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Die kürzeste Geschichte Deutschlands

 

Der britische Germanist James Hawes veröffentlichte 2017 ein Buch - The Shortest History of Germany. Sein Ziel war, seinen Landsleuten Deutschland zu erklären. In Grossbritannien wurde das Buch ein Bestseller. Als das Werk ein Jahr später auf Deutsch erschien, stiess es in Deutschland auf laue Kritik. Dennoch wird 2020 bereits die 8. Ausgabe der Taschenausgabe verkauft. Das Thema dürfte also ein gewisses Interesse in sich bergen. 

 

Der Titel

Die kürzeste Geschichte Deutschlands ist ein seltsamer Titel, der Erklärungsbedarf hervorruft. Er kann aus meiner Sicht auf zweierlei Arten interpretiert werden - im direkten und im übertragenen Sinn. Im ersten Fall hat der Autor tatsächlich 2000 Jahre Geschichte in 328 Seiten zusammengefasst. Im zweiten Fall deutet er daraufhin, dass das vereinigte Deutschland, das zwischen 1871 und 1945, und wieder seit 1990 Bestand hat, lediglich ein Intermezzo gegenüber den letzten 2000 Jahren sein dürfte. Laut Hawes ist die deutsche Vereinigung eine Anomalie. Seine These: Es kann nicht zusammenwachsen, was nicht zusammengehört. 

 

Vier Epochen

Das Buch gliedert die Geschichte Deutschlands in vier halb Jahrtausende oder Epochen:

 

1. Das erste halbe Jahrtausend (58 v.Chr. - 526 n.Chr.): Die Römer erschaffen die Germanen, dann übernehmen die Germanen Rom. Die Römer haben an der Elbe kehrt gemacht. Demnach entspricht Deutschlands Gestalt, so der Autor, dem Verlauf des römischen Limes. Er verlief im Norden entlang des Rheins, bog bei Mainz Richtung Osten zum Main ab, nahm dann Kurs auf das heutige Regensburg südwärts und zog schliesslich weiter entlang der Donau. „Mit anderen Worten lagen ausser Hamburg alle grösseren Städte des heutigen Österreichs und Westdeutschlands innerhalb des Römischen Reichs oder zumindest in seinem täglich spürbaren Schatten.“ 

2. Das zweite halbe Jahrtausend (526 - 983): Die Wiederherstellung Roms durch die Germanen. Germanische Völker besiedeln Mitteleuropa. Um 800 erbte der Franke Karl der Grosse ein Reich, das geografisch dem römischen Reich 600 Jahre zuvor entsprach. An der östlichen Grenze seines Reiches lebten die Sachsen, ein heidnisches Volk. Er bezwang sie, konvertierte sie zum Christentum und regierte fortan alle Germanen in Mitteleuropa. Seine Nachfolger teilten das Reich in West- und Ostfranken und erweiterten das Gebiet über die Elbe hinaus. Da stiessen die Deutschen auf Slawen und wurden anlässlich des Slawenaufstands 983 über die Elbe zurückgedrängt.  

3. Das dritte halbe Jahrtausend (983 - 1525): Es tobt ein Kampf um Deutschland. Östlich des christlichen Polens lebten die Prussen und eine Reihe weiterer heidnischer slawischer Völker wie die Balten. Sie etablierten sich als Grosslandbesitzer und Ordensritter. Im 13. Jh. forderte Kaiser Friedlich II. die ostelbischen Ordensritter auf, sich zu rüsten und das Land der Prussen zu erobern. Aus prussischen Ordensrittern wurden Preussen. Die Reformation begann in Ostelbien und gestaltete sich zunehmend politisch. „Die Möglichkeit, die römischen Fesseln zu lockern, das Geld im Land zu halten, über die Kirche im eigenen Territorium selbst zu bestimmen und den gesamten Grundbesitz der Geistlichkeit einzuziehen, war für die deutschen Fürsten höchst attraktiv.“ 1525 wurde ein zweifaches Jubiläum zelebriert: Preussen und die politische Reformation erblickten zeitgleich das Licht der Welt.

4. Das vierte halbe Jahrtausend (1525 bis heute): Deutschland schlägt zwei Wege ein. Der Wiener Kongress beschloss 1814, Preussen eine Industrieregion am Rhein zu „schenken“. 1866 wurden Süd- und Westdeutschland auf dem Schlachtfeld durch Preussen besiegt und absorbiert. Bis 1945 wird Westdeutschland dem Ehrgeiz Preussens dienen, nämlich: „die Hegemonie über Polen, die baltischen Länder und Nordmitteleuropa, wenn möglich im Verbund mit Russland, oder, wenn nötig, durch ein finales Kräftemessen mit dem Riesenreich im Osten“ anzustreben. Ab 1945 wird Deutschland zweigeteilt. Jeder Teil wird dem Einfluss einer Supermacht unterstellt - im Westen der USA, im Osten der Sowjetunion. Der Fall der Berliner Mauer bringt 1990 die Wiedervereinigung. Dennoch bleibt, so der Autor, Westdeutschland der Verwestlichung treu, während Ostdeutschland den Blick weiterhin nach Osten richtet.

 

Der rote Faden

Roter Faden durch das Buch ist das strittige Gebiet Ostelbien. Es umfasste einen Raum, der östlich der Elbe bis Ostpreussen (das heutige Baltikum) reichte und von verschiedenen slawischen Bevölkerungsgruppen besiedelt war. Es war also ursprünglich kein germanisches oder deutsches Gebiet.

 

In Ostelbien werden die Westdeutschen als Kolonisten und Siedler empfunden. Gleichzeitig fürchtet sich die Bevölkerung vor territorialen Ansprüchen Polens bzw. Russland. Das hat bei den Ostelbiern den kollektiven Eindruck entstehen lassen, sich permanent im Belagerungszustand zu befinden. Hawes beschriebt die Lage so: „Östlich der Elbe waren (die Deutschen) immer Kolonisten und Siedler. Das Gefühl, permanent unter Vertriebenen und Enteigneten zu leben, die eines Tages ihr Land zurückfordern könnten, haben sie nie wirklich überwunden.“ Diese Situation habe dazu geführt, dass die Ostdeutschen ein anderes Wählverhalten entwickelt haben als die Westdeutschen: So bevorzugten sie im Kaiserreich die Deutschkonservative Partei, in der Weimarer Republik die Deutschnationale Volkspartei, 1930 bis 1933 die Nationalsozialisten. Was der Autor zu folgender Aussage veranlasst: „Hätte ganz Deutschland wie das Rheinland, Schwaben und Bayern gewählt, wäre Hitler niemals Kanzler und schon gar nicht Diktator geworden. Ohne Ostelbien kein Führer, so einfach ist das.“

 

So bleibt die Elbe „die grosse Bruchlinie der deutschen Geschichte. Die Verhältnisse östlich des Flusses sind andere, und so war es schon vor tausend Jahren.“ Hawes bezeichnet die Jahre 1871 bis 1945 „als preussische Anomalie für das Land zwischen Rhein, Elbe und den Alpen, dem Staatsverehrung, puritanischer Eifer und schmissiger Militarismus immer völlig fremd gewesen waren.“

 

Kommentar

Deutschland hatte schon immer grössere geografische Probleme. Umzingelt von neun Nachbarstaaten, mit einem verhältnismässig engen, direkten Seezugang und einer flachen nordeuropäischen Tiefebene, die strategische Tiefe sowohl nach Westen wie nach Osten des Landes bietet, hat Deutschland scheinbar immer Gründe gehabt, sich vor zwei kontinentalen Grossmächten zu fürchten - Frankreich im Westen und Russland im Osten. Die grösste Angst Deutschlands jedoch war, von beiden Mächten gleichzeitig angegriffen zu werden. Das wurde auch tatsächlich der Fall, als die Alliierten 1944-1945 eine gleichzeitige Gegenoffensive aus Westen und Osten führten und Nazideutschland zur Kapitulation zwangen. 

 

Dreissig Jahre nach der Vereinigung ist Deutschland gespaltener denn je. Mit amerikanischen Truppen auf seinem Territorium ist die politische und wirtschaftliche Orientierung des Landes notgedrungen stark westlich geprägt. Im Osten sieht man die Dinge anders. Doch was rechtfertigt Ostelbiens Ambitionen im Osten? Und weshalb werden sie im Westen ignoriert wenn nicht bekämpft?

 

In der angelsächsischen Geopolitik stellt eine hypothetische Annäherung zwischen Preussen und Russland seit jeher eine Bedrohung für die Weltherrschaft dar. So hat der britische Geopolitologe Halford MacKinder (1861-1947) seine Theorie des geografischen Pivot (Drehpunkt) auf der Überlegenheit der Seemacht Grossbritannien begründet. 

 

Damit es so bleibt, schlug er 1919 die Schaffung und Stärkung unabhängiger Staaten in Osteuropa - Polen, Böhmen - als Puffer zwischen Deutschland und Russland und die Verhinderung der zukünftigen Vereinigung der eurasischen Macht, die unweigerlich stattfinden würde, wenn Berlin jemals russisches Territorium erobern würde, vor. 

 

Diese Weltansicht lässt andere Fragen offen wie zum Beispiel: Wie können Deutschland und Russland, Deutsche und Slawen, auf Dauer vereint werden? Und was ist mit den osteuropäischen Staaten dazwischen? 

 

Trotz dieser Infragestellungen werden die Grundlagen von Mackinders Theorie der Inselumschliessung (containment) heute von vielen amerikanischen Strategen und Geopolitikern umgesetzt, und die amerikanische Politik vom Kalten Krieg bis heute kann als ein effektiver Versuch angesehen werden, Russlands Nachbarstaaten zu kontrollieren, um die sowjetische Kontinentalmacht und dann ab den 2010er Jahren die neuen russischen und chinesischen Machtzentren einzudämmen. Mit der Absicht im Hinterkopf, eine eventuelle politische Annäherung zwischen Deutschland und Russland zu verhindern.

 

Deutschland mag in mancher Hinsicht zu gross für Europa erscheinen, doch ein in der EU eingebettetes, geeintes Deutschland bleibt in Europa eher kontrollierbar als ein geteiltes Deutschland mit einem unabhängigen und sich suchenden Ostelbien. 

 

Virginia Bischof Knutti©16.09.2020

 

Die kürzeste Geschichte Deutschlands

von James Hawes

Ullstein Buchverlag GmbH, Berlin

ISBN: 978-3-548-06043-9

 

 

 

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