Deutschsprachigen gekoppelt mit der parallelen Ab- und Auswanderung der einheimischen Bevölkerung, 

der Sprachwechsel von Chur infolge des Grossbrandes von 1464 gekoppelt mit dem Verlust des Sprachzentrums der Drei Bünden,

die Konzentration der wirtschaftsstarken Bereiche im Churer Rheintal gekoppelt mit der allgemeinen wirtschaftlichen Orientierung des Kantons an den Grossraum Zürich-Bodensee,

der Prestigeverlust der romanischen Sprache gekoppelt mit der zunehmenden Einflussnahme der deutschen Politik bzw. dem Einflussverlust Italiens im ganzen Europa.

 

Dazu kommt, dass seit der letzten vollständigen Volkszählung im Jahr 2000 keine aktuellen Zahlen der Bundes- oder kantonalen Behörden mehr vorliegen, um die aktuelle Lage der romanischen Idiome in Graubünden genau zu erfassen.    

 

Zur Lage der kleinsten romanischen Idiome

In Ermangelung aktuellerer Daten sehe ich mich gezwungen, auf Zahlen von 2000 zurückzugreifen, um weiter argumentieren zu können: 

 

Als kleinstes Idiom mit 6’904 Sprechern zählt Surmiran, gefolgt von Sutsilvan mit 7’205 Sprechern. Danach kommt Vallader mit 8’145 Sprechern, Puter mit 18’296 Sprechern und schliesslich Sursilvan mit 32’645 Sprechern. 

 

Es ist davon auszugehen, dass diese Zahlen heute um einiges tiefer liegen als im Jahre 2000.

 

Dass Surses zu den ersten Gemeinden gehört, die sich ab 2007 für Rumantsch grischun als Unterrichtssprache in den Schulen entschieden haben, lässt sich durch die kleinste Zahl an Sprechern des lokalen Idioms, des Surmiran, erklären: Rein mathematisch betrachtet ist Surmiran das erste Idiom, das vom Tod bedroht wird. Die Sursetter haben möglicherweise gehofft, so wie die anderen gleichgesinnten Gemeinden, dass Rumantsch grischun im Kanton einen besseren Stand haben würde. Nach der Erfahrung einer Generation sind nun einige Akteure in Surses der Meinung, dass Surmiran ab 2021 als Unterrichtssprache zurückgeführt werden soll. Möglicherweise schätzen diese Akteure, dass Rumantsch grischun das Schwinden der romanischen Sprache nicht aufhalten kann. Im Surses wird die Bevölkerung am 24. Juli 2020 aufgerufen, sich für die Beibehaltung vom Rumantsch grischun oder für die Rückkehr zum Surmiran zu entscheiden. 

 

Im sutsilvanischen Sprachgebiet gelten nur noch die Gemeinden am Schamserberg Donat, Lohn, Mathon und Casti-Wergenstein als romanischsprachige Gemeinden. Diese Gemeinden haben im Juni 2020 in einer Volksabstimmung beschlossen, unter dem Namen Muntogna da Schons zu fusionieren. Den romanischen Namen behalten sie, doch die entstandene Gemeinde wird zweisprachig. Das ist ein herber Verlust für die romanische Sprache, doch die Situation hat sich schon lange abgezeichnet. Die aktuellen Behörden hoffen, zumindest einen Kanzlist zu finden, um Sutsilvan als Amtssprache weiter benutzen zu können. (1)

 

Schlussfolgerung

Im Surses wie am Schamserberg sterben die lokalen Idiome Surmiran und Sutsilvan als erste aus. Daraus ergeben sich zwei Konsequenzen: 

 

Wenn kein Konsens besteht, Surmiran bzw. Sutsilvan als Umgangssprache beizubehalten, werden sie schätzungsweise innert einer Generation germanisiert. 

Wenn Surses und Muntogna da Schons Rumantsch grischun als Unterrichts- bzw. Amtssprache ablehnen und die erforderlichen Mittel nicht einsetzen, um ihr jeweiliges Idiom zu behalten, werden sie schätzungsweise innert einer Generation germanisiert. 

 

Es ist ebenso denkbar, dass die Digitalisierung den Prozess noch beschleunigen kann. 

 

Geopolitisch gesehen würde ein solcher Verlust bedeuten, dass nur noch die äussersten Gebiete Graubündens als mehrheitlich romanisch übrig bleiben würden (im Westen Tujetsch und im Südosten Teile vom Unterengadin), was einer zusätzlichen Peripherisierung dieser Gebiete gleichkäme. Folglich würde der Druck auf diese Gebiete zunehmen und die Germanisierung zusätzlich beschleunigen. Politisch wäre der Imageverlust für die Schweiz bedeutend, da das Land sich völkerrechtlich verpflichtet hat, die romanische Sprache zu schützen und zu fördern. (2) Kulturell wäre der Verlust für die Identität Graubündens und der Schweiz auch nicht zu unterschätzen, wenn auch nicht zu quantifizieren. Wirtschaftlich würde der Verzicht auf die romanische Sprache etliche Prozesse vereinfachen und beschleunigen. Aber sind diese Einsparungen es wirklich wert? 

 

Dies berücksichtigt würde eine Mittellösung möglicherweise darin bestehen, Rumantsch grischun als Schriftsprache für Amt- und Unterrichtszwecke einzuführen bzw. beizubehalten und das jeweilige Idiom als mündliche Sprache so lange wie möglich weiter zu pflegen. 

 

Kurzfristig würde dies bedeuten: für schriftliche Zwecke Rumantsch grischun, für die mündliche Unterredung - Surmiran bzw. Sutsilvan. 

 

Langfristig, wenn Graubünden seine Dreisprachigkeit behalten will, kommt es nicht darum herum, eine Reihe von Massnahmen einzuleiten, um die Abwanderung der Jugend aufzuhalten und den Kanton wirtschaftlich attraktiver zu machen - zum Beispiel durch die Gründung einer eigenen Universität, an welcher die romanische Sprache erlernt wird und eine Aufwertung gegenüber dem Deutschen erleben kann. 

 

Virginia Bischof Knutti©02.07.2020

 

(1) Ein Rückschritt, der zum Fortschritt werden könnte, Südostschweiz, 18. März 2020.

(2) Die Schweiz hat die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen im Jahr 1997 ratifiziert. 

 

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