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Kommentar zum Friedensabkommen Armenien-Aserbaidschan

Mit der Unterzeichnung des Friedensabkommens zwischen Armenien und Aserbaidschan unter russischer Federführung wird in der westlichen Presse das Gefühl vermittelt, als habe Moskau Armenien, seinen loyalsten Alliierten im Kaukasus, verraten oder zu einer unwürdigen Kapitulation gezwungen. Die Realität ist viel komplexer. 

Zweifellos war Moskaus Handlung durch politisches Kalkül motiviert.  Doch dieser Konflikt zeigt auch, wie sich die westliche Welt mit der zunehmenden Dominanz der Türkei in der Region arrangiert, nach dem Motto:  Hauptsache gegen Russland. 

Dieser Kommentar zeigt auf, welchen Nutzen bzw. Verlust die involvierten Parteien aus dem Friedensabkommen ziehen. 

 

Das Friedensabkommen in Kürze 

- Das Feuer wird um 00:00 Uhr Moskauer Zeit am 10. November 2020 eingestellt und die Kampfhandlungen werden eingefroren. 

- Die sieben Bezirke um Bergkarabach werden der Republik Aserbaidschan zurückgegeben (auf der Karte grüne und grün gestreifte Gebiete). 

- Zur Sicherung des Latschin-Korridors (auf der Karte rot eingezeichnet), der Bergkarabach mit Armenien verbindet, wird eine 2000-Mann-starke Friedenstruppe der Russischen Föderation stationiert. 

- Der Austausch von Kriegsgefangenen und Geiseln zwischen den beiden Konfliktparteien wird sichergestellt.

- Flüchtlinge kehren nach Bergkarabach und in die angrenzenden Gebiete unter der Kontrolle des Hohen Flüchtlingskommissariats zurück.

- Alle wirtschaftlichen und Verkehrsverbindungen in der Region werden deblockiert. Dazu werden zwei neue Strassen erbaut: einerseits durch den Latschin-Korridor (für die Bedürfnisse der armenischen Bevölkerung), andererseits zwischen der Provinz Nachitschewan und Aserbaidschan (für die Bedürfnisse der aserbaidschanischen Bevölkerung) (1), (2). 

 

Die Zustände, die zum Friedensabkommen führten 

Die aserbaidschanischen Streitkräfte, mit der Unterstützung von islamistischen Rebellen, waren im Begriff, den ganzen Bergkarabach zurückzuerobern. Der armenischen Bevölkerung und den Streitkräften und drohte ein jähes Ende.   

Am 8. November 2020, zwei Tage vor der Unterschrift des Friedensabkommens, wurde ein russischer Kampfhelikopter Mi-24 von aserbaidschanischen Streitkräften abgeschossen. Zwei russische Piloten kamen dabei ums Leben, ein weiterer wurde verletzt. Ein Ereignis, das in der westlichen Presse kaum erwähnt wurde, das aber theoretisch dem Krieg eine weit grössere Dimension hätte geben können. 

Um nicht eine neue Kriegsfront zu eröffnen, musste Wladimir Putin rasch handeln und „das Feuer löschen.“ 

Nun stellt sich die Frage, welche Vor- und Nachteile das Friedensabkommen für die einzelnen involvierten Parteien bringt.

 

Was hat Aserbaidschan gewonnen?

- den terrestrischen Anschluss zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan, seiner Exklave im Südwesten Armenien,

- die Möglichkeit, über 600’000 aserbaidschanischen Flüchtlingen, die seit 1993 in Baku unter prekären Bedingungen leben, um den Bergkarabach anzusiedeln,  

- durch den Bau einer Strasse, die die Provinz Nachitschewan mit Aserbaidschan verbinden soll, den direkten Durchgang bis zur Kaspischen See und weiter nach Zentralasien.  

Was hat Aserbaidschan verloren? 

- die Präsenz von russischen Truppen im Gebiet,  

- möglicherweise auch eine gewisse Einschränkung in seiner Handlungsfreiheit aufgrund von Ankaras Aufspielen in der Region,   

- den Teil des Bergkarabachs, der armenisch bleiben soll. 

 

Was hat Armenien gewonnen? 

- die Personen- und Warenfreizügigkeit unter russischem Schutz zwischen Bergkarabach und Armenien durch den Latschin-Korridor, 

- durch das Deblockieren der wirtschaftlichen und Verkehrsverbindungen wird der Einschluss Armeniens theoretisch beendet, was den Anschluss Armeniens an der  Neuen Seidenstrasse (One Belt One Road Initiative) ermöglicht.

Was hat Armenien verloren? 

- Seinen territorialen Anspruch auf einen Teil des Bergkarabachs und das ganze angrenzende Gebiet, 

- die Erlaubnis für die Türkei, durch das armenische Territorium an die Kaspische See zu gelangen,  

- möglicherweise eine Steigerung der kollektiven Psychose, die das armenische Volk seit dem Genozid von 1905 plagt.

 

Was hat Russland gewonnen?

- die Lösung eines Konfliktes in eigener Regie, unter Auslassung der USA und der Türkei,

- die Ausdehnung seines geostrategischen Einflusses im Kaukasus durch die Stationierung von russischen Truppen,

- ironischerweise nach wie vor die Missgunst der westlichen Welt. 

Was hat Russland verloren?

- einen Teil seines geopolitischen Einflusses in Südkaukasus zugunsten der Türkei, die nun über die aserbaidschanische Exklave Nachitschewan direkten Zugang zur Kaspischen See erhält,

- möglicherweise die Loyalität des armenischen Volks, das sich als grosser Verlierer des Abkommens sieht. 

 

Was hat die Türkei gewonnen?

- den indirekten Zugang zur Kaspischen See und nach Zentralasien, 

- das stillschweigende Einverständnis bzw. das Wegschauen der EU und der NATO im Kampf gegen Russland.

Was hat die Türkei verloren?

- Ankara wurde durch Moskau vom Friedensabkommen ausgeschlossen und muss den Lead in der Region weiterhin Moskau überlassen. 

 

Weitere Fragen

Wir werden sich die Machtverhältnisse in der Region entwickeln? Dieses für Armenien a priori unvorteilhafte Friedensabkommen war nötig, damit Moskau Aserbaidschan näher an sich binden konnte und Ankara aus dem Spiel lassen konnte. Der Preis dafür hat offensichtlich Armenien zu bezahlen. Allerdings ist Moskau, im Gegensatz zu Washington, nicht dafür bekannt, dass es seine Alliierten fallenlässt oder verrät. Die nächsten Wochen oder Monate werden zeigen, wie Moskau sich revanchiert und Armenien durch die Hintertür zur Hilfe kommt (z.B. durch die Aufnahme von armenischen Einwanderern, durch Direktinvestitionen, usw.). 

Von „Verrat“ durch Moskau kann nicht die Rede sein, weil eine Intervention Russlands im Konflikt zugunsten Armenien einen aserbaidschanischen Angriff auf armenischem Boden vorausgesetzt hätte, was Baku tunlichst vermieden hat.  

Mit diesem Friedensabkommen hat Moskau Baku näher an sich gebunden und einen Keil zwischen Baku und Ankara getrieben. Wie weit Ankara Moskaus Lead in der Region  herausfordern kann, bleibt abzuwarten.

 

Inwiefern bergen Enklaven bzw. Exklaven Konfliktpotential? Enklaven und Exklaven sind geopolitische Anomalien. Solange Armenien und Aserbaidschan Exklaven auf ihr Territorium dulden müssen, ist mit Spannungen zu rechnen. Bleibt nach dem diesjährigen Krieg der Status dieser Exklaven ungeklärt, steigt das Potenzial für Konflikte zusätzlich. Der Bau einer Strassenverbindung zwischen Nachitschewan und Aserbaidschan festigt jedoch die Rolle dieser Exklave. 

 

Können Wirtschaftsbeziehungen das Problem der Enklaven bzw. Exklaven lösen?Theoretisch ja, wenn die Bevölkerungen in den Enklaven bzw. Exklaven so durchmischt werden, dass die Staatszugehörigkeit eine untergeordnete Rolle spielt, was in diesem Fall derzeit wenig wahrscheinlich ist. Oder wenn die wirtschaftlichen Vorteile  die identitären Auseinandersetzungen überwiegen. Darauf vertraut vermutlich Wladimir Putin, wenn Armenien im Konzept der Neuen Seidenstrasse eingebunden werden würde.

 

Könnte aus diesem Konflikt ein neuer gefrorener Konflikt entstehen? Die Erfahrung der jüngsten Geschichte hat gezeigt, dass Russland sich sehr gut mit „gefrorenen“ Konflikten und Kampfhandlungen arrangieren kann. Allein im benachbarten Georgien gibt es drei: Südossetien, Abchasien, Adscharien. Das ist aber leider meistens nicht im Interesse der betroffenen Staaten oder Teilstaaten.

 

Bleibt Russland der ewige Feind des Westens? Man darf sich wundern, dass weder die NATO noch die EU die Rolle der Türkei in diesem Konflikt kritisiert haben - schliesslich ist es erwiesen, dass islamistische Freischärler auf aserbaidschanischer Seite gekämpft haben. Man könnte aus dieser Haltung schlussfolgern, dass beiden Organisationen jeder recht ist, der es mit Russland aufnimmt. Hauptsache, Moskau wird bekämpft und geschwächt. Und dies, obwohl es nicht zu übersehen ist, dass die grösste Gefahr für die Region nicht aus Moskau kommt. 

 

Fazit und Schlussfolgerung

Der Abschuss eines Militärhelikopters Mi-24 durch die aserbaidschanischen Streitkräfte gab Moskau die Gelegenheit, rasch in den Konflikt einzugreifen und bei den Konfliktparteien ein Friedensabkommen zu erzwingen, wobei Aserbaidschan vordergründig klar bevorzugt wurde. 

Das Friedensabkommen stellt ein Zurück zum Status quo ante, also zur Stalins Zeiten, dar. Ein Gebietsaustausch zwischen den Enklaven bzw. Exklaven ist nicht vorgesehen. Das riecht a priori nach einem neuen eingefrorenen Konflikt in der Region. Es sei denn, Armenien wird mit der Grenzöffnung zu Aserbaidschan im Konzept der Neuen Seidenstrasse eingebunden, was dem gebeutelten Land positive Wirtschaftsperspektiven bescheren und den Konflikt lindern bzw. ausblenden könnte. 

Wenn das gelingt, dann ist Putins Friedensabkommen für Armenien kurzfristig zwar schmerzhaft, aber langfristig zumindest der Mühe wert.    

 

Virginia Bischof Knutti©25.11.2020

 

 

Quellen und Anmerkungen:

Karte: Waffenstillstand in Bergkarabach am 10. November 2020, Wikipedia Commons.

(1) Erklärung des Präsidenten der Republik Aserbaidschan, des Premierministers der Republik Armenien und des Präsidenten der Russischen Föderation, https://www.voltairenet.org/article211616.html, gesichtet am 17.11.2020. 

(2) Ob die Strasse dort verlaufen wird, wo der blaue Pfeil steht, ist allerdings fraglich. Wahrscheinlich wird sie entlang der Grenze zu Iran verlaufen (Anm. der Autorin). 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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