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Szenario Nr. 4: Tragfähige Partnerschaft

Im Mai 2018 hat Avenir Suisse das „Weissbuch Schweiz - Sechs Skizzen für die Zukunft“ publiziert. Obwohl die Coronapandemie inzwischen vereinzelt zu veränderten Ansichten führen mag, ist das Dokument noch immer brandaktuell und für künftige Überlegungen zum Thema EU von grossem Wert, da sich die Anzahl publizierenden Experten zu diesem Thema hierzulande in Grenzen hält.  

Diejenigen, die Avenir Suisse kennen, wissen, dass der Think Tank durch seine Vorliebe für wirtschaftsliberale Denkweise geprägt ist. Dennoch wollen wir dieser Denkweise folgen, um ein möglichst breites Spektrum an Elementen für die Schlussbeurteilung zu gewinnen. Eine alternative Betrachtung aus dem linken-grünen Lager heben wir uns für später auf. 

Das Dokument von Avenir Suisse ist keine einfache Kost. Es beinhaltet 222 Seiten, vor allem die sechs Szenarien auseinanderzuhalten und zu werten, dürfte dem einen oder anderen schwerfallen. 

Ich mache das jetzt für Sie, indem ich jedes Szenario darlegen und kommentieren werde. Dies ist nun der vierte Teil. Doch zuerst muss ich ein paar grundlegende Gedanken von Avenir Suisse vor Augen führen.

 

Wie kommt Avenir Suisse auf sechs Szenarien?

Die sechs Szenarien sind das Ergebnis der Reduktion der Überlegungen auf zwei Dimensionen und einer anschaulichen Darlegung in einem Koordinatensystem, wie oben dargelegt: 

  1. Erste Dimension: Das ist der Grad der Integration in supranationale Institutionen, die Avenir Suisse auch „Souveränitätsachse“ nennt, wobei das Spektrum von Autonomie bis zur vollkommenen Integration reicht. 
  2. Zweite Dimension: Hier geht es um den Zentralisierungsgrad wirtschaftlicher Entscheidung, wobei das Spektrum von vollkommen offenen Märkten mit dezentraler Entscheidung aller Wirtschaftsfaktoren bis zum Korporatismus, also einer kollektiv oder staatlich gesteuerten Preisbildung, reicht. Avenir Suisse nennt diese Achse auch „Liberalismusachse“. 

Das ergibt vier Quadranten mit folgenden Szenarien: 

  1. Im nordöstlichen Quadranten befinden sich zwei Szenarien, die sich durch eine verstärkte Integration und offene Märkte auszeichnen: „Tragfähige Partnerschaft“ und „Europäische Normalität“. 
  2. Der nordwestliche Quadrant enthält das Szenario „Skandinavischer Weg“, das mehr Integration mit mehr kollektiven wirtschaftlichen Entscheidungen verbindet. 
  3. Der südwestliche Quadrant enthält das Szenario „Selbstbestimmter Rückzug“. Es kombiniert höhere Grade an Autonomie und Korporatismus bzw. staatliche Lenkung.
  4. Im südöstlichen Quadrant befinden sich wiederum zwei Szenarien: „Club Schweiz“ und „Globale Oase“. Hier werden in unterschiedlicher Prägung staatliche Autonomie und Marktoffenheit betont. Bei der „Globalen Oase“ stehen auch gesellschaftliche Freiheiten im Vordergrund. 

Die sechs Szenarien werden wie folgt zusammengefasst und präsentiert: 

  • Szenario 1: Selbstbestimmter Rückzug - Traditionell, heimatverbunden und ökologisch.
  • Szenario 2: Globale Oase - Wenn sich der Kreis zwischen den Extremen schliesst.
  • Szenario 3: Club Schweiz - Kontrollierte Offenheit im Zeichen nationaler Souveränität. 
  • Szenario 4: Tragfähige Partnerschaft - Die Schweiz im wirtschaftlichen Pragmatismus. 
  • Szenario 5: Europäische Normalität - Die Schweiz als Teil des politischen Europa.
  • Szenario 6: Skandinavischer Weg - Auf der Suche nach dem kollektiven Glück. 

Schliesslich muss ich erwähnen, dass die Szenarien selber, auch wenn sie mögliche Zukunftswege der Schweiz aufzeigen, von Avenir Suisse aus dem fiktiven Blickwinkel eines Betrachters im Jahr 2030 verfasst sind. 

 

Beschreibung des Szenarios 4: Tragfähige Partnerschaft

Mit den Worten der Autoren von Avenir Suisse beschreibt das Szenario 4 „ Schweiz, die über ein DACH-Abkommen wirtschaftlich mit der Europäischen Union in einer Partnerschaft assoziiert ist. Dieses Abkommen umfasst die Weiterführung der bilateralen Verträge mit der EU auf dynamischer Basis. Politisch ist die Schweiz weiterhin unabhängig. Die emotionsgeladenen Diskussionen pro und contra EU haben einem am Wirtschaftsleben orientierten, aussenpolitisch pragmatischen Kurs Platz gemacht. Irgendwie wurde die Bevölkerung müde, im ewigen Strom des Gezeters über die Beziehung mit dem wichtigsten Handelspartner keine Bewegung mehr festzustellen.“ (1)

 

Hiermit zusammengefasst die wichtigsten Merkmale und Auswirkungen des Szenarios, welches im nordöstlichen Quadrant einen grösseren Grad an offenen Märkten und einen geringeren Grad an Integration aufweist:

 

Ausgangslage: Knacknuss der CH-EU-Beziehungen war das Abkommen über technische Handelshemmnisse, das Teil der Bilateralen I war. 

 

Da keine regelmässige Aktualisierung der Normen Zertifizierungs- und Zulassungsprozesse für den EU-Binnenmarkt stattfand, wurde der Schweizer Aussenhandel mit der EU immer komplizierter und aufwändiger.

 

Ohne dynamische Anpassungen wichen immer mehr Produkte von den EU-Normen ab. 

 

KMU gerieten unter Druck. Viele von ihnen schlossen sich zu einer Interessengemeinschaft ausserhalb ihrer angestammten Wirtschaftsverbänden zusammen die verdächtigt wurden, die Interessen der jeweiligen Branche ungenügend zu verteidigen. Die Schweizer Presse sprach vom „Aufstand der Schweizer Unternehmen“. 

 

Die Arbeitslosigkeit, der Kapitalexport und die Auslagerung der Produktion ins benachbarte Ausland nahmen zu, während die Löhne sanken. Die Parteien an beiden Ende des politischen Spektrums gerieten ebenso unter Druck. Die Notwendigkeit eines Konsens wurde immer deutlicher.  

 

Tragfähige Partnerschaft: Die Lösung bestand darin, das bilaterale Vertragswerk zu erweitern, sodass die Schweiz Teil des EU-Binnenmarktes wurde. Heute ist die Schweizerische Eidgenossenschaft im Wesentlichen mit der EU assoziiert - zumindest in wirtschaftlichen Belangen. Politisch geht sie weiterhin ihren eigenen Weg. 

 

Ermöglicht wurde diese Lösung durch die Intervention der Nachbarstaaten Deutschland und Österreich, die sich in Brüssel für die Schweiz einsetzten und mit der Schweiz das sogenannten DACH-Abkommen aushandelten. Das Akronym DACH steht für Deutschland - Austria - Confédération helvétique. 

 

Anpassung an der Rechtsentwicklung der EU: In der Schweiz melden gemischte Ausschüsse laufend den Aktualisierungsbedarf und stossen die Anpassungen gemäss den jeweiligen politischen Prozessen an. Im  Gegenzug wird der Schweiz bei der EU das Recht eingeräumt, sich bei der Vorbereitung von neuem EU-Recht einzubringen (sog. „decision shaping“). Der Bundesrat schlägt die Änderungen dem Parlament vor, anschliessend besteht die Möglichkeit zur Abstimmung im Rahmen eines Volksreferendums. 

 

Überwachung des Abkommens: Jede Partei ist für die Umsetzung des Abkommens zuständig. Gemischte Ausschüsse übernehmen die Aufsicht. 

 

Rechtsprechung: Zwischen der Schweiz und der EU gilt nach wie vor eine parallele Rechtslage, wobei das Schweizer Bundesgericht sich nach wie vor an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes orientiert. 

 

Streitbeilegung: Die Streitbelegung erfolgt grundsätzlich im Gemischten Ausschuss des jeweiligen bilateralen Vertrages, im Falle von Uneinigkeit bei einem Schiedsgericht. Geht es bei der Streitigkeit um eine Frage betreffend die Auslegung des EU-Rechts, muss das Schiedsgericht die Frage dem EuGH zur Entscheidung vorlegen.

 

Souveränität und direkte Demokratie: An den Schweizer Institutionen muss nichts geändert werden. Auch die direktdemokratischen Rechte bleiben bestehen. 

 

In ihrer Souveränität wird die Schweiz faktisch äusserst wenig berührt. Man könnte sogar argumentieren, dass mit dem DACH-Abkommen die Schweiz an Souveränität gegenüber Brüssel gewonnen habe. Bei Meinungsverschiedenheit entscheidet das Schiedsgericht, dem sich sowohl Bern als auch Brüssel beugen muss. 

 

Das Argument „fremde Richter“ ist unpopulär geworden, zumal die EuGH-Richter zunehmend ihre Unabhängigkeit gegenüber Brüssel demonstrieren. 

 

Neues Dienstleistungsabkommen: Auf Drängen der EU wurde ein umfassendes Abkommen für alle Dienstleistungen erarbeitet, dem die eidgenössischen Räte mit einer knappen Mehrheit zustimmten.

 

Dieses Abkommen führt nicht nur zur Ausweitung der Tätigkeit der Schweizer Banken in Italien, sondern auch zu einer Liberalisierungswelle bei den Kantonalbanken, die ihre Staatsgarantie infolge des Abkommens verlieren. 

 

So sichert das Abkommen der Schweiz nicht nur den Zugang zum EU-Binnenmarkt in einem Bereich, in dem die Schweiz besonders stark ist, sondern gibt ihr die Möglichkeit dazu, ihre Marktanteile zu erweitern. Vom erweiterten Wettbewerb profitieren auch die Schweizer KonsumentInnen. 

 

Neue Freihandelsabkommen: Parallel dazu baut die Schweiz ihr Netz an Freihandelsabkommen aus, so mit den EFTA-Staaten, Indonesien, Indien, Thailand, Malaysia, Vietnam, Brasilien, Argentinien, Australien, Taiwan und Grossbritannien. 

 

Arbeitsmarkt und Migration: Der Anteil Erwerbstätigen aus der EU hat sich auf 30 % der Bevölkerung leicht erhöht. Schleichend findet eine Annäherung zwischen Schweizer und EU-Bürgern statt, die sich auch in den politischen Strukturen niederschlägt. Immer mehr Gemeinde verleihen den EU-BürgerInnen das Stimm- und Wahlrecht, was die Integration erleichtert.

 

Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wächst, doch die Angst vor dem Lohndumping scheint unbegründet zu sein. 

 

Schweizer Finanzplatz: Die Übernahme des Acquis communautaire impliziert auch, dass die Schweiz die EU-Finanzmarktregulierung übernimmt. 

 

Infolgedessen muss die Schweiz heute mehr regulieren als früher, so z.B. im Bereich der Geldwäscherei. 

 

Vom neuen Abkommen profitiert am meisten der Schweizer Finanzsektor. Während die Schweizer Banken früher die Arbeitsplätze ins Ausland verlagerten, kehrt das Abkommen diesen Trend rasch ins Gegenteil um. Die Schweiz hat nicht nur die Finanzinstitute angelockt, die nach dem Brexit von London nach Frankfurt gezogen waren, sondern sie ist der inoffizielle Finanzplatz der EU geworden. Dazu kommt dank dem Freihandelsabkommen mit Grossbritannien der gesicherte Zugang zum Finanzplatz London. Der Anteil des  Finanzsektors am BIP ist somit vom 9 auf 15 % gewachsen. Die Zahl der inländischen Banken und Versicherungen verringert sich dennoch aufgrund der Digitalisierung, dafür werden die Schweizer Konsumenten von den EU-Banken hofiert, die den Zutritt zum Schweitzer Markt geniessen.

 

Risiken

Die Autoren von Avenir Suisse haben vier Risiken identifiziert: 

  1. Schwindender Spielraum für eigenständige Politik: Die EU könnte versucht sein, den Acquis communautaire immer breiter zu interpretieren.
  2. Träger Arbeitsmarkt: Einen eventuellen Ausbau des Arbeitnehmerschutzes könnte zur  Erhöhung der Arbeitslosenquote führen. 
  3. Ausgleichsmassnahmen der EU: Inwiefern die EU versucht sein könnte, Ausgleichsmassnahmen gegenüber der Schweiz zu ergreifen, kann schwer abgeschätzt werden. 
  4. Brüssel als Ausrede: Der aufgestaute Reformbedarf im Innern könnte auf die lange Bank geschoben werden. 

 

Chancen

Es ist fraglich, weshalb Avenir Suisse es unterlassen hat, die Chancen für jedes Szenario zu eruieren. Deshalb werde ich es selbst versuchen. In diesem Szenario kann ich mindestens eine Chance identifizieren: das Beibehalten der Staatssouveränität mit allen Attributen der direkten Demokratie, sofern diese Perspektive auch realistisch ist.

 

Fazit

Wie das vorherige Modell „Club Schweiz“ knüpft dieses Modell an die aktuelle Lage an. Auch die vor wenigen Wochen artikulierte Idee, den Weg des EWR-Beitritts zu überdenken, trägt zur heutigen Realität bei. 

 

Dieses Szenario gilt jedoch wegen des Schweizer unilateralen Abbruchs der Verhandlungen über das Rahmenabkommen bereits als gescheitert. Ob die EU bereit ist, das alte Menü EWR-Vertrag für die Schweiz zu „erwärmen“, ist nicht auszuschliessen, solange Norwegen, Island und Liechtenstein der EFTA verpflichtet bleiben und dieser kleine unnachgiebige Kreis künftig der EU noch etwas bedeutet. 

 

Dass die Schweiz dank den Bemühungen Deutschlands und Österreichs schliesslich als assoziierter Partner der EU aufgenommen wird, ist zwar eine sehr optimistische Sicht der Dinge und zeugt vom grossen deutschen Einfluss in der EU. Soll man sich wirklich darüber freuen? Es fragt sich allerdings, was Deutschland und Österreich als Gegenleistung erwarten. Avenir Suisse sagt nichts dazu. 

 

Unrealistisch dünkt mir hingegen, dass Deutschland die führende Rolle im Finanzsektor der Schweiz abtreten oder überlassen soll. Viel mehr spricht derzeit dafür - und nicht zuletzt die vor wenigen Tagen von der G20 beschlossenen globalen 15 % Minimalsteuer für Unternehmen - , dass der Schweizer Finanzsektor weiterhin an Bedeutung verliert. 

Dass die Schweiz mit diesem Modell an politischer Souveränität gewinnen soll, ist auf den ersten Blick von Vorteil. Doch ich gebe zu bedenken, dass das, was der Schweiz seit Jahrzehnten mangelt, liegt nicht an wirtschaftlichem, sondern an politischem Profil.  

 

Schliesslich, mit allen oben beschriebenen Vorbehalten, könnte die Schweiz mit einem solchen Modell - tragfähige Partnerschaft - leben.

 

Virginia Bischof Knutti©13.07.2021

 

Quelle

(1) Weissbuch Schweiz - Sechs Skizzen der Zukunft, Avenir Suisse, S. 130-143, https://www.avenir-suisse.ch/publication/weissbuch-schweiz/.

 

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