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Trinkwasser- und Pestizidinititive

Die geopolitischen Hintergründe

Am 13. Juni 2021 stimmt das Schweizer Stimmvolk über sechs Vorlagen, darunter die Trinkwasser- und Pestizidinitiative, ab.  

Kurz gesagt verlangen beide Initiativen, dass zum Schutz der Trinkwasserqualität, Steuergelder für die Landwirtschaft nur den LandwirtInnen zugutekommen sollen, die ohne Pestizide und ohne prophylaktisch eingesetzte Antibiotika wirtschaften.

Vielen BürgerInnen dürfte die Forderung nicht nur vernünftig, sondern auch notwendig erscheinen. Denn wer kann schon gegen sauberes Trinkwasser sein? Und wer will nicht ein Wörtchen zum Einsatz von Steuergeldern mitreden?  Bei solchen Initiativen übersehen aber die BürgerInnen oft, was wirklich auf dem Spiel steht.  

Beide Initiativen sind Ausdruck der zunehmenden Bedeutung neuer ökologischer Prioritäten gegenüber dem vorherrschenden Wirtschaftswachstum. Sie offenbaren eine tiefgreifende Raumplanungskrise, die sich seit den 1980er Jahren in allen Industrieländern bemerkbar macht und als geopolitisch eingestuft werden kann. 

Der Begriff mag vielleicht überraschend erscheinen, da er gewöhnlich im Zusammenhang mit internationalen Konflikten steht. In diesem Fall gibt es keine sichtbare Gewalt, wohl aber Manöver hinter den Kulissen und Lobbying.  Die Methoden erscheinen zwar friedlicher, aber am Ende geht es immer um Macht und Einfluss.

Um die Hintergründe der Initiative aufzudecken, muss man sie in den geopolitischen Kontext versetzen und zwei Schlüsselelemente untersuchen:  die Territorialisierung der politischen Debatte über die Raumplanung und den Gebrauch des allgemeinen Interesses, und zwar auf  lokaler/regionaler, nationaler und europäischer bzw. Weltebene. 

Ich werde versuchen, Fragen zu beantworten wie: Welche Akteure sind am Werk? Welche Strategie benutzen sie und was ist ihr Endziel?

 

Die geopolitische Dimension der Raumplanung

Das Besondere an dieser Raumplanungskrise ist, dass sie Dinge verbindet, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben und auf der ganzen Welt am Werk sind: die Globalisierung, die Klimaerwärmung, die Coronapandemie, die Migration, die Wohnungskrise in den Grossstädten, die Verödung von den ländlichen Gebieten und die Abwanderung aus dem ländlichen Raum bzw. Alpenraum usw. 

 

Dabei sind die Fragen, die sie aufwirft, eindeutig politischer Natur: Welche Macht hat (noch) die öffentliche Hand bei der Raumplanungspolitik? Welche Rolle kommt zunehmend anderen Akteuren der Wirtschaft oder der Zivilgesellschaft zu? Welchen Inhalt und welche Prioritäten soll heute die Raumplanung verinnerlichen? Wie werden die Investitionen zwischen den verschiedenen geografischen Gebieten verteilt? Was soll aus verödeten und entleerten Gebieten werden?

 

Oder konkreter: Wenn sich Tierschützer und Viehhalter über die Einführung von Wölfen im Alpenraum gegenüberstehen, geht es hier um Raum und Raumnutzung und um die Kontrolle darüber - also um lokale Geopolitik. Mit der brennenden, unvermeidlichen Frage: Wer soll über den betroffenen Raum bzw. das Territorium entscheiden? Die unmittelbaren EinwohnerInnen, die mehrheitliche Mittellandbevölkerung, die bestorganisierten AktivistInnen, die lautesten Protestierenden? Kurz: Wofür und für wen soll das Territorium bzw. den Raum genutzt werden? 

 

Man kann davon ausgehen, dass diese Territorialisierung der politischen Debatte, die bereits in den 1980er Jahren begonnen hat, ein dauerhaftes Phänomen bleiben wird, zumindest solange die Verschärfung der Klimakrise zu keinem neuen, umsetzbaren Konsens führt. 

 

Die Akteure sind nicht Armeen, sondern Grosskonzerne, Unternehmen, Handelskammern, Berufsverbände, NGOs und dergleichen. Die Verwendungszwecke sind sehr vielfältig - Wohnen für die Anwohner, Wirtschaftlichkeit für die Unternehmen und die politischen Amtsträger, aber alle sind Konkurrenten und deren Ziele oft unvereinbar. Denn Raumplanung ist nunmal eines der wichtigsten Mittel, um die Fülle an gesellschaftlichen Problemen zu lösen. 

 

Der dehnbare Begriff des allgemeinen Interesses

Jeder Konflikt, jede Debatte über eine umfassende Raumplanung bietet die Gelegenheit, das allgemeine Interesse, seinen Inhalt und die gesellschaftlichen Prioritäten, die damit verbunden sind, neu zu definieren und zu diskutieren. 

 

Ursprünglich ist das allgemeine Interesse ein philosophischer, rechtlicher und politischer Begriff. Ohne sich auf das allgemeine Interesse zu stützen, kann die öffentliche Hand gar nicht handeln. Denn nur das allgemeine Interesse rechtfertigt die Abweichung vom Grundsatz der Achtung des Privateigentums. Daher wird öfters mit dem Begriff des allgemeinen Interesses argumentiert und Ansichten gegeneinander gestellt. Doch das allgemeine Interesse ist kein in den Stein gemeisselter Begriff. Auch er wird den zeitlichen, örtlichen und politischen Bedürfnissen angepasst.

 

Wo liegen heute die Prioritäten? Beim allgemeinen ökologischen Interesse oder beim allgemeinen wirtschaftlichen Interesse? Beim Wachstum und Schaffung/Erhaltung von Arbeitsplätzen oder beim Naturschutz? Und überhaupt: Soll das allgemeine Interesse weiterhin auf der geografischen Ebene eines Staates (das sogenannte nationales Interesse) oder soll es auf europäischer oder gar auf globaler Ebene angewendet werden? Zum Beispiel soll in Europa darüber entschieden werden, ob und wie das Amazonasgebiet bewirtschaftet werden soll?

 

Es ist nicht zu übersehen, dass die Frage des allgemeinen Interesses weitgehend zu einer Frage des Standpunktes geworden ist. In Wirklichkeit ist sie zu reiner Ideologie geworden, die im Interesse der jeweiligen Akteure eingesetzt wird. Jeder wird „allgemeines Interesse“ nennen, was sowohl seinen Überzeugungen, seiner Kultur, seinen Werten, den Vorstellungen, die er vertritt oder die ihm zugrunde liegen, entspricht.

 

So entwickelt sich die Ökologie sowohl als wissenschaftliches Korpus als auch als Ideologie, als politische und militante Strömung, die weite Teile der Bevölkerungen durchdringt. Die Unterstützung, die die umweltbewussten Thesen in der Öffentlichkeit finden, ist jedoch nicht ohne Widersprüche. Die volkstümliche Umweltfreundlichkeit, die von der mehrheitlich urbanen Bevölkerung geteilt wird, beruht zweifellos auf einer idealisierten Darstellung dessen, was Natur ist. In Bezug auf die vorliegenden Initiativen ist das Wasser, wie es in der Natur vorkommt, nie rein. 

 

Nun wie wirken sich die geopolitische Dimension der Raumplanung und das vermittelte allgemeine Interesse auf den drei Ebenen aus?

 

Erste Ebene: lokal/regional

Das erklärte Ziel der Initianten ist reines Trinkwasser. Wie steht es mit dessen Qualität? 

 

Der Schweizer Verein des Gas- und Wasserfaches SVGW beurteilt die Qualität des Trinkwassers als „sehr gut“, räumt aber ein, dass im Grundwasser zunehmend Pestizide und andere Fremdstoffe vorkommen. Handlungsbedarf wird durchaus anerkannt, doch die Trinkwasserinitiative lehnt der VSGW ab, unter anderem mit folgender, ernüchternden Begründung: „Nicht einmal Bio-Betriebe würden der Initiative genügen.“ Stattdessen empfiehlt er dem Bundesrat einen Gegenvorschlag mit Priorität auf eine bessere geografische Planung der Schutzzonen und eine Reduzierung  der Fremdstoffeinträge. (1) Doch der Bundesrat geht auf den Gegenvorschlag nicht ein und hält an seiner Agrarpolitik 22 fest, die ohnehin auf eine Halbierung des Pestizideneinsatzes zielt.

 

Also wenn Fachmänner die Wasserqualität als einwandfrei erachten, kann es nicht primär um Wasserqualität gehen. Worum geht’s denn?  Es macht den Eindruck, als ob das wahre Ziel der Initianten ganz woanders liegt. 

 

Ein Artikel in Le Monde diplomatique von April 2021 hat meine Aufmerksamkeit erregt: Deux mondes qui s’ignorent. Er schildert die Entwicklung von konventionellen und Biobauern in der französischen Bretagne. Die Ersten, an den Zwang des Ertrags gekettet, von Zweitwohnungen umringt und wegen ihrer umweltschädlichen Praktiken an den Pranger gestellt, beobachten mit Bestürzung den Erfolg der Zweiten, die sich dem Bioanbau, dem Direktverkauf und der kurzen Lieferketten zugewandt haben. 

Ich kann nicht widerstehen, einige Aussagen von interviewten konventionellen Bauern ins Feld zu führen: 

 

Wenn ich meinen Mist transportiere, muss ich einen grösseren Umweg machen, um nicht das Dorf zu durchqueren. Die Leute beschweren sich über den Geruch und beleidigen uns. Jetzt gibt es neue Traktoren, die LEDs eingebaut haben, um dies nachts zu tun…

 

Touristen fahren nicht gern hinter grossen Traktoren, die den Geruch des von ihnen transportierten Mistes austreten lassen. Entnervt, mit Hupen und Fluchen versuchen sie, wertvolle Minuten am Strand zu retten.“

 

Wir Bauern dürften nicht unentbehrlich sein, denn wir verdienen fast nichts.“ (2)

 

Ich dachte zuerst, die Aussagen träfen nur auf Frankreich zu. Ein Blick auf die Website des Bundesamtes für Landwirtschaft BLW zeigt auf, dass die Schweizer LandwirtInnen nicht besser gestellt sind, sogar beim eigenen Bundesamt. Urteilen Sie selbst: 

„Rülpsende Kühe, duftende Gülle, Feinstaub aus Dieselmotoren, Gase, die bei der Nutzung des Bodens entweichen - die Landwirtschaft weist eine Vielzahl an Quellen für Emissionen aus.“ (3)

 

Kein Wirtschaftszweig, nicht einmal die Korruption, wird so behandelt wie die Landwirtschaft. Hier ein Beispiel des Sekretariats für Wirtschaft SECO über Korruptionsbekämpfung: 

 

Schweizer Unternehmen sind sich der Illegalität von korruptem Verhalten im In- und Ausland bewusst. Im Falle von Schmiergeldangeboten sind sie manchmal hilflos.“ (4) 

 

Fakt ist, die bäuerliche Welt wird immer schwächer, einerseits weil sie nun mehr eine kleine Minderheit darstellt und andererseits, weil die Landwirtschaftspolitik sie zu zahlreichen internen Restrukturierungen gezwungen hat, sodass sie nun praktisch am Boden liegt. 

 

Doch wenn die Landwirtschaft im Visier der Initianten ist, was ist der Grund dafür? Den finden wir, indem wir die zweite Ebene analysieren. 

 

Zweite Ebene: national

Für die Analyse dieser Ebene werde ich mich auf ein Dokument des Bundesamtes für Statistik BFS „Landwirtschaft und Ernährung“ (5) aus dem Jahr 2018 stützen. Es zeigt auf, wie viele Opfer die Landwirtschaft unter dem Einfluss der Agrarpolitik des Bundes bereits gebracht hat: 

 

  • Die Fläche nimmt ab: Zwischen 1985 und 2009 gingen 850 km2 verloren, was der Grösse des Kantons Jura entspricht. 
  • Die Anzahl Landwirtschaftsbetriebe nimmt ab: Sie ging von 111’300 Betrieben im Jahr 1975 auf 51’600 im Jahr 2017 zurück. 2017 bewirtschaftete ein Betrieb im Schnitt mehr als doppelt so viel Fläche wie 1975. Dabei machen die Biobetriebe 2017 einen Anteil von 13 % aller Landwirtschaftsbetriebe aus. 
  • Der Rindviehbestand nimmt ab: Er verringerte sich zwischen 1997 und 2017 um 8 %. Allerdings nimmt der Hühnerbestand weiterhin zu, wie folgende Tabelle zeigt. 

 

Tabelle: Tierische Produktion (in tausend Tonnen)

 

Fleisch                                 2006                     2011                     2016

____________________________________________________________________________________        

 

Rindvieh                                135                      144                       144

Schweine                               244                      249                       239

Schafe                                       6                          5                           5

Geflügel                                   52                        73                         91

Kuhmilch                             3932                    4177                     3957

Hühnereier                              36                         44                         54

 

Quelle: SBV - Vielwirtschaft

 

  • Das Gesamteinkommen pro Landwirtschaftsbetrieb nimmt ab: Zwischen 1990 und 2017 nahmen die Einnahmen um 1,5 Milliarden Franken (- 10 %) ab. Zudem veränderte sich die Zusammensetzung: Der Staat senkte die Preisunterstützung für Agrargüter und richtete vermehrt Direktzahlungen aus. Die Ausgaben sanken um 0,3 Milliarden Franken (- 2 %). Das Einkommen, das Arbeit und Eigenkapital aller selbständigen Bauernfamilien entgeltet, verringerte sich um 27 %. 
  • Der Konsum von Milch und Milchprodukten nimmt ab: Zwischen 2010 und 2015 nahm der Konsum von Trinkmilch um 18% und von Käse um 9% ab. 
  • Der Treibhausgas-Fussabdruck der Landwirtschaft nimmt ab: Langfristig betrachtet ist der Stickstoffüberschuss auf der Landwirtschaftsfläche (inklusive Alpweiden) rückläufig. Gemäss Stickstoffbilanz resultierte 2015 ein Überschuss von 60 kg/ha. In den 1990er-Jahren betrug er noch über 80 kg/ha und Jahr. 

 

Man könnte meinen, die Landwirtschaft habe somit ihre Hausaufgabe gemacht und könne sich nun auf niedrigem Niveau konsolidieren. Doch weit gefehlt! Es gibt eine Reihe von Faktoren, die die Landwirtschaft weiterhin nach unten treibt. Aus derselben Quelle entnehmen wir Folgendes: 

 

  • Die Nahrungsaufnahme im Allgemeinen und der Konsum von Fleisch im Besonderen nehmen zu: In der Schweiz betrug die Nahrungsmittelversorgung nach Energie 2015 12’900 Kj (oder 3’086 Kcal) pro Person und Tag, Verluste (z.B. unverkaufte oder verdorbene Nahrungsmittel) mitgerechnet. Der Zielbereich für die tägliche Energiezufuhr einer erwachsenen Person liegt bei 7’500 - 10’500 Kj (1’794 - 2’511 Kcal) pro Person und pro Tag. Pro Person wurde 2015 rund 865 kg Nahrungsmittel verbraucht, 544 kg waren pflanzlichen und 322 kg tierischen Ursprungs. 
  • Die Konsumausgabe der Schweizer Haushalte für Nahrungsmittel ist tief: Die Schweizer Haushalte gaben 2015 rund 12 % ihres Budgets, bzw. durchschnittlich 1’200 Franken pro Monat für Ernährung inklusive Mahlzeiten und Getränke in Gaststätten aus. Zum Vergleich, in der EU wurden 2015 durchschnittlich 25 % der gesamten Konsumausgaben für Ernährung ausgegeben. Fleisch war in der Schweiz mit rund 132 Franken pro Monat der grösste Ausgabenposten für Nahrungsmittel.

 

Es verdichtet sich der Verdacht, dass die Initianten viel mehr das Konsumverhalten der Bevölkerung im Visier haben als die Praktiken der Landwirtschaft. Doch die Bevölkerung kriegt man nicht so leicht rum. Denn von ihr wird viel erwartet, wie die Analyse der dritten Ebene aufzeigt.  

 

Dritte Ebene: international

Hier geht es darum, den gesamten internationalen Kontext vor Augen zu haben. Ich liste hier zwölf kurze „Lektionen“ über Fleisch und die Welt, die im „Fleischatlas 2021“ (6) erschienen sind: 

 

  1. Die globale Fleischproduktion wächst. Doch Klima und Biodiversität können nur geschützt werden, wenn die Industrieländer ihren Fleischkonsum halbieren. 
  2. Je mehr Wälder für Futtermittel gerodet werden, desto mehr schrumpfen die Lebensräume der Wildtiere. Der Kontakt zwischen Menschen und Tieren wird enger - das begünstigt die Übertragung von Viren und die Entstehung neuer Pandemien. 
  3. Der Strukturwandel in der Landwirtschaft geht weiter. Wenige Betriebe - die ihre Tiere unter industriellen Bedingungen halten - wachsen noch.
  4. Der Einsatz von Antibiotika in der Tierhaltung führt zu immer mehr resistenten Keimen. Dies bedroht die Wirksamkeit von Antibiotika, einem der wichtigsten Mittel der Humanmedizin. 
  5. Die führenden Anbauländer von Futtermitteln gehören zu den grössten Anwendern von Pestiziden - zum Schaden von Grundwasser und Biodiversität. 
  6. Die fünf grössten Fleisch- und Mischkonzerne emittieren genauso viele klimaschädliche Gase wie Exxon, der grösste Ölmulti der Welt. 
  7. Moorflächen wurden häufig für die Tierhaltung genutzt. Würde die EU 3 % ihrer agrarisch genutzten Moorflächen wieder vernässen, könnte sie ein Viertel der klimaschädlichen Emissionen aus der Landwirtschaft einsparen. 
  8. Unsere Gewohnheiten, Rollenbilder und die Werbung sowie gesellschaftliche Traditionen regen zum Fleischessen an. Die Ernährungsindustrie profitiert vom Status quo. 
  9. Viele junge Menschen in Deutschland haben eine kritische Haltung zum Fleischkonsum. Drei Viertel lehnen die heutige Fleischproduktion ab. 
  10. Junge Menschen ernähren sich doppelt so häufig vegetarisch und vegan wie der Durchschnitt der Bevölkerung. Viele sehen Ernährung nicht nur als etwas Individuelles, sondern wollen, dass der Staat stärker eingreift. 
  11. Der Markt für Fleischersatzprodukte wächst schnell. Ein grosser Teil der jungen Konsumentinnen und Konsumenten findet, dass sie gut schmecken. 
  12. Trotz der globalen Auswirkungen hat kein Land der Welt eine Strategie zur Senkung des Fleischkonsums. Dabei können Regierungen durch Gesetze und finanzielle Anreize wichtige Beiträge dazu leisten. 

 

Eigentlich enthält Obiges nichts Verwerfliches an sich. Mit wahren Argumenten könnte man die Bevölkerung auch zu einem Umdenken in Sachen Fleischkonsum führen. Stattdessen greifen die Initianten einen ganzen Berufsstand an, inklusive BiolandwirtInnen. Denn Bio und kurze Lieferketten schützten nicht vor fragwürdiger Tierhaltung und unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Um es auf den Punkt zu bringen, zitiere ich erneut einen französischen konventionellen Bauern: „Es gibt auch in der Bretagne Bio-Betriebe mit 4’000 Kühen.“ (7)

 

Fazit und Schlussfolgerungen

So wie ich die Lage einschätze, gaukeln die Trinkwasser- und Pestizidinitiativen dem Schweizer Stimmvolk vor, für eine bessere Trinkwasserqualität zu kämpfen und stellen einen ganzen Berufsstand an den Pranger. Das bevorzugte Argument auf beiden Seiten scheint in der Entwicklung der Preise für Lebensmittel zu liegen. Die einen argumentieren mit Preiserhöhungen, die anderen mit Preissenkungen. Doch das ist nicht das Wesentliche. 

 

Das Wesentliche ist der übermässige Fleischkonsum in der Schweizer Gesellschaft. Dabei wäre eine Reduzierung ein durchaus legitimes Ziel. Es scheint, als ob die Initianten die Kommunikation scheuen und lieber auf eine indirekte Strategie setzen. Da die Landwirtschaft ohnehin von einem schlechten Nimbus umgeben ist, machen die Initianten mehr Druck, nicht auf die Bevölkerung, auch nicht auf die mächtige Nahrungsindustrie, sondern auf die ohnehin schon geschwächten konventionellen LandwirtInnen, um am Ende die Bevölkerung zu einem Umdenken zu verleiten. Diese Bauern und Bäuerinnen und ihre Kühe werden dämonisiert und an den Pranger gestellt. Viele halten dem Druck nicht stand und geben auf.  Wird der Bauernbestand nochmals halbiert, steigt das schlechte Gewissen der Fleischesser, halbiert sich ipso facto der Fleischkonsum, so dürften die Initianten spekulieren. 

 

In einer Demokratie setzt sich der Wille der Mehrheit durch. In der Schweiz leben über 75 % der Bevölkerung im Mittelland. Damit fühlen sich viele legitimiert, Entscheidungen zu fällen, die Minderheiten stark einschränken. Das ist der Fall dieser beiden Initiativen, die den LandwirtInnen im Allgemeinen und den BerglandwirtInnen im Besonderen, Verbote und Vorschriften auferlegen, nachdem diese einen Drittel der Schweiz während Jahrhunderte nutzbar gemacht haben.   

 

Für die Bergbauern sind die Folgen einer Annahme der Initiativen schwerwiegender als im Unterland, denn im Berggebiet ist die Rentabilität nur in den seltensten Fällen zu erreichen. Die Anzahl Tiere dem eigen erwirtschafteten Futter anzugleichen, bedeutet das Eingehen der meisten Betriebe.

 

Ich überzeichne ein bisschen, aber mir scheint, als  ob die Landwirtschaft der Grund aller Übel dieser Welt darstellt oder zum dankbarsten Prügelknabe einer frustrierten Gesellschaft geworden wäre. Und dies, wohl bemerkt, in einer Zeit, wo noch nie so viel Fleisch konsumiert wurde.

 

Die Initianten bedienen sich der Raumplanung, um die Landwirtschaft umzugestalten und appellieren an das allgemeine Interesse, um die Qualität des Trinkwassers zu schützen, statt auf die wahren Ziele zu setzen, nämlich eine Änderung der Essengewohnheiten der Bevölkerung. Doch die macht erst Sinn, wenn sie auch global angewendet wird. Ein grosser Umbruch seht uns bevor, selbst wenn die Initiativen abgelehnt werden. 

 

Virginia Bischof Knutti©28.04.2021

 

Quellen

  • Bild: Landschaft, Wirtschaft, Traditionen, Fleischverbrauch nach Ländern und Wirtschaftsleistung, pro Kopf, 2017, aus: Fleischatlas 2021, unter Lizenz CC BY.4.0.
  • Tabelle: Tierische Produktion (in tausend Tonnen), Schweizer Bauernverband SBV, aus: Bundesamt für Statistik BFS, Landwirtschaft und Ernährung, Taschenstatistik 2018, Neuchâtel, S. 10.
  1. Schweizerischer Verein des Gas- und Wasserfaches SVGW, „Trinkwasserinitiative“ SVGW fordert pragmatischen und zielführenden indirekten Gegenvorschlag, Positionspapier, 20.03.2018, https://www.svgw.ch/de/shopregelwerk/produkte/positionspapier-trinkwasserinitiative/.
  2. Deux mondes paysans qui s’ignorent, En Bretagne, l’agriculture conventionnelle face au bio, in: Le Monde diplomatique, avril 2021, Übersetzung durch die Autorin.
  3. Bundesamt für Landwirtschaft BLW, Emissionen aus der Landwirtschaft, https://www.agroscope.admin.ch/agroscope/de/home/aktuell/dossiers/tieremissionen1.html, gesichtet am 19.04.2021.
  4. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Korruptionsbekämpfung, https://www.seco.admin.ch/seco/de/home/Aussenwirtschaftspolitik_Wirtschaftliche_Zusammenarbeit/Wirtschaftsbeziehungen/Korruptionsbekaempfung.html, gesichtet am 19.04.2021.
  5. Bundesamt für Statistik BFS, Landwirtschaft und Ernährung, Taschenstatistik 2018, Neuchâtel, 2018, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/publikationen.assetdetail.5287762.html.
  6. Fleischatlas, Daten und Fakten über Tiere als Nahrungsmittel, Le Monde diplomatique, deutsche Ausgabe, Januar 2021, S. 8-9.
  7. Deux mondes paysans qui s’ignorent, En Bretagne, l’agriculture conventionnelle face au bio, in: Le Monde diplomatique, avril 2021, Übersetzung durch die Autorin.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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