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Die Region Moesa zwischen Stühlen und Bänken

Anlass dieser Analyse ist das Management in der akuten Phase der Coronakrise zwischen der Kantonsregierung und der Region Moesa. In dieser Zeit hat die geografische Nähe zum Kanton Tessin eine intensivere kantonsinterne Kommunikation bzw. eine gesundheitspolitische Kooperation über die kantonale Grenze hinaus bewirkt. In der Post-Phase der Coronakrise hat die Region Moesa eine Volksinitiative lanciert, die darauf abzielt, die Tessiner gesundheitspolitischen Massnahmen automatisch zu übernehmen. Solche Initiativen zeugen von der besonderen geopolitischen Lage der Region Moesa. Zerrissen zwischen ihrem kulturellen Hang zum italienischsprachigen Nachbarkanton und ihrer fünf Jahrhundertalte Beziehung zu Graubünden zögert heute die Region Moesa, ihren eigenen Weg zu finden. Wenn sie nicht aufwacht, droht ihr unter Umständen zwischen Stühle und Bänke zu fallen. 

 

Das Ziel dieser Analyse ist, die Sensibilität für die geopolitische Lage der Region Moesa zu wecken und auf mögliche Konsequenzen aufmerksam zu machen. Dabei stütze ich mich auf das geopolitisch aussagekräftigtes, verfügbares Dokument des Kantons, den Richtplan. 

 

Die Entdeckung der Handlungsräume in der Raumplanung

Am 3. März 2013 hat die Schweizer Stimmbevölkerung eine Teilrevision des Raumplanungsgesetzes angenommen mit dem Ziel, die Steuerung der Siedlungsentwicklung zu stärken. Daraus haben die Kantone ein Raumkonzept und einen Richtplan (KRIP) entwickelt. Der kantonale Richtplan stellt das Planungsinstrument auf Kantonsebene dar. Er koordiniert raumwirksame Aktivitäten wie z. B. die Entwicklung von Siedlung, Verkehr und Infrastruktur und sorgt dabei auch für den Schutz von Natur und Landschaft. Zudem regelt er die Planung von grösseren Bauvorhaben wie Freizeit- oder Einkaufszentren. Dies geschieht mit verbindlichen Vorgaben über eine längere Zeit. Der KRIP ist neuerdings in zehnjährigen Abständen zu revidieren.

 

Auf der Basis des kantonalen Richtplans erstellen die Regionen ihren eigenen regionalen Richtplan (RRIP). Bis alle Anpassungen auf allen Bundesstufen jeweils genehmigt sind, bleibt allerdings in Graubünden der kantonale Richtplan 2003 in Kraft. 

 

Ein wichtiges Element für die Umsetzung der Ziele und Strategien des Raumkonzepts Graubünden stellen die Handlungsräume dar. Je nach Aufgabenstellung und Thema können die Herausforderungen der räumlichen Entwicklung nicht innerhalb von Gemeinde-, Regions- oder Kantonsgrenzen gelöst werden, sondern sie bedingen eine Zusammenarbeit über diese Grenzen hinweg.

 

Im kantonalen Raumkonzept sind acht Handlungsräume festgelegt. Geografisch gesehen umfasst der Handlungsraum Moesano die Mesolcina und die Calanca und erstreckt sich bis an die Magadinoebene. Jeder Handlungsraum hat seine eigenen Besonderheiten und Stärken, die es strategisch zu nutzen und weiterzuentwickeln gilt. Ein kurzer Blick auf die Karte zeigt auf, dass die  Mesolcina mit den Vor- und Nachteilen des alpenquerenden Verkehrs konfrontiert ist und dass in der Val Calanca die Topographie und periphere Lage entwicklungshemmend wirken. Zu den Stärken gehören die gute Erreichbarkeit aus der Agglomeration Bellinzona sowie die landschaftlichen Qualitäten in der Val Calanca. 

 

Die Koordination der Planungen in den Handlungsräumen erfolgt über die kantonale und die regionale Richtplanung. Die neuste Richtplananpassung der Region Moesa datiert von März 2019 und steht in Zusammenhang mit dem Errichten des Regionalen Naturparks „Parco Val Calanca“. Ältere Anpassungen datieren von 2015 bzw. 2012 (nichtmotorisierter Verkehr), 2000 (Landschaftsschutzgebiete) und 1994 (Skigebiete). Bis Dato fehlen Anordnungen zu brandaktuellen Raumplanungsthemen wie Tourismus, Siedlung, Verkehr, übrige Raumnutzungen und weiteren Infrastrukturen. So gesehen hat man von aussen den Eindruck, dass die Moesa lediglich aus einem einzigen Naturpark besteht.  

 

Der Handlungsraum Moesano gemäss Bündner kantonalem Richtplan

Der kantonale Richtplan (KRIP) hat bezüglich der Region Moesa sieben Stossrichtungen aufgegleist: 

 

1. Verbessern der Verkehrsanbindung an die Zentren der Città Ticino (insbesondere öffentlicher Verkehr). Nutzen der verbesserten Erreichbarkeit infolge NEAT. 

2. Fortsetzen und Ausweiten der bewährten Kooperation mit dem Kanton Tessin.

3. Koordinieren der Siedlungs- und Verkehrsplanung in der unteren Mesolcina und aktive Teilnahme am Agglomerationsprogramm Bellinzona

4. Verbessern der internen wie grenzüberschreitenden Kooperation im Bereich Freizeit und Naherholung zur Stärkung eines attraktiven Wohnumfelds. 

5. Inwertsetzen der Natur- und Kulturraumpotenziale (Naturpärke, Agrotourismus u.a.). Erhalten und Fördern ökologischer und landschaftlicher Qualitäten. 

6. Aufwerten und Stärken des Tourismusorts San Bernardino. Weiterführen der Kooperation mit Splügen. Nutzen der Nachfragepotenziale aufgrund der guten Südanbindung (Metropolitanraum Milano, Tessin). 

7. Nutzen der Potenziale der Ricucitura (1) Roveredo und des Arbeitsplatzgebiets San Vittore zur Aufwertung des Arbeits- und Wohnstandorts. Nutzen der Wohnraum-nachfrage aus der Agglomeration Bellinzona für die Entwicklung als Wohnstandort. (2)

 

Von diesen sieben Stossrichtungen weisen fünf (im Text fett) direkt auf eine Zusammenarbeit mit dem Kanton Tessin bzw. mit der Agglomeration von Bellinzona auf (1, 2, 3, 6 und 7). In den zwei übrigen Stossrichtungen (4 und 5) ist die Zusammenarbeit mit dem Tessin schon aus geografischen Gründen implizit (Freizeit und Naherholung, Naturpärke). 

 

Gegen Handlungsräume ist prinzipiell nichts einzuwenden, solange jede beteiligte Seite seinen Verantwortungsbereich auch wahrnimmt. Das setzt voraus, dass die jeweiligen Kompetenzen klar definiert, die Schnittstellen identifiziert und die Prozesse abgestimmt sind, aber vor allem auch, dass die Kooperierenden ähnliche Interessen verfolgen. Bestehen solche gemeinsamen Interessen zwischen dem Kanton Tessin und der Region Moesa wirklich?

 

Il piano direttore del Canton Ticino (3)

Zur Zeit befinden sich noch zwei kantonale Richtpläne in Prüfung beim Bundesamt für Raumentwicklung ARE; es handelt sich um die Kantone Tessin und Glarus. In Ermangelung eines Besseren müssen wir daher auf den alten Richtplan des Kantons Tessin zurückgreifen. Die darin enthaltenen Zielsetzungen für die kantonale Raumplanung (obiettivi pianificatori cantonali) (4) datieren von 2007. Es sind 29 an der Zahl. (5)

 

Wenn ich die geografischen Namen zusammenfasse, die darin erwähnt werden, stelle ich fest, dass die allgemeine Richtung der Tessiner Behörden unmissverständlich nach Süden zeigt: Es ist die Rede unter anderem von Como, Milano, vom aeroporto intercontinentale Milano-Malpensa und vom sistema ferroviario regionale (6) Ticino-Lombardia (TILO). Wenn andere geografische Richtungen erwähnt werden, dann hört die Tessiner Welt im Norden beim San Gottardo auf, wenn ich mich so ausdrücken darf. Der östliche Nachbar „Grigioni“ wird nicht einmal namentlich erwähnt. 

 

Die Stossrichtung Nr. 3 des Bündner kantonalen Richtplans verweist jedoch explizit auf das Agglomerationsprogramm Bellinzona. Auch dieses Dokument ist nicht aktuell (2007), doch wenn man einen Hinweis auf die Region Moesa finden will, dann bitte schön wo, wenn nicht darin? Das Agglomerato del Bellinzonese (7) ist eine Planungsgrundlage mit zeitlichem Horizont 2030. Die Autobahn A13 und die Route 13, welche den Kanton Tessin mit dem Kanton Graubünden verbinden, wird als asso stradale di collegamento principale strutturante (8), das schmale Band entlang dieser Strasse wird als area di svago di prossimità (9) bezeichnet, das Gebiet zwischen Arbedo und der Kantonsgrenze bei Roveredo wird als mögliche Erweiterung des Eisenbahnnetzes Ticino-Lombardia (TILO) betrachtet. Alles Attribute, welche auf die Bedeutung des kantonalen grenzüberschreitenden Gebiets deuten. Doch im Tessiner Richtplan hört die Planung an der Kantonsgrenze auf. (10)

 

Muss man dies den Tessiner Behörden übelnehmen? Auf keinen Fall. Und zwar aus zwei Gründen:

 

1. Ausserkantonale Handlungsräume waren zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Dokuments kein Thema. 

2. Der Grossraum Mailand-Lombardei weist eine Fläche von 24’000 km2 und eine Gesamtbevölkerung von über 10 Millionen Menschen auf. Demgegenüber fällt die Region Moesa mit weniger als 500 km2 und 8’500 Einwohner nicht gerade schwer ins Gewicht. 

 

Daher ist es nachvollziehbar, wo im Tessin die Prioritäten liegen: Definitiv nicht in Graubünden bzw. in der Region Moesa. 

 

Das will aber nicht heissen, dass eine Kooperation nicht möglich sei. Kooperation ist zu Recht eine Notwendigkeit, wenn man die geografische und kulturelle Nähe der beiden Gebiete und den Zulauf an Tessiner Einwanderern in die Moesa betrachtet. Tatsächlich besteht traditionell eine enge Zusammenarbeit zwischen der Moesa und dem Tessin auf dem Gebiet der Bildung oder der Abfallentsorgung. Seit der Coronakrise orientiert sich die Moesa - oder Teile davon - stärker an den Massnahmen des Kantons Tessin und sucht eine engere Kooperation mit diesem. Doch ausserhalb dieser Bereiche gebe ich zu bedenken, dass das Tessin, in Anbetracht seiner eigenen „Geopolitik“, kein grosses Interesse an Kooperation mit Graubünden haben dürfte, zumal die Abwanderung von Tessiner Steuerzahlern in die Täler der Moesa Graubünden begünstigt. Ausserdem können zu viele Ansprüche an der überkantonalen Kooperation drei weitere negative Nebeneffekte haben: Es kann den eigenen Unternehmensantrieb der Moesa hemmen, die Region Moesa als Bittstellerin gegenüber den Tessiner Behörden erscheinen lassen und die kantonale Regierung in Chur aus der Verantwortung nehmen. Das wäre keine gute Entwicklung. 

 

Von aussen kann man sich den Eindruck nicht erwehren, dass sich die Region Moesa durch eine komplexe und komplizierte politische Landschaft durchwurstelt. Dabei richtet sie den Blick, je nach Thema, mal nach Chur, mal nach Bellinzona. Das erfordert zweifellos viel Flexibilität von allen Beteiligten. Diese Praxis mag ihre Vorteile haben, doch als Wahlbündnerin, die nicht alle lokalen Empfindlichkeiten kennt, frage ich mich: Ist diese Situation ein halbgares Provisorium? Oder haben die kantonalen und regionalen Behörden Graubündens doch etwas Besseres für die Moesa vor?

 

Ein geopolitisches Vakuum?

Hin- und hergerissen zwischen zwei verschiedenen kantonalen Regierungen ist die Region Moesa politisch und wirtschaftlich unterstrukturiert. Als Beweis für die fehlende Raumplanung möchte ich auf den Artikel im Almanacco del Grigioni Italiano 2020 „Moesano: quo vadis?“ von Lino Succetti zurückgreifen, der eine Reihe von Mängeln auflistet. Es fehlt zum Beispiel an: einem Raumkonzept, einem Tourist Office, einer Umfahrungsstrasse um San Vittore und einem Sportcenter. (11) Wenn man Succetti liest, kommt man nicht darum herum, sich zu fragen: Ist die Moesa überhaupt im 21. Jh. angekommen?

 

In einer (wenn auch lokal beschränkten) wirtschaftlich dynamischen Region wie der Moesa, dazu mit einem im Bündner Verhältnis prognostizierten überdurchschnittlichen Bevölkerungswachstum bis 2040, ist die Unterstrukturierung ein klarer Nachteil, zumal die Region auf der Verkehrsachse zur riesigen Mailander Agglomeration liegt. Nicht selten bieten unterstrukturierte Gebiete Nährboden für kriminelle Organisationen. Davor ist schon in der regionalen Presse gewarnt worden.

 

Fazit und Schlussfolgerung

Handlungsräume über die Kantonsgrenze hinaus sind ein brauchbares Instrument, um klar erkennbare Synergien zu fördern (wie in diesem Fall in der Bildung, allenfalls in der Gesundheitspolitik). Doch angesichts der grösstenteils divergierenden Interessen zwischen dem Kanton Tessin und der Region Moesa wäre die Moesa besser bedient, wenn sie wie jede andere Bündner Region ihre Kompetenz in der Erarbeitung eines vollständigen regionalen Richtplans einsetzen und ihre Entwicklung so weit wie föderalistisch möglich selber planen könnte. Sie würde somit ihre Präsenz stärker markieren und quasi auf „Augenhöhe“ mit den Tessiner Behörden kooperieren, da wo nötig. 

 

Virginia Bischof Knutti©28.07.2020

 

(1) Die Naht (Übers. der Autorin). 

(2) Richtplan Kanton Graubünden, Raumordnungspolitik, S. 2.2-20.

(3) Richtplan des Kantons Tessin (Übers. der Autorin). 

(4) Ziele der kantonalen Planung (Übers. der Autorin).

(5) Piano direttore cantonale, Repubblica e Cantone Ticino, Gli obiettivi in sintesi, https://www4.ti.ch/fileadmin/DT/temi/piano_direttore/documenti/Obiettivi_PDR.pdf

(6) Regionales Bahnsystem (Übers. der Autorin). 

(7) Agglomeration von Bellinzona (Übers. der Autorin). 

(8) Hauptverkehrsachse mit Verbindungsfunktion (Übers. der Autorin).

(9) Naherholungsgebiet (Übers. der Autorin).

(10) Piano direttore cantonale, Repubblica e Cantone Ticino, Schede, Rete urbana e mobilità, R/M4, https://www4.ti.ch/dt/dstm/sst/temi/piano-direttore/piano-direttore/schede/

(11) Lino Succetti, Moesano: quo vadis?, in: Almanacco del Grigioni Italiano 2020, S. 164-169 (Übers. der Autorin).

 

 

 

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