Warum Fortschritt nicht nur eine Frage der Rentabilität ist
Am 13. Januar 2021 kündigt das Bundesamt für Verkehr BAV an, dass es nach Absprache mit den Kantonen den Autozug der Matterhorn Gotthard Bahn am Oberalp nach der Wintersaison 2022-23 einstellen wird. Im Gegenzug beabsichtigen Bund und Kantone die Verbesserung des Angebotes im Regionalverkehr.
In einer Zeit, in der man aufgrund der Klimakrise vermehrt auf die Eisenbahn setzt und das Scheitern des Projekts Porta Alpina 2007 noch immer sauer aufstösst, ist diese Ankündigung für die am meist betroffenen Gemeinden Tujetsch, Disentis/Mustér und Medel (Lucmagn) ein weiterer, herber Schlag.
Grundsätzlich stellt sich die immer wiederkehrende Frage, wie Gemeinden an der Peripherie des Kantons Graubünden der Abwanderung Einhalt gebieten sollen und die Folgefrage, warum wir Rentabilität noch immer als oberstes Gebot der Wirtschaft betrachten, obwohl die Coronapandemie vor unser aller Augen geführt hat, dass strategisches Denken höher als Rentabilitätsfragen bewertet werden sollte.
Diese Analyse untersucht einige Ursachen, die zur Aufgabe des Autozugs am Oberalp geführt haben und sucht nach Handlungsmöglichkeiten für die Behörden im Bereich Raumplanung, wobei der Fokus auf der Gemeinde Tujetsch liegt.
Geografie der Gemeinde Tujetsch
Tujetsch ist eine Talgemeinde am Aufgang zum Oberalppass im Quellgebiet des Vorderrheins. Es umfasst am linken Rheinufer den Hauptort Sedrun, die Fraktionen Tschamut, Selva, Dieni, Rueras, Camischolas, Zarcuns, Gionda und Bugnei und am rechten Rheinufer Surrein und Cavorgia.
Mit 134 km2 ist Tujetsch flächenmässig gleich gross wie Ilanz/Glion und eine der grössten Gemeinden Graubündens. Ihr tiefster Punkt liegt bei Sedrun auf 1401 m.ü.M., der höchste beim Péz Tgietschen auf 3327 m.ü.M.
2019 zählte die Bevölkerung 1’207 Einw. Wirtschaftlich betrachtet lebt die Bevölkerung zu 6 % von der Landwirtschaft, zu 24 % von der Industrie und zu 70 % vom Dienstleistungssektor und dem Tourismus. (1)
Geschichtlich betrachtet verbanden mehrere Pässe das Tujetsch mit anderen Regionen, wobei die ersten vier auf der unten stehende Tabelle für den lokalen Verkehr (Viehhandel) und die beiden letzten für den Fernverkehr (Grosshandel, Pilgerfahrt) von Bedeutung waren.
Tabelle 1: Passwege und Passstrassen ab und nach Tujetsch
Pass Passhöhe Talort 1 Talort 2 Verbindung
(m.ü.M.)
_____________________________________________________________________________________
Chrüzlipass 2347 Amsteg UR (NW) Sedrun GR (SO) Saumpfad
Bornengopass 2631 Saumpfad
Lolenpass 2399 Saumpfad
Maighelspass 2420 Saumpfad
Oberalp (Wintersperre) 2044 Andermatt UR (W) Sedrun GR (O) Passstrasse
Lukmanier (ganzjährig) 1916 Disentis GR (N) Biasca TI (S) Passstrasse
Quelle: Wikipedia
Heute dienen die ehemaligen Saumpfade als Wander- und Bikerouten, während die beiden Passstrassen für den modernen Verkehr ausgebaut worden sind.
Die Passstrasse zum Oberalppass führt über Tschamut und wurde 1862-63 erbaut. 1911 begann die Errichtung der schmalspurigen, z.T. mit Zahnradantrieb versehenen Furka-Oberalp-Bahn. 1915 war die Gleislegung Andermatt-Disentis vollendet, doch wegen des Ersten Weltkrieges konnte der Betrieb erst 1926 aufgenommen werden. Seit der Elektrifizierung 1942 verkehrt die Bahn ganzjährig (im Winter Autoverlad), die Strasse bleibt im Winter geschlossen. (2)
Mitte des 19. Jh. bestanden Projekte für den Bau einer Eisenbahnlinie am Lukmanier, doch entschied sich der Bund 1869 für die Gotthardstrasse. 1872 wurde auf der Bündner Seite die neue Passtrasse mit den Galerien des Mompe Medel eröffnet; die Strasse auf der Tessiner Seite entstand 1874-77. In den 1960 und 1970er Jahren wurde die Strasse verbreitet und verbessert. Seit 2011 wird der Pass auch im Winter in der Regel offen gehalten. (3)
Früher lagen Tujetsch und die Nachbargemeinde Disentis/Mustér mit ihren Passverbindungen in die Innerschweiz im Herzen der Entwicklung der Eidgenossenschaft. Seit dem Bau moderner Strassen auf dem Talboden und die Aufgabe der hohen Wege sind diese Gemeinden zu Sackgassen degradiert worden. Es sind zwar rundum einige wichtige Nachbarorte erreichbar wie Andermatt, Visp oder Bellinzona, doch mit dem Privatwagen - dem Transportmittel schlechthin der Gebirgsbevölkerung - ist die Reisedauer zum Teil unzumutbar, ausser für Tourismuszwecke. So dauert eine PW-Fahrt im Winter von Sedrun nach Andermatt über zwei Stunden, weil der Weg über Biasca führt.
Am schnellsten mit dem PW erreichbar bleiben Ilanz/Glion (38 Minuten) und Chur (68 Minuten) im Osten; beide Orte liegen jedoch auch ausserhalb der allgemein angenommenen Pendlerzeit von 20 Minuten, die im Unterland gilt. Da die lokale Wirtschaft ausserhalb des Tourismusbranche wenig Perspektiven bietet, kann sich die Bevölkerung nur grösstenteils nach Osten orientieren, was die Handlungsmöglichkeiten der lokalen Behörden einschränkt.
In der Raumplanung hat jeder Strassen- oder Tunnelbau unmittelbare Konsequenzen auf den Verkehrsfluss und das Verhalten der Bevölkerung. Das war zum Zeitpunkt des grossen Strassen- und Eisenbahnbaus ab Ende des 19. Jh. der Fall, und - man staune - das ist heute noch der Fall seit der Eröffnung 2019 der Gondelbahn Sedrun - Cuolm da Vi mit der direkten Verbindung vom Skigebiet Disentis-Sedrun nach Andermatt.
Erkenntnis Nr. 1: Die ganzjährige Strassenverbindung über den Lukmanierpass, die Seilbahnverbindung über den Oberalppass und die veraltete Infrastruktur der Anlage haben den Autozug Andermatt - Sedrun verdrängt.
Die Frage der Rentabilität
In der Schweiz gibt es 5 Bahnstrecken mit Autozug: Lötscherg, Simplon, Furka, Oberalp und Vereina. Sie werden von den jeweiligen entsprechenden Bahnen operiert. Der Bund unterstützt diese mit Investitionsbeiträgen, in Einzelfällen subventioniert er auch den Betrieb.
Bei allen Autozugsanlagen und dem eingesetzten Rollmaterial stehen umfassende Modernisierungen an. Die Bahnen können die anstehenden Investitionen nur teilweise mit Eigenmitteln finanzieren. Für die prioritären Erneuerungsvorhaben hat das Parlament Ende 2018 einen Verpflichtungskredit in der Höhe von 60 Mio. Franken bewilligt. Der Bund subventioniert zudem beim Autozug der Matterhorn Gotthard Bahn (MGB) durch den Furkatunnel und über den Oberalppass auch den Betrieb mit jährlich rund 2,1 Mio. Franken. (4)
Damit wurde die Verbindung zwischen den Randgebieten Goms, Urserental und Surselva sichergestellt, die früher als anstrebenswert galt. Das ist nun Geschichte. Laut Medienmitteilung der MGB wird nach der Wintersaison 2022-23 „aufgrund der hohen notwendigen Investitionen und des bereits heute schlechten Kosten-/Nutzen-Verhältnisses (…) auf weitere Investitionen in den Autoverlad am Oberalppass verzichtet.“ (5)
Die Medienmitteilung offenbart auch Folgendes:
- Die Nachfrage für den Autozug der MGB hat sich in den vergangenen Jahren auf 2’100 Fahrzeuge pro Winter eingependelt.
- Ein Autoverlad mit der MGB kostet den Verbraucher 65 Franken, was einem Kostendeckungsgrad von 25 % entspricht. So habe die öffentliche Hand 2019 pro transportiertes Fahrzeug 200 Franken investieren müssen. Mit den anstehenden Investitionen würde dieser auf 15 % sinken, wobei die öffentliche Hand wiederum 350 Franken pro Fahrzeug beisteuern müsste.
Zum Vergleich, der Autozug zwischen Oberwald und Realp fördert jährlich 230’000 Fahrzeuge, derjenige der RhB zwischen Klosters und Sagliains transportierte 2018 482’000 Fahrzeuge. (6)
In seinem Protestbrief an das Bundesamt für Verkehr BAV räumt der Tujetscher Gemeindevorstand ein, dass die tiefen Frequenzen nicht verwunderlich seien: „Der Verlad sei wegen der ungünstigen baulichen Infrastruktur auf beiden Seiten nicht kundenfreundlich.“ (7)
Die Argumentation des Tujetscher Gemeindevorstandes ist begründet, zumal der Preis für eine Fahrt mit PW mit der MGB fast doppelt so hoch ist als auf der Vereinastrecke der RhB. Der Gemeindevorstand verlangt vom BAV, den Beschluss zur Einstellung des Autoverlads zu widerrufen.
Ich spiele nun kurz den advocatus diaboli: Wer macht schon wegen 2’100 Fahrzeugen einen Aufstand? Die Welt geht nicht unter, wenn der Autozug Andermatt-Sedrun eingestellt wird. Doch hier endet schon meine Rolle. Die Welt geht bestimmt nicht unter, aber die Tujetscher Welt schon, denn es geht hier nicht lediglich um 2’100 Fahrzeuge. Es geht ums Überleben der Talschaft, denn jeder Verzicht auf Infrastruktur, vor allem auf öffentliche Verkehrsmittel, lässt die Talschaft verarmen und leistet der Abwanderung Vorschub. Das ist es, was die Behörden in Bundesbern nicht begreifen. Es sei denn, sie würden still und heimlich die Landflucht absichtlich begünstigen.
Zugegeben, auch in Graubünden wurde in der Vergangenheit und in den alpinen Regionen im Allgemeinen nicht viel getan, um die Bevölkerung am Abwandern zu hindern. Die Städte lockten mit ihrer Diversität an Arbeitsstellen, Ausbildung, Konsum und kulturellen Angeboten, dass ihnen nicht beizukommen war. Heute, dank der Technologie sehen die Dinge anders aus.
Demografische Perspektiven in der Surselva
1850 zum Zeitpunkt der ersten Volkszählung zählte die Gemeinde Tujetsch 979 Einw. Bereits 1900 war sie auf 810 Einw. gesunken. Es folgte dann eine Wachstumsphase und 1950 stieg die Bevölkerung auf 1’122 Einw. 1960, anlässlich des Kraftwerksbaus im Val Alps und im Val Curnera mit Zentrale in Sedrun war mit 1’855 Einw. die Bevölkerungszahl am höchsten. Im Jahre 2000 wiederum schrumpfte sie wieder auf 1’525 Einw. (8) 2015 waren es nur noch 1’402 und 2019 1’207 Einw. Das bedeutet, dass allein im neuen Jahrtausend die Bevölkerung von Tujetsch um 21 % gesunken ist.
Abwanderung hat in Tujetsch eine lange Tradition. Laut Adolf Collenberg wanderten 1850 200 Personen in die USA und 119 nach Bayern aus. Hinzu kam im 19. Jh. der sogenannte Schwabengang. (9) Diese Dynamik steht im völligen Widerspruch zu den Schweizer und ausländischen Touristenmassen, die die Gemeinde für ihre Lage und ihren Ursprungscharakter schätzen und im Winter wie im Sommer aufsuchen. Das liegt daran, dass in der kurzen Zeit, die sie in Tujetsch verbringen, die Touristen auf nichts verzichten müssen. Und wenn doch, dann mit Absicht, Verstand und einem Touch Romantik.
Apropos Zweitwohnungen: Wie viele gibt es in der Surselva?
Tabelle 2: Stand Erst- und Zweitwohnungen (2015)
Gemeinde Anzahl Erstwohnungen Anzahl Zweitwohnungen
____________________________________________________________________________________
Andiast 175 keine Angabe
Breil/Brigels keine Angabe keine Angabe
Disentis/Mustér keine Angabe keine Angabe
Falera keine Angabe keine Angabe
Ilanz/Glion 2037 keine Angabe
Laax 789 3041
Lumnezia 917 1116
Medel (Lucmagn) 148 178
Obersaxen Mundaun 618 keine Angabe
Safiental 409 keine Angabe
Sagogn keine Angabe keine Angabe
Schluein keine Angabe keine Angabe
Sumvitg 550 175
Trun 511 144
Tujetsch 610 1100
Vals ca. 500 ca. 450
Vuorz 175 160
Quelle: La Quotidiana, Regiun Surselva
Leider liegen Angaben für die Hälfte der Gemeinden nicht vor. Dennoch ist die Tabelle aussagekräftig und repräsentativ für Graubünden und viele Gebirgskantone. Angesichts der anhaltenden Abwanderung kommt man nicht darum herum, die Nachhaltigkeit der Bauindustrie zu hinterfragen. Mehr noch, man macht sich Vorwürfe: Hätte man doch anstelle der Zweitwohnungen Wohn- und Arbeitsraum für die Einheimischen geschaffen, stünden wir vielleicht heute besser da.
Tatsächlich, wenn jede Zweitwohnung nur zwei Personen beherbergen würde, und diese das ganze Jahr hindurch in Tujetsch wohnen würden, würde die Bevölkerung bei rund 2’800 Einw. liegen; rechnet man mit vier Personen pro Zweitwohnung würde sie auf rund 5’600 Personen ansteigen. Das wären 16 % mehr als die aktuelle Bevölkerungszahl von Ilanz/Glion, einem Städtchen, das für Bündner Verhältnisse eine recht diversifizierte Wirtschaft aufweist. Man stelle sich vor, was mit einer derartigen Bevölkerungszahl in Tujetsch mit der heutigen Technologie möglich wäre…
Doch die aktuellen Zahlen sprechen eine andere Sprache. Die unten stehende Tabelle zeigt die Bevölkerungsprognose für die Gemeinden der Region Surselva bis 2040.
Tabelle 3: Prognosen der Bevölkerungsentwicklung der Region Surselva bis 2040
Gemeinde 2016 2030 Diff. 2040 Diff.
(Einw.) (Einw.) (%) (Einw.) (%)
___________________________________________________________________________________
Breil/Brigels 1590 1619 2 1648 4
Disentis/Mustér 1988 1997 0 1946 -2
Falera 567 631 11 688 21
Ilanz/Glion 4268 4566 7 4768 12
Laax 1659 2171 31 2094 26
Lumnezia 1790 1597 -11 1399 -22
Medel (Lucmagn) 358 300 -16 262 -27
Obersaxen Mundaun 979 1040 6 1019 4
Safiental 576 584 1 621 8
Sagogn 680 764 12 830 22
Schluein 488 603 24 666 36
Sumvitg 1107 1025 -7 950 -14
Trun 1077 993 -8 918 -15
Tujetsch 1195 1128 -6 1224 2
Vals 896 962 7 1103 23
Quelle: Amt für Raumentwicklung Graubünden (ARE)
Was fällt hier auf?
- Am stärksten wachsen dürften die grösseren Tourismusdestinationen (Laax, Vals, Falera) und die Gemeinden, die in angemessener Reichweite des Autobahnanschlusses liegen (Ilanz/Glion, Schluein, Sagogn).
- Je weiter nach Westen sich die Gemeinden befinden, desto mehr dürften ihre Bevölkerungszahlen schrumpfen.
- Am stärksten nimmt die Bevölkerung der Gemeinden der Seitentälern ab (Medel, Lumnezia, Sumvitg).
- Im Fall von Tujetsch und Disentis/Mustér zeichnet sich kein eindeutiger Trend ab (+ 2 %/ - 2 %).
Erkenntnis Nr. 2: Die Bevölkerung von Tujetsch und Disentis/Mustér dürfte sich langfristig auf einem tiefen Niveau stabilisieren. Gefragt sind Anstrengungen, um diesen Trend beizubehalten bzw. zum Wachstum zu verhelfen.
Ob das Wirtschaftspotenzial der SkiArena Andermatt+Sedrun+Disentis in der Prognose einkalkuliert ist? Ausgeschöpft ist dieses Potenzial momentan jedoch nicht. Doch um neue BewohnerInnen zu gewinnen, muss zahlbarer Wohn- und Arbeitsraum geschaffen werden. Das ist im ganzen Kanton Mangelware und Hauptursache für fehlende Wirtschaftsperspektiven und Abwanderung.
Das Baupotenzial in der Surselva
Im Schlepptau von „Raumkonzept Schweiz“ von 2012 (10) müssen die Kantone und die Gemeinden eine kantonale bzw. Gemeinderaumplanung entwicklen und in regelmässigen Abständen überprüfen.
Das Raumkonzept Schweiz lässt den Gebirgskantonen - im Bericht „Alpine Handlungsräume“ genannt - wenig Handlungsfreiheit. Von ihnen wird erwartet, dass sie ihren Beitrag zum Bruttoinlandprodukt leisten, indem sie einen möglichst umweltfreundlichen Tourismus betreiben, die Landschaft pflegen und zur Erhöhung der Biodiversität beitragen. Eine Vision, wie sich die Bergkantone wirtschaftlich weiter entwickeln könnten, sucht man in dem Dokument vergeblich.
Ich wollte wissen, ob die Gemeinden der Surselva noch Potenzial haben, um sich baulich zu entwicklen. Die unten stehende Tabelle zeigt auf, wieviel Raum in den Gemeinden der Surselva noch verfügbar ist.
Tabelle 4: Überbauungsgrad der Gemeinden der Surselva in Prozent
Gemeinde Zentrums- Wohn- Misch- Arbeits- Weitere
zonen zonen zonen zonen Zonen
_____________________________________________________________________________________
Breil/Brigels 89 85 62 86 79
Disentis/Mustér 81 78 73 63 70
Falera 94 86 91 - 36
Ilanz/Glion 82 75 71 82 80
Laax 96 82 87 91 63
Lumnezia 81 77 88 70 63
Medel (Lucmagn) 85 65 - 93 94
Obersaxen Mundaun 84 82 85 48 50
Safiental 82 55 - 70 86
Sagogn 83 83 - 91 26
Schluein 92 75 82 68 77
Sumvitg 80 60 76 60 47
Trun 83 72 85 86 69
Tujetsch 82 69 - 33 45
Vals 84 74 67 74 70
Quelle: Amt für Raumentwicklung Graubünden (ARE)
Erkenntnis Nr. 3: Wenn diese Zahlen heute noch annähernd stimmen, ist das Baupotenzial der Gemeinden der Surselva z.T. bei weitem nicht ausgeschöpft. Am ausgeprägten ist diese Feststellung in der Gemeinde Tujetsch.
Fazit und Schlussfolgerung
Rentabilität ist das höchste Gebot der Wirtschaft. Sinkt sie unter eine gewisse Schmerzgrenze, wird ein Unternehmen, ein Produkt, eine Dienstleistung aufgegeben, meistens sogar ersatzlos gestrichen. Die Endverbraucher sollen selber dafür sorgen, wie sie zurechtkommen.
Im Fall des Autozugs Andermatt-Sedrun betrifft der Verzicht etwas über 2’000 Endverbraucher pro Jahr - eine aus wirtschaftlicher Sicht vernachlässigbare Menge, für einen strukturschwachen Gebirgskanton jedoch ein erheblicher Verlust. Der Bund täte gut daran, seine Verzichtsplanung zu überdenken und Hand für eine konstruktive Lösung zu bieten.
Wenn die Wirtschaft am Ende ihres Lateins ist, ist spätestens dann strategisches und geopolitisches Denken gefragt. Ein kleinräumiger Staat wie die Schweiz muss jeden Winkel seines Territoriums nicht nur wirtschaftlich nutzen, sondern vor allem auch beherrschen. Das geschieht dort, wo es topografisch und geologisch möglich ist durch die Errichtung von Infrastruktur und Wohnsiedlungen; wo nicht, durch gezielte Überwachungs- und Kontrollmassnahmen. Jeglicher Verzicht auf Infrastruktur in einem bewohnten Raum bedeutet ipso facto wirtschaftliche und gesellschaftliche Verarmung und ist in der Schweiz im 21. Jh. unter aller Würde.
Tujetsch und die Bündner Gemeinden an der Peripherie im Allgemeinen täten gut daran, Anreize zu schaffen, um ihre Bevölkerungszahl zu erhöhen. Voraussetzung dafür ist vorhandener, zahlbarer Wohnraum und Arbeitsplätze in angemessener Nähe. Eigentlich ist es Aufgabe der Privatwirtschaft, solche Rahmenbedingungen zu schaffen, aber die sieht in den Peripheriegemeinden keinen finanziellen Anreiz dazu. Also müssen Kanton und Gemeinde aktiv werden, BauherrInnen werden, innovative Unternehmen anziehen und am Ende der Wertschöpfungskette die Mieten und die Steuern einkassieren.
Viel Platz ist in Graubünden unvernünftig verbaut worden und diese Situation lässt sich nun nicht mehr rückgängig machen. Aber parallel dazu oder anstelle vom Bauen könnten die Gemeinden zum Verkauf stehende Wohnobjekte zurückkaufen - wegen der Coronakrise werden es womöglich einige sein - und als zahlbaren Wohnraum für die Bevölkerung zur Verfügung stellen.
Kanton und Gemeinden sollten günstige Voraussetzungen für eine dauerhafte Besiedlung und Wirtschaftsperspektiven schaffen und die wenige Handlungsfreiheit, die die Raumplanung noch lässt, unbedingt ausnützen.
Vernachlässigt der Staat Teile seines Territoriums, kommt es unter Umständen zu einem politischen Machtvakuum, das von anderen Akteuren dankend infiltriert werden kann. Ironischerweise könnten es im besten Fall Wildtiere sein. Doch leere Räume haben auch den schlechten Ruf, wilde Deponien oder illegale Händler anzuziehen.
Virginia Bischof Knutti©03.03.2021.
Quellen:
- Tabelle 1: Passwege und Passstrassen ab und nach Tujetsch, Wikipedia Commons
- Tabelle 2: Stand Erst- und Zweitwohnungen (2015), La Quotidiana und Regiun Surselva, Surselva - nossa patria - unsere Heimat, Festschrift zum 20-Jahr-Jubiläum der Zeitung „La Quotidiana“ und zum 50-Jahr-Jubiläum der „Regiun Surselva“, Somedia Buchverlag 2017, S. 116-164.
- Tabelle 3: Prognosen der Bevölkerungsentwicklung der Region Surselva bis 2040, Amt für Raumentwicklung Graubünden, KRIP-S, Richtplandokumente, https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dvs/are/dienstleistungen/richtplanung/Seiten/KRIP-S.aspx, gesichtet am 03.03.2021.
- Tabelle 4: Überbauungsgrad der Gemeinden der Surselva in Prozent, La Quotidiana und Regiun Surselva, Surselva - Bossa patria - unsere Heimat, Festschrift zum 20-Jahr-Jubiläum der Zeitung „La Quotidiana“ und zum 50-Jahr-Jubiläum der „Regiun Surselva“, Somedia Buchverlag 2017, S. 116-164.
- GRimpuls, Gemeinden, https://www.grimpuls.ch/zahlen_fakten/gemeinden/tujetsch.
- Jürg Simonett, Oberalppass, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29.04.2010, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008814/2010-04-29/.
- Sonia Fiorini, Lukmanierpass, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 31.05.2012, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008812/2012-05-31/.
- Bundesamt für Verkehr BAV, https://www.bav.admin.ch/bav/de/home/verkehrsmittel/eisenbahn/autoverlad.html, gesichtet am 02.03.2021.
- BVZ Hlding AG, Winterautoverlad am oberalppass wird ab Frühjahr 2023 eingestellt, HOLDING AG, Bundesamt für Verkehr BAV, Autoverlad, https://www.bvzholding.ch/de/medien/medienmitteilungen/detail/?tx_cs2news_cs2newsplugin%5Bcontroller%5D=News&tx_cs2news_cs2newsplugin%5Buid%5D=120&cHash=9650e886624f860ef5badd543bc5abc1.
- Rhätische Bahn, Vereine - Zügig durch de Berg, https://www.rhb.ch/fileadmin/user_upload/redaktion/Ueber_die_RhB/Medien/Dokumente/Medienmitteilungen/Medienmitteilungen_2019/20191028_Faktenblatt_Vereina.pdf.
- Südostschweiz Online, Tujetsch protestiert beim Bund, https://www.suedostschweiz.ch/politik/2021-03-02/tujetsch-protestiert-beim-bund.
- Adolf Collenberg, Tujetsch, in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.11.2013, https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/001618/2013-11-05/.
- Ibid.
- Schweizerischer Bundesrat, Konferenz der Kantonsregierungen, Schweizerische Bau-, Planungs- und Umweltdirektoren-Konferenz, Schweizerischer Städteverband und Schweizerischer Gemeindeverband, Raumkonzept Schweiz, überarbeitete Fassung, Bern, 20.12.2012, https://www.are.admin.ch/are/de/home/raumentwicklung-und-raumplanung/strategie-und-planung/raumkonzept-schweiz.html.
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