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Aussichtslose Begrenzungsinitiative - Wie wär's mit indirekter Strategie?

Anlass dieses Essays ist die Begrenzungsinitiative der Schweizerischen Volkspartei, über die das Schweizer Stimmvolk am 27. September 2020 abstimmen wird sowie die dazu gehörige Umfrage des Forschungsinstituts GFS Bern vom letzten August. So wie es aussieht, und bei ähnlich verlaufendem Meinungsprozess, wird die Begrenzungsinitiative verworfen werden. Die wahren Gründe kann man leicht erahnen: Das Schweizer Stimmvolk fürchtet sich vor Repressalien der EU (sogenannte Guillotine-Klausel) und traut unseren Bundesbehörden nicht zu, die aufmüpfige Schweizer Volksmeinung in Brüssel zu vertreten geschweige denn durchzusetzen. Also geben wir auf, ohne zu kämpfen - wie unschweizerisch! 

 

Seit über 20 Jahren ruht ein Grossteil unseres Wirtschaftswachstums auf dem Konsum. Dieser wird sich aber - corona- bzw. klimabedingt - für eine unbestimmte Zeit weltweit verabschieden. Wird die Schweiz dennoch oder gerade deswegen weiterhin ein demografisches Wachstum erleben und zunehmende Zuwanderung anziehen auf die Gefahr hin, innere gesellschaftliche Konflikte und gröbere Umweltprobleme auszulösen? Wenn dem so ist, dann würden wir mit der Verwerfung der Initiative das Problem nicht lösen. Doch annehmen können wir sie auch nicht. Eine Alternative tut not.

 

Ausgangslage

Anfang August 2020 hätten 61 % der teilnahmewilligen Stimmberechtigten „bestimmt“ oder „eher“ gegen die Begrenzungsinitiative gestimmt. 35 % wären dafür gewesen. Gegenüber einer Umfrage von März 2020 hat sich der Anteil der dezidierten Zustimmung verfestigt und der Nein-Anteil ist nicht merklich gestiegen. Was dem Forschungsinstitut gfs.bern überraschend vorkommt, ist weniger die Aussichtslosigkeit dieser Initiative als der bereits mehr oder weniger abgeschlossene Prozess der Meinungsbildung. 

 

Tatsächlich wird die Initiative sowohl in der Deutschschweiz als auch in der Romandie abgelehnt. Hingegen ist die Situation in der italienischsprachigen Schweiz offener. Keines der drei getesteten Pro-Argumente ist wirklich mehrheitsfähig: 

 

1. Die Grundidee der Initianten, dass die Schweiz die Zuwanderung wieder selber regeln soll, befürworten 51 % gegen 45 % Gegner; 

2. dasselbe gilt für das Argument, dass die ungebremste Zuwanderung eine extreme Belastung für unsere Umwelt, für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und für die Sozialwerke der Schweiz sei (49 % - 49 %); 

3. dass die EU die übrigen bilateralen Verträge nicht kündigen werde, weil sie mehr davon profitiere als die Schweiz, verwerfen 52 % der Stimmberechtigten. 

 

Hingegen ist die Stimmbürgerschaft mit allen drei getesteten Contra-Argumenten mehrheitlich einverstanden: 

 

1. Die Kündigung der Bilateralen verschärfe den Fachkräftemangel (63 %) 

2. und gefährde den Wohlstand und Arbeitsplätze in der Schweiz (59 %); 

zudem unterstützen 60 % die Aussage, der bilateralen Weg werde zerstört ohne eine Alternative zu bieten.

3. zudem unterstützen 60 % die Aussage, der bilateralen Weg werde zerstört ohne eine Alternative zu bieten. (1) 

 

Der Einschluss - Das Schicksal der Schweiz

Was sich in dieser Meinungsumfrage verbirgt, ist geopolitisch betrachtet die Ohnmacht des Schweizer Stimmvolks angesichts der besonderen Lage des Landes - des Einschlusses. 

 

Als eingeschlossen gilt ein Staat, der keinen direkten Zugang zum Weltmeer hat. Wenn man bedenkt, dass heute 90 % des Welthandels über die Weltmeere abgewickelt wird, ist der Einschluss ein Nachteil besonderen Ausmasses. Das ist der Fall für die Schweiz, die von fünf Staaten umgeben ist und somit keinen direkten Zugang zum Weltmeer besitzt. Der Einschluss ist auch das Schicksal von 42 anderen Staaten weltweit. Sie sind bei weitem nicht alle arm, doch unter ihnen steht keine einzige Regional- geschweige denn eine Weltmacht. Das ist als unmissverständliches Zeichen, dass der Einschluss kein Sprungbrett zur politischen Macht darstellt, zu deuten. In der Schweiz allerdings wiegt der Einschluss viel schwerer, weil er sich dreifach manifestiert:

 

1. Er ist - wie gesagt - geografisch, da wir von fünf Staaten umgeben sind, was uns den direkten Zugang zum Weltmeer verhindert. 

2. Er ist wirtschaftlich-politisch, da vier der fünf Nachbarstaaten EU-Mitglieder sind. 

3. Er ist militärisch-strategisch, da drei der fünf Nachbarstaaten NATO-Mitglieder sind. 

 

Heute, knapp vier Wochen vor der Abstimmung, spüren wir die wirtschaftlich-politische Komponente des Einschlusses am stärksten, weil die Annahme der Begrenzungsinitiative die Beziehungen zur EU arg strapazieren könnte. Wir stecken also mitten in einem Dilemma: Egal, wie die Begrenzungsinitiative ausgeht, wir müssen uns auf raue Zeiten gefasst machen.

 

Unter normalen Bedingungen, will heissen in Friedenszeiten und unter dem Regime des Schengener Abkommens, spüren die Schweizerinnen und Schweizer wenig vom Druck des Einschlusses. 

 

Tatsächlich hat die Globalisierung den freien Verkehr zu einem der wichtigsten Paradigmen unserer Gesellschaft gemacht. Kein Staat scheint sich dem entziehen zu können. Alle Reden, alle Projekte, alle Strategien der Akteure, gleichwohl ob politische, wirtschaftliche oder gesellschaftliche, sind auf die Verteidigung und Veranschaulichung dieses Prinzips ausgerichtet. Mit anderen Worten: Der freie Verkehr ist das Herzstück schlechthin der Globalisierung geworden. Und die Globalisierung hat die Schweiz wohlhabender gemacht denn je. Im Gegensatz bedeutet Abschottung im besten Fall Stagnation, im schlimmsten Rezession oder sogar Abstieg in die Armut. Da wo wir früher waren und keiner mehr hin will.

 

Den freien Verkehr zu hinterfragen ist legitim

Wenn es nun legitim ist, sich frei zu bewegen, zu kommen und gehen, die Welt kennenzulernen, sie zu beeinflussen, einen Job im Nachbarland oder am anderen Ende des Kontinentes auszuüben, dann ist es nicht weniger legitim, die endlose Neugier von Touristen, den Zuwachs von undifferenzierten und austauschbaren Städten und Räumen, den Verlust der eigenen Identität aufgrund einer unkontrollierten Einwanderung kritisch gegenüber zu stehen. Es ist auch notwendig, die Forderungen derer zu würdigen, die sich einer solchen Öffnung widersetzen, und daran zu erinnern, dass der Mensch, wenn er ein Wesen der Bewegung ist, auch ein Wesen der Verwurzelung ist und dass es keine Identität gibt ohne ein entsprechendes Territorium.

 

Dies vorausgesetzt, wenden wir uns nun möglichen Lösungswegen zu. Es gibt bereits bekannte und beschrittene Wege aus dem Einschluss: Die Binnenwasserstrasse über den Rhein, der Luftweg und das Betreiben einer Hochseeflotte. Doch am Ende hängt jeder dieser Wege vom Goodwill der Nachbarstaaten ab, was das Problem eigentlich nur verlagert. Auch der Kauf einer Insel oder das dauerhafte Einmieten an einer Küste würde das Problem nur bedingt entschärfen. Somit ist und bleibt der Einschluss unser Schicksal.

 

Die Abhängigkeit von der EU reduzieren

Im aktuellen Meinungsbildungsprozess zeigt sich, wie das Schweizer Stimmvolk von den Bilateralen Verträgen abhängig ist. Die Initianten hingegen sind der Meinung, dass die EU genauso abhängig von den Bilateralen Verträgen sein dürfte als die Schweiz selbst. Das glaube ich auch, doch um es genau zu wissen, müssten wir es darauf ankommen lassen und hoch pokern. Wir müssten ein Risiko eingehen, das traditionell nicht der Schweizer Mentalität entspricht. Ausserdem setzt ein solches Risikospiel ein Mass an strategischem Denken und Verhandlungsgeschick voraus, zwei Fähigkeiten, die in Bern - machen wir uns doch nichts vor - dünn gesät sind, während sie in Brüssel schon wegen der Grösse des Verwaltungsapparats eher häufiger vorkommen dürften. 

 

Wir sitzen also fest. Die Abstimmung wird aller Wahrscheinlichkeit nach verworfen werden mit dem Resultat, dass die Schweiz demografisch und wirtschaftlich gesehen weiterhin wachsen, während das gesellschaftliche Leben auf eine immer härtere Probe gestellt wird, weil die Ressourcen und vor allem der Raum immer knapper werden. Hier klaffen also zwei Interessenlagen aufeinander, die man folgendermassen subsumieren kann: Wirtschaftsinteressen gegenüber gesellschaftliche Interessen. Bisher haben immer die wirtschaftlichen Interessen überwogen. Das wird bei dieser Abstimmung auch nicht anders sein. Und so stehen wir wieder wie der Esel am Berg. Haben Menschen in diesem Land denn überhaupt noch einen Hauch Handlungsfreiheit oder sind sie hoffnungslos höheren Interessen ausgeliefert?

 

Meiner Ansicht nach sollte ein simpler gesellschaftlicher Vorsatz dieses Land beherrschen: Wenn die Schweizer Nationalität auf dem Schweizer Arbeitsmarkt kein Recht mehr darstellt, sondern zum Hindernis wird, dann ist auch der Punkt erreicht, an dem das Schweizer Volk den Eintritt in die EU verlangen oder en masse auswandern sollte wie zu Römerzeiten. 

 

Ein Lösungsvorschlag

Noch sind wir nicht so weit. Doch eines ist sicher: Die unkontrollierte Zuwanderung wird unser Land in Zukunft immer mehr beschäftigen denn je. Deshalb müssen wir dieses Problem nicht frontal, sondern über eine indirekte Strategie angehen, ohne die Bilateralen Verträge zu gefährden. Dazu gibt es möglicherweise mehrere Lösungen, doch mir kommt nur eine in den Sinn, im Wissen, dass unkonventionelle Situationen unkonventionelle Lösungen erfordern: 

 

Wir könnten die Schwelle für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die Schweiz etwas erhöhen, indem wir Schweizerdeutsch anstelle von Deutsch als Nationalsprache erklären und in ausgewählten Branchen die Beherrschung von zwei Nationalsprachen verlangen. Diese Hürde dürfte für die Schweizer Bevölkerung zu stemmen sein, während sie die Attraktivität des Landes für die Zuwanderung etwas bremsen sollte. Tatsächlich dürften wenige EU-/EFTA- oder anderweitige Zuwanderer zusätzlich zu ihrer Muttersprache (und Englisch) noch Deutsch bzw. Französisch bzw. Italienisch. bzw. Romanisch beherrschen. 

 

Damit der Lösungsvorschlag gelingt gibt es jedoch zwei Grundvoraussetzungen zu erfüllen: 

 

1. Die Wirtschaftskapitäne steuern in die gleiche Richtung.

2. Wir streiten uns nicht über die Frage, welcher Schweizerdeutsche Dialekt die Oberhand gewinnen soll; jeder Kanton behält seinen eigenen. 

 

Übrigens, es gibt einen Staat in Europa, der Ähnliches durchmacht wie die Schweiz: Luxemburg. Es ist ein kleiner, eingeschlossener Staat mit einer Bevölkerung von rund 600’000 Einw., wobei der Ausländeranteil rund 48 % beträgt. Seit vier Jahrzehnten bemüht sich das Grossherzogtum um Aufwertung seiner Landessprache, die lange nur mündlich benutzt wurde. Seit 1984 zählt Luxemburg also nebst Französisch und Deutsch eine dritte Landessprache: das Luxemburgische. Seit Oktober 2008 müssen diejenigen, die sich für die luxemburgische Nationalität bewerben, eine Prüfung in Luxemburgischen ablegen. Seit dem 20. Juli 2018 ist die Förderung des Luxemburgischen gesetzlich verankert. (2)  Offiziell soll die luxemburgische Sprache der Integration dienen. Mir ist nicht bekannt, dass die Bemühungen Luxemburgs, seine kulturelle Identität zu schützen, auf grossen Widerstand seitens Brüssel gestossen sei. Was spricht also dagegen, in der Schweiz mit ähnlichen Argumenten vorzugehen?  

 

Wir müssen erkennen, dass der Wohlstand im Alleingang begrenzt sein dürfte. Gleichzeitig sollten Wirtschaft und Politik auch einsehen, dass diesem Land enge natürliche Grenzen gesetzt sind. Eine vernünftige Kontrolle der Zuwanderung, unabhängig von jeglicher Parteiideologie, ist nicht abwegig. Doch wir müssen sie behutsam angehen und dabei Wert auf unsere Identität legen und diese unmissverständlich kommunizieren und einfordern.

 

Virginia Bischof Knutti©02.09.2020

 

 

(1) Gfs.bern, Kurzbericht 1. Welle der „SRG-Trendumfragen“ zur Volksabstimmung vom 27. September 2020, https://www.gfsbern.ch/wp-content/uploads/2020/08/203105_srg_trend_27.09.2020_kurzbericht-1.pdf.

(2) Le Monde diplomatique, Comment s’invente une langue - Francophones ou germanophones? Januar 2020. 

Bild: ©Presentation Load mit Ergänzungen der Autorin und Eurostat aus: Der Kanton Graubünden - Eine geopolitische Analyse, Somedia-Buchverlag (2019).

 

 

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