· 

Avenir Suisse ist das Ende Graubündens

Anlass dieses Kommentars ist die Studie von Avenir Suisse, „Zentrumstäler  - die Haupttäler als Entwicklungsachsen des Berggebiets“, die im Juli 2020 publiziert und bei den Bündner Medien einen gewissen Anklang gefunden hat. Positiv und überzeugend bewerte ich die geografische Analyse. Die Konsequenzen, die aber daraus gezogen werden, kann ich bei bestem Willen nicht billigen. Doch die Studie zeigt auch zwischen den Zeilen auf, wer in diesem Land das Sagen hat und welche Pläne für einen Gebirgskanton wie Graubünden im Unterland geschmiedet werden. Wie immer geht es um Macht, genau um die Verteilung der letzten natürlichen Ressourcen, die dieses Land noch besitzt: Freiraum und Natur. 

 

Wir haben es nicht in der Hand 

Es gibt viele Gründe, diese Studie zu widerlegen, und ich werde einige davon aufzählen und erläutern, doch zur Abwechslung möchte ich mit dem Ende anfangen: In der Schlussfolgerung heisst es: „Die Gebirgskantone sollten für die Lösung ihrer Probleme nicht auf „Geld von Bern“ warten, sondern sie haben es selbst in der Hand, Strukturreformen zu konzipieren und umzusetzen.“ 

 

Wirklich? Ich wusste gar nicht, dass unsere Kantons- oder Gemeindebehörden den Wasserzins selbst bestimmen, eine Autobahngebühr am Eingang der A13 verlangen, Zölle an der Kantonsgrenze aufstellen oder Eintrittsgelder am Eingang des Nationalparks verlangen dürfen. Dürfen sie nicht? Aha! Das heisst also, dass man in Graubünden von der Bewirtschaftung der eigenen Ressourcen nicht leben darf. Denn diese Ressourcen sind Eigentum des Bundes. Und doch sollten wir in Graubünden es selbst in der Hand haben, uns aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit zum Unterland zu befreien?

 

Die Studie ist stark wirtschaftslastig…

Der Autor argumentiert mit möglichst grossen Zahlen, um Skaleneffekte zu erwirken und Rentabilität und Margen zu steigern. So empfiehlt er, aus dem Alpenrheintal ein Zentrumstal von 90 km Länge, von Domat/Ems bis zum Bodensee, zu schaffen. Diese idyllische Gartenstadt, die sich um die Mäander des Rheins rankt, würde 334’000 Einw. sowie 187’000 Arbeitsplätze haben. Sie wäre somit die zweitgrösste Stadt der Schweiz, knapp hinter Zürich, das 420’000 Einw. zählt. 

 

Ich hätte gehofft, dass die Coronakrise uns allen eine Lehre erteilt und vorgezeigt hätte, wie entfesselter Kapitalismus die Menschheit an den Rand des Kollapses führen kann. Bei Avenir Suisse, keine Spur von Rückbesinnung. Allein aus diesem Grund ist die Studie verwerflich. Doch es kommt noch dicker: Mit keinem Wort werden die kulturellen und sprachlichen Aspekte, welche die Besonderheit des Kantons Graubünden ausmachen, erwähnt. Dabei würde ein Graubünden ohne die romanischen und italienischen Sprachregionen geschichtlich, gesellschaftlich und kulturell verarmen. Ich möchte nicht in einem Graubünden wohnen, das sich ausschliesslich nach Zürich oder Berlin richtet. 

 

…und verstärkt die bereits bestehende Rivalität Zentrum-Peripherie 

Die Studie empfiehlt dem Alpenrheintal, den Schulterschluss mit dem Bodensee zu realisieren. Doch der Raum ist politisch fragmentiert, da er sich auf drei Staatsgebieten erstreckt. 

 

Aus meiner Sicht liesse sich ein solches Gebilde nur innerhalb von EU-regionalen Strukturen realisieren. Ist der EU-Beitritt auch ein verstecktes Ziel von Avenir Suisse? Ungeachtet der EU-Problematik würde diese Gartenstadt das Churer Rheintal noch stärker an den Grossraum Zürich-Bodensee binden und das ungleiche Machtverhältnis zwischen Zentrum (Zürich-Bodensee) und Peripherie (Graubünden) zusätzlich verschärfen. Dieser Antagonismus ist für den politischen Zusammenhalt des Kantons nicht förderlich. Ja sogar gefährlich, denn er könnte schlimmstenfalls den Kanton zerreissen. Zur Ausbalancierung der Machtverhältnisse wäre es für Graubünden vernünftiger, die Beziehungen zum Ballungsraum Mailand zu intensivieren. Das würde für die Stärkung des Engadins und der Südtäler sprechen. Das bedingt allerdings einer verbesserten Mobilität in den Süden und die Einbindung Graubündens in das europäische Eisenbahnnetz. Und das wird wohl etwas kosten. Wenn Bern oder die Kantone des Unterlands nicht zahlen wollen, dann müssen wir vielleicht die Chinesen auf den Plan rufen…

 

Zentrumstäler - Danke, die haben wir schon

Die Studie empfiehlt die Schaffung von Zentrumstälern. Darauf ist die Kantonsregierung schon gekommen. Das Konzept des Zentrumstals ist im kantonalen Richtplan (KRIP, 2019) unter dem Begriff „Handlungsraum“ eingeflossen. Der Kanton hat acht Handlungsräume definiert, die sich im Grossen und Ganzen mit den wichtigsten Tälern decken (Surselva, Nordbünden, Davos-Klosters, Engiadina Bassa - Val Müstair, Oberengadin - Valposchiavo - Bregaglia, Albula, Viamala und Moesano. Der Kanton erhofft sich davon Synergien in Form von einer überkommunalen Koordination der Siedlungsentwicklung, einer optimalen Abstimmung von Siedlungs- und Verkehrssystemen und einer Stärkung der Standortattraktivität. 

 

Meines Erachtens ist für die Standortattraktivität die neue Ansiedlung von Unternehmen und der Bau von neuem, bezahlbarem Wohnraum Voraussetzung. Die liberale Marktwirtschaft hat bisher in Graubünden jedoch keinen Anreiz gesehen, ausserhalb des Churer Rheintals neuen Wohnraum zu schaffen. Also bleiben die Unternehmen in den entlegenen Tälern weg. Die Frage ist, was kommt zuerst - die Unternehmen oder die Wohnungen? Das Ei oder das Huhn? Ohne staatlichen Impuls wird ausserhalb vom Churer Rheintal kaum ein Wohnhaus entstehen. Das gefällt der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse bestimmt nicht, aber das ist nunmal die Realität. In Graubünden ist staatliches und strategisches Denken gefragt, nicht nur wirtschaftliches.

 

Keine Grossprojekte mehr für Graubünden

Apropos Eisenbahn: Die Studie hält fest, dass die favorisierte Strategie zur besseren Anbindung des Berggebietes an die wachstumsstarken urbanen Räume über Jahrzehnte darin bestand, den Bau neuer Verkehrsinfrastruktur zu realisieren. Beispiele hierfür seien der Furkabasistunnel im Goms (Kosten: 320 Mio. Fr.), die Anbindung des Engadins durch den Vereina-Tunnel und der Ausbau der Nationalstrassen durch das Prättigau (Kosten: 1,5 Mrd. Fr.), die Verbindung des Oberwallis mit der Hauptstadtregion Bern durch den Lötschberg-Basistunnel (Kosten: 4,3 Mrd. Fr.), der Lückenschluss im Autobahnnetz durch das Walliser Rhonetal (Kosten: 2,5 Mrd. Fr.) und die Transjurane im Jurabogen (Kosten: 6,3 Mrd. Fr.). „Die durch diese Projekte aufwändig erschlossenen Bergregionen kämpfen aber noch immer mit Schrumpfungsprozessen“, so die Studie. 

 

Schlimm genug, sich als Gebirgskanton von Avenir Suisse vorwerfen zu lassen, dass die Unsummen, die im Berggebiet investieren wurden, eigentlich umsonst waren. Die Denkfabrik übersieht aber grosszügig, dass diese Verkehrsinfrastruktur in erster Linie Touristen und Unterländler befördert. Für die Bedürfnisse der Bergbevölkerung allein wären kaum solche Summen gesprochen worden. Ich gebe auch zu bedenken, dass sich bis in die Mitte des 19. Jh. das ganze wirtschaftliche und gesellschaftliche Leben der Bergbevölkerung zwischen 1000 und 1800 m Höhe abspielte. Für ihre Mobilitätsbedürfnisse hätte sich die Bergbevölkerung - wäre sie gefragt worden - eher höhere Verbindungsstrassen als Autobahnen auf dem Talboden gewünscht.  

 

„Potenzialarm“ - Ein Schimpfwort

Laut Studie gelten die peripheren und dünn besiedelten Regionen als „potenzialarm“. Sie leiden unter Überalterung, Abwanderung und Erosion wirtschaftlicher Strukturen. „Ein stures „Ansubventionieren“ gegen solche Schrumpfungsprozesse ist teuer und wenig effektiv, ihre Tabuisierung erschwert die Suche nach geeigneten Lösungen“, so die Studie. Der Autor empfiehlt solchen Gebieten, ihre Entwicklung in der Schaffung von Rehakliniken oder Internaten zu suchen. Ansonsten sollen sie den geordneten Rückzug antreten. 

 

Diese Sichtweise ist aus meiner Sicht nicht nur beleidigend, sie zeugt von allem auch von einer beispiellosen Arroganz. So sprechen nur Leute, die sich Macht anmassen, aus welchem Grund auch immer. Der Begriff „arm“ ist irreführend und wird zurecht im Kanton tabuisiert. Ich habe jeden Fleck dieses Kantons mehrmals besucht und Armut ist in Graubünden mit Sicherheit nirgends ein kollektives Problem. Es gibt aber wohl zahlreiche strukturschwache Dörfer, deshalb wandern vor allem die Jugend ab. Ich könnte aber auch eine Reihe von Dörfern nennen, die aus einer blitzblank polierten Strasse bestehen, rechts und links gesäumt von lauter renovierten Häusern, davor jede Menge Autos mit grossem Hubraum und ausserkantonalen Nummernschildern. In solchen Dörfern sieht man kaum einen Menschen auf der Strasse und wenn doch, dann Touristen. Diese Dörfer wirken armselig auf mich und diese Armut ist genauso schlimm wie Vermögensarmut. 

 

Zweitwohnungsbesitzer als Teil der Lösung? Mitnichten

Zweitwohnungsbesitzer sollen eine Quelle allumfassenden fachkundigen Wissens und Partizipationswille für die Entwicklung eines Dorfes sein. 

 

Das mag im Einzelnen der Fall sein, doch in Wahrheit sind die meisten Zweitwohnungsbesitzer Unterländer, die in den Berggebieten Graubündens Ruhe und Abgeschiedenheit suchen. Das ist ihr gutes Recht, doch man darf nicht aus der Diskussion ausblenden, dass diese Leute kaum ein wahrhaftes Interesse an der wirtschaftlichen Entwicklung ihres zweiten Wohnungssitzes haben können, da Entwicklung notgedrungen mit Lärmimmissionen und Freiheitseinschränkung einhergeht. Vielmehr haben Zweitwohnungsbesitzer dazu beigetragen, die Immobilienpreise künstlich zu erhöhen und ganze Dörfer zu entleeren. Eine Dorfinfrastruktur in Form von Postamt, Laden, Café, Restaurant, Markt und sonstige gesellschaftliche Trefforte brauchen Zweitwohnungsbesitzer nicht, da sie alles von zu Hause mitbringen und sonst kein Bedürfnis nach gesellschaftlicher Nähe hegen.  

 

Schlussfolgerung

Abschliessen möchte ich diesen Kommentar mit einer geopolitischen Erkenntnis. In Europa haben die Alpen, ob in Frankreich, in der Schweiz oder in Österreich, im Verlaufe der Geschichte dieselbe Entwicklung gemacht. Man kann diese Entwicklung ab der Neuzeit in drei Epochen gliedern: 

1. Mit dem Aufstieg der Handelsmessen beiderseits des Alpenkamms zwischen dem 16. und 18. Jh. dienten die Alpen als Brücke zur Sicherung wichtiger Handelsrouten. In der Schweiz übten die Gebirgskantone die Kontrolle über die Übergänge und die Passrouten aus - zum Leidwesen der Stadtkantone. 

2. Ab 1850, als sich in Europa Nationen zu bilden begannen, wurden die Staatsgrenzen auf die Alpenkämme und auf Wasserscheiden verlegt. In der Schweiz rückten die Berggebiete aus dem Sichtfeld und die Gebirgskantone verloren ihre Machtstellung. 

3. Heute mutieren die Alpen im Allgemeinen und die Berggebiete in der Schweiz zu Erholungsräumen für gestresste Unterländler und Unterländlerinnen, als CO2-Senke zur Kompensation eines nicht mehr vertretbaren aber wirtschaftlich unerlässlichen Wirtschaftswachstums und werden somit zunehmend ökologisiert, um die Klimaziele zu erreichen und auf dem internationalen Parkett gut dazustehen. 

 

Die Studie von Avenir Suisse dient dazu, die Berggebiete auf den de facto bevorstehenden territorialen Verlust vorzubereiten: Wer am Wirtschaftsseil nicht ziehen mag, wird abgehängt. Retten kann sich das Churer Rheintal, wenn es den Schulterschluss mit dem Bodensee sucht und vielleicht noch einige wenige Handlungsräume. Der Rest würde dann unter Rückzonung fallen und früher oder später unter Laub und Nadeln versinken. Wenn wir Bündnerinnen und Bündner uns nicht wehren: Wir könnten zum Beispiel eine Initiative lancieren und die Einführung von Krokodilen in den Zürichsee fordern - aus Liebe zur Natur. 

 

Virginia Bischof Knutti©15.07.2020

 

 

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Robert Cajacob (Donnerstag, 16 Juli 2020 11:05)

    Danke , es tut gut zu wissen, dass es Menschen wie Virginia Bischof gibt, die für die Bergregionen einsteht, Stellung nehmen zu den unwürdigen, difamierenden Aussagen von Avenir Suisse. Es ist beschäment was sich so eine Organisation sich erlaubt und dies noch mit dem Namen "Avenir Suisse". Wenn die Zukunft der Schweiz so geplant, ja bestimmt wird, dann gute Nacht auch für die Zentrumsgebiete. Ohne die Berggebiete sähe wohl auch die Zukunft der Zentrumsgebiete nicht mehr gleich aus. Leider ist es so, dass bald mehr "Zweitwohnungsbesitzer aus den Zentrumsgebieten" die Bergdörfer bewohnen und "befehlen". Dies nicht immer zu gunsten der Bergbevölkerung. Also geben wir doch die Berggebiete "Dörfer" auf - mal sehen wo sich dann die Zentrumsbevölkerung noch Erholung vom Altagsstress holt.

    PS: Nun leuchtet mir ein warum die Zentrumsbevölkerung unbedingt den lieben Wolf in den Bergregionen schützen will. Krokodile im Zürisee - gute Idee. Es sollen alle CH-Bewohner etwas Natur vor der Haustüre haben.

    Was ist schlimmer für unser Land - Wolf und Krokodil oder Avenir Suisse?