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Belarus - Das Schicksal eines Durchgangsstaates

Seit Mitte August 2020 protestieren Menschen gegen Präsident Aljaksandr Lukaschenkas  Wiederwahl vom 9. August 2020 auf den Strassen Belarus’ Hauptstadt Minsk. 

Seit rund zehn Jahren sind wir uns im Westen Europas gewohnt, dass westliche Politiker und Prominente Oppositionelle aus ostereuropäischen Staaten, die sich aus der Umklammerung Russlands zu lösen versuchen, unterstützten - mit Geld, Taten und Worten. Im Fall von Belarus ist allerdings nichts Vergleichbares festzustellen. Auch Moskau hält sich vorläufig bedeckt. Was ist 2020 in Minsk anders als 2010 und 2014 in Kiev oder 2003 in Tiflis ? 

Um das zu begreifen, muss man in die Geschichte eines Landes eintauchen, das im Westen  grösstenteils nur bekannt ist für seine nationale Eishockeymannschaft oder für sein autoritäres Regime. Eine Geschichte, die sich seit Jahrhunderten wiederholt und heute noch immer zukunftsweisend sein dürfte.

Zum Sprachgebrauch: Im Folgenden wird das Land bis zur Unabhängigkeit 1991 Weissrussland, danach Belarus genannt.

 

Geografie

Belarus ist ein Binnenland. Es trennt die baltischen Staaten von der Ukraine und Russland von Polen. Es hat eine ziemlich kompakte Form, 500 km in alle Richtungen, erstreckt sich über 208'000 km2, hat aber nur 9,5 Millionen Einwohner, was einer Dichte von 46 Einw./km2 entspricht. 

Fast ein Drittel des Landes ist bewaldet, ein Drittel ist der Landwirtschaft gewidmet und ein Zehntel ist von Seen, Teichen, Sümpfen und Mooren bedeckt. Kaum jemand würde sich für dieses Stück Erde interessieren, wenn es nicht eine strategische Funktion innehätte: Belarus ist ein Knotenpunkt der Nord-Süd- und der Ost-West-Achse durch den eurasischen Kontinent. Es befindet sich einerseits auf dem ebenen Korridor, der von der Mongolei im Osten bis zur Nordsee im Westen verläuft und andererseits auf der Landenge zwischen der Ostsee im Norden und dem Schwarzen Meer im Süden. Zudem dient es der Russischen Föderation als Pufferzone gegenüber der NATO. Diese Lage ist Belarus’ geopolitisches Verhängnis. 

Die Hauptstadt Minsk liegt etwa in der Mitte des Landes und zählt rund zwei Millionen Einwohner, was etwa 20 % der Landesbevölkerung entspricht.

 

Bevölkerung

Der Landesname Belarus setzt sich aus den Bestandteilen bela- (slawisch für „weiß“) und Rus (Name des mittelalterlichen ostslawischen Herrschaftsgebiets) zusammen. Das Land ist nach Russland und der Ukraine das dritte Land der "Ostslawen". Die Trennung zwischen Grossrussen, Kleinrussen und Weissrussen fand im Hochmittelalter statt, aber es ist noch nicht klar, warum die Russen in den westlichen Wäldern als "weiss" bezeichnet wurden. Ihre Sprache steht dem Ukrainischen und dem Russischen sehr nahe. Abgesehen von seiner besonderen Geschichte unterscheidet sich das Land wenig im Vergleich zu seinem östlichen Nachbarn.

Belarussen bilden 83,7 % der Bevölkerung, gefolgt von Russen (8,3 %), Polen (3,1 %), Ukrainern (1,7 %) und weiteren Minderheiten (3,2 %).

Die Bevölkerungsentwicklung des Landes ist rückläufig. Seit 1993 ist die Bevölkerung um rund 6 % gesunken.

 

Ressourcen und Verkehrswege

Belarus hat, abgesehen von Holz, so gut wie keine eigenen natürlichen Ressourcen. Zudem hat das Land keinen direkten Zugang zum Weltmeer. Seine grösste Einkommensquelle besteht aus  Rückvergütungen, die Russland ihm auf den Transit von Öl und Gas gewährt. Das schafft nachhaltige Abhängigkeiten. 

Seit Sowjetzeiten verlaufen zwei Ölpipelines durch das Land: Die eine, Druschba (1), die größte der Welt (50 Millionen Tonnen), transportiert russisches Öl nach Deutschland, die andere bringt es zu den Häfen von Lettland und Litauen. Auf jedem von ihnen befindet sich eine Ölraffinerie, deren Produkte ein Fünftel der belarussischen Exporte ausmachen. Da russisches Öl zu sehr niedrigen Preisen geliefert wird, ist diese „geopolitische Rente“ sehr hoch. Seit 2001 durchquert auch die  Erdgas-Jamal-Pipeline das Land. 

Im Winter 2006-2007 führten Meinungsverschiedenheiten zwischen Minsk und Moskau über die Transitpreise zu einem Stillstand des Ölflusses und drohten die Lieferungen nach Deutschland, das 20 % seines Ölbedarf aus Druschba bezieht, zu unterbrechen. Die Krise wurde gelöst, aber der Kreml beschloss, eine neue 50-Millionen-Tonnen-Pipeline mit dem russisch-baltischen Hafen Primorsk kurz vor der belarussischen Grenze zu legen. Im Konflikt mit Lettland und Litauen hat Moskau seither auch den Ölfluss zu den Häfen dieser beiden Länder fast zum Erliegen gebracht.

Die Russische Föderation ist nach wie vor der Hauptwirtschaftspartner von Belarus: Rund 43 % der belarussischen Exporte gehen nach Russland und 57 % der belarussischen Importe kommen von dort. Mit rund 19’000 US Dollar BIP/Einw. steht das Land weltweit auf Rang 71. 

 

Geschichte

In der Geschichte konnte kein Staatsgebilde dieses Gebiet halten. Es war viel mehr ein Raum, den es zu durchqueren galt als ein Zentrum der Initiative und der Macht: eine Art bequemes, aber langweiliges Vakuum zwischen wenigen mittleren Zentren. 

Es wurde zuerst von den Warägern, dann von Kiew und Nowgorod beherrscht, weil die Strassen und ihre Stationen zu diesen Zentren unterhalten werden mussten. Später begann der orthodoxe Klerus, zusammen mit Händlern, diese „Waldheiden“ zu bekehren. Dann zogen die Mongolen umher, ohne zu verweilen, und gingen, ohne etwas zu verlangen.

Eine stärkere Zeit kam später, als Weissrussland im Schatten der Erfolge Litauens lebte. Die Bauern beugten sich erneut unter der Autorität litauischer und polnischer Krieger, die eine andere Sprache und eine andere Religion hatten und die ihnen schliesslich die Leibeigenschaft aufzwangen, just in dem Moment, als sie in Westeuropa im Schwinden begriffen war (Mitte 16. Jh.). Die Neuerungen hatten jedoch wenig Erfolg: Weissrussland war ein Land der raskolniki, Altgläubiger, die sich weigerten, die orthodoxe Kirche zu modernisieren. Mehrere Jahrhunderte lang war es nur eine Art Kolonie von Polen, die viele Juden dorthin schickte. Die anschliessenden schwedischen Übergriffe führten zu Unruhen und Ausschreitungen. Erst am Ende des 18. Jh. wurde das ganze Land in drei aufeinanderfolgenden Phasen von Ost nach West russifiziert. 

Weissrussland sah Napoleon und seine Armee kommen und gehen,  aber die Schlacht an der Beresina ist kein Eckdatum in der Geschichte des Landes. Auch das Zarenreich zeigte wenig Interesse dafür, sodass die Hauptstadt Minsk um 1890 nicht einmal 50’000 Einwohner zählte, obwohl die Eisenbahn der Stadt einen gewissen Auftrieb gab. Aufgrund seiner ungünstigen Landwirtschaftsversorgung nannte der französische Geograf Elisée Reclus Weissrussland "das Irland Russlands“. So wurde das Land von der Auswanderung nach Russland und Amerika geprägt. In wenigen Jahrzehnten hatte es mehr als eine Million Abgänge zu verzeichnen. Die Revolution von 1917 brachte auch nicht viel Ruhm und 1919 wurde mit dem Vertrag von Brest die westliche Hälfte des Landes an Polen zurückgegeben, sodass die Grenze zu Polen unmittelbar vor der Hauptstadt Minsk verlief. Abgesehen von dem kurzlebigen prodeutschen Regime von 1919 gab es bis 1991 keinen souveränen weissrussischen Staat.

Weissrussland als kohärente Gebietseinheit stammt erst aus dem Jahr 1945, nachdem ein Viertel der Bevölkerung dem Zweiten Weltkrieg zum Opfern gefallen ist. Moskau bedeckte die Stadt mit Waffenlagern und -anlagen, die gegen Westeuropa gerichtet waren, und beschloss, seine überschüssigen billigen Landarbeitskräfte für neue Industrien einzusetzen. Das Paradoxe ist, dass Weissrussland, wenn auch nicht willentlich, und vielleicht, weil es nicht lange unter der Herrschaft Moskaus gestanden hatte, gemäss den damals verfügbaren Indikatoren das beste Pro-Kopf-Einkommen und den besten Lebensstandard der Sowjetunion vorzuweisen schien.

Nach der Implosion der Sowjetunion Ende 1990 wurde das Land also mehr oder weniger gegen seinen Willen in die Unabhängigkeit entlassen. Doch wenn der „neue“ Staat Belarus nichts damit anzufangen wusste, wurde diese Lücke von Moskau wissentlich gefüllt. 

Der erste Präsident von Belarus, Stanislau Schuschkewitsch, war einer der drei Unterzeichner des Endes der Sowjetunion. Er wurde dennoch bereits im Januar 1994 vom Parlament entlassen. Sein Gegner, Aljaksandr Lukaschenka, der sich gegen die Abhängigkeit ausgesprochen hatte, wurde zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Seitdem ist er fünfmal wieder gewählt worden. 

Belarus nimmt zunehmend die Form eines Polizeistaates an, dessen Presse und Gewerkschaften stark eingeschränkt sind, und in dem Verhaftungen wegen Meinungsverstössen wieder alltäglich geworden sind. Das ist mitunter ein Grund, weshalb Belarus der einzige europäische Staat ist, der noch nicht im Europarat aufgenommen worden ist.

 

Beziehungen zu Russland

Belarus unterzeichnete erstmals ein Abkommen über eine Währungsunion mit der Russischen Föderation (April 1994). Im Mai 1995 stimmten die Wähler mit überwältigender Mehrheit einem Referendum zu, in dem vorgeschlagen wurde, Russisch neben Belarussisch als Amtssprache und die rote Flagge wieder einzuführen sowie eine Wirtschaftsunion mit der Russischen Föderation zu erreichen. Die Frage der Integration in Russland wird ständig gestellt, und die Mehrheit der Wähler scheint nicht sonderlich überrascht, wenn sie von den westlichen Mächten gefürchtet wird. Im Frühjahr 1996 wurden verschiedene Vereinbarungen bezüglich einer wirtschaftlichen und politischen Annäherung getroffen, was die Opposition auf die Strasse trieb. 1997 unterzeichneten Russland und Belarus einen Unionsvertrag. Im Jahr 2003 sollte ein einziges Parlament gewählt werden. Der Rubel sollte im Januar zur Einheitswährung und im März 2004 sollte ein einziger Präsident gewählt werden. Doch diese Pläne wurden nicht umgesetzt. Als Gründe dafür kann man erwähnen: die Furcht des Kremls über die Rückkehr der Kommunisten in Belarus, sowie noch intakten sowjetischen Strukturen und die Kosten für die Reform des Landes. Später kamen Auseinandersetzungen zwischen Moskau und Minsk über die Transitpreise des russischen Erdöls noch dazu. 

Streitigkeiten zwischen den beiden Ländern sind nach wie vor an der Tagesordnung. Ein neues Reibungssubjekt ist z.B. 2014 aufgetaucht: Belarussische Zwischenhändler importieren  westliche Agrar- und Lebensmittelprodukte, die in Russland mit einem Embargo belegt werden, stempeln sie als belarussische Produkte ab und verkaufen sie an Russland weiter.

Seit 2015 hat Belarus den Beobachterstatus in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, einem Verteidigungsbündnis mit Sitz in Peking, dem ebenfalls Russland angehört.

 

Fazit und Schlussfolgerung

Belarus hat im Verlaufe seiner Geschichte mehr erduldet als erschaffen und es hat immer im Schatten einer Macht gelebt. Es hat nach 30 Jahren Unabhängigkeit noch keine gefestigte Identität. Es mag eine nationalistische Bewegung im Land haben, doch sie wäre kaum konsensfähig. Eine anti-russische Haltung ist in Belarus nicht zu erkennen. Das Land ist wie einst die Ukraine ein Transitland zwischen Ost- und Westeuropa. 

Daher ist es anzunehmen, dass das Schicksal von Belarus kaum von den Belarussen, sondern in erster Linie durch die Russische Föderation, bestimmt sein wird. Selbstverständlich wäre es für die EU eine geopolitische Errungenschaft, einen Keil zwischen Moskau und Minsk zu treiben und Belarus in die Organisation aufzunehmen. Doch der Preis dafür dürfte hoch sein. Die EU, mitschuldig an der Spaltung der Ukraine, wird sich daher hüten, denselben Fehler zweimal zu begehen und wird kaum mehr wagen, als die Absetzung von Lukaschenka und neue Wahlen zu fordern. 

Kurzfristig mag sich Lukaschenka vermutlich an der Macht halten, doch nur solange, bis Moskau ihn durch eine Alternative absetzen kann. Eine Alternative, die den Belarussen eine vertiefte strategische Partnerschaft mit Russland schmackhaft machen kann. 

Langfristig kann ich mir gut vorstellen, dass der Kreml versucht sein wird, den Unionsvertag  von 1997 endlich umzusetzen. Das würde allerdings Russland näher an die EU rücken lassen, was wiederum heftige Gegenreaktionen aus Polen und den Baltischen Staaten auslösen wird. Womöglich werden Europa und Russland erneut in eine gröbere Krise geraten, die wiederum von einem anderen Kontinent angeheizt und gesteuert werden dürfte. 

 

Virginia Bischof Knutti©24.09.2020

 

(1) Druschba, das russische Wort für "Freundschaft" (Anm. der Autorin)

 

Bild: Wikipedia Commons

 

Quellen: 

1. Roger Brunet, Europes orientales, Russie, Asie centrale, Collection Géographie Universelle, Editions Belin.Reclus, Saint-Amand, 1996.

2. Le Monde diplomatique, Minsk se rebiffe contre le grand frère russe, juin 2017.

3. Atlas géopolitique de la Russie, Editions Autrement, Paris, 2019.

 

 

 

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