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"Beziehungen unter Strom"

Das 2020 erschienene Buch „Beziehungen unter Strom - Die Schweiz, die Elektrizität und die Europäische Union“, von den Autoren Matthias Finger und Paul van Baal, ist eine fachlich fundierte Lagebeurteilung zur Strompolitik im Schweizer und europäischen Kontext. Zum Zeitpunkt der Herausgabe des Buches befand sich der Bundesrat noch in Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit der EU. Heute wissen wir, dass ohne Rahmenabkommen auch kein Stromabkommen zu erzielen ist. Das Buch hat aber nichts von seiner Aktualität verloren, zumal der Energiewandel grösstenteils mit Strom abzudecken sein soll und die grosse Frage - wie weiter mit der EU? - nicht gelöst ist. Ich werde einige Themen aus dem Buch herausgreifen und sie in den geopolitischen Kontext setzen.

Das erste Kapitel behandelt die Geschichte der Strombeziehungen zwischen der Schweiz und der EU. Das zweite zeigt die in der Schweiz politisch kontroversen Themen auf. Das dritte Kapitel widmet sich den wirklichen Herausforderungen. Das vierte erläutert zwei mögliche pessimistische Szenarien und das fünfte ein optimistischeres Szenario, wobei hier noch einige Empfehlungen an die Politik mitgeliefert werden. 

Obwohl das Wort „Geopolitik“ im Buch nie vorkommt, deutet das Werk auf die Rivalitäten zwischen der Schweiz und der EU, aber auch auf das Spannungsfeld innerhalb der Schweiz hin. Zugegeben, die Lektüre ist nicht gerade einfach. Es verlangt eine gewisse Veranlagung, vernetzt und vorausschauend mitzudenken, ausserdem soll man auch bereit sein, sich von trügerischen Sicherheiten und hartnäckigen Vorurteilen zu lösen. Doch das Buch macht auch unmissverständlich klar, inwiefern die Schweiz von der EU abhängig ist, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch in der Energiepolitik. 

Die Lektüre dieses Buch ist aus meiner Sicht eine Pflichtlektüre für PolitikerInnen, insbesondere für diejenigen, die sich mit Energiefragen beschäftigen. 

 

Der Einschluss

Ich habe das Thema Einschluss bereits mehrere Male behandelt. Zur Erinnerung, ein eingeschlossener Staat - oder ein Binnenstaat - ist ein Staat, der über keinen direkten Zugang zum Meer verfügt. Da über 90 % des Welthandels auf dem Meer erfolgt, ist eine solche geografische Lage nicht nur ein Wettbewerbs-, sondern auch ein geopolitischer Nachteil. Daher strebt jeder eingeschlossene Staat danach, den Einschluss so viel wie möglich zu umgehen. 

 

Dafür gibt es je nach geografische Lage verschiedene Möglichkeiten im Transportbereich wie die Binnenschifffahrt oder den Luftverkehr. Doch auch diese setzten freundschaftliche Beziehungen mit den umliegenden Staaten voraus. Eine andere Möglichkeit, den Einschluss zu umgehen, besteht darin, eine geschickte Diplomatie zu betreiben (z.B. Neutralität, „Wippspiel“ zwischen den Allianzen) oder sich auf dem internationalen Parkett unentbehrlich zu machen (z.B. durch den Besitz/Handel eines begehrten Rohstoffes, durch das Erringen eines besonderen politischen Status oder durch Finanz- und Bankpolitik). 

 

Die Schweiz hat fast alle Möglichkeiten ausprobiert, doch keine von diesen Gegenmassnahmen vermag den Einschluss zu beseitigen. Ihr droht jeden Moment, wegen einer Krise mit der EU, wirtschaftlich zu ersticken. Die Frage ist, ist die Schweiz nun an diesem Zeitpunkt angelangt? 

 

Auch die EU ist sich der Einschlusslage der Schweiz bewusst. Genauso wie die Schweiz versucht, sich von der Einschlusslage zu lösen, ist die EU bestrebt, mangels einer Einverleibung, sich die eigensinnige Schweiz zumindest gefügig zu machen. In der Strompolitik bedeutet dies, dass die EU die Entstehung eines „schwarzen Loches“ anstelle der Schweiz unbedingt vermeiden muss. Der Strom muss also ohne Hindernis und ohne Verzögerung fliessen können. 

 

Die Schweiz hat mit der EU zwei bilaterale Abkommen (1990 und 2004) in 16 Bereichen wie z.B. Landwirtschaft, Verkehr und Forschung vereinbart. Dabei war Strom nie ein Thema. Weshalb? Weil weder die EU noch die Schweiz damals die Strompolitik als problematisch betrachteten. Mit dem Blackout in Italien (2003), wofür die Schweiz teilweise verantwortlich gemacht wurde, und die Masseneinwanderungsinitiative (2014), die in Brüssel für Kopfschütteln sorgte, hat sich die Beziehung der Schweiz zur EU grundlegend geändert. Und zwar nicht zum Besten. 

 

Was will die EU?

Ihr erklärtes Ziel ist die politische Integration der Mitgliedstaaten. Das will sie mithilfe der Schaffung eines liberalisierten Binnenmarktes erreichen. Ein Ziel, das der wirtschaftsliberalen Schweiz eigentlich zusagen müsste. Doch der Eindruck täuscht. 

Bis 1990 waren also Strom- und Energiepolitik in Europa eine Frage der nationalen Souveränität. Mit dem Einzug der Globalisierung am Ende der 1990er Jahre wurde in Brüssel die Liberalisierung des Binnenmarktes forciert. Ab 1990 erlies die EU eine Reihe von Gesetzespaketen, um den Strommarkt zu liberalisieren. Dabei sollen Produktion und Verteilung getrennt werden. Während die Produktion privatisiert wird, darf die Verteilung (noch) im Staatsmonopol verbleiben. 

 

Während die europäischen Integration auf dem Strommarkt fortschreitet, hinkt die Schweizer Gesetzgebung hinterher, teilweise aus Angst vor der europäischen Konkurrenz, aber auch - so die Autoren - aufgrund des Widerstands von grossen Wasserkraftwerken und einigen Kantonen im Unterland. 

 

Die Schweiz hat ihren Beobachterstatut in europäischen Gremien verloren, die aufgrund des raschen technologischen Fortschrittes obsolet geworden waren, und ist 2018 aus dem Mechanismus der europäischen Marktkoppelung Intraday und Day-ahead ausgeschlossen worden. Heute ist die Schweiz bezüglich Strompolitik eine Insel mitten in Europa. 

 

Die Sternzeit der Schweizer Strompolitik

Sie liegt lange zurück, aber es gab eine Zeit, in der die Schweiz eine zentrale Rolle in der Strompolitik Europas spielte. Es ist nicht überflüssig, sich diese Zeit in Erinnerung zu rufen, zumal sie mit einer Veränderung geopolitischen Ausmasses gekoppelt ist. 

Bereits 1951 gründete die Schweiz mit sieben anderen europäischen Staaten ein Gremium für die Koordination von Produktion und Verteilung von Strom. Statt Beamten wurden vielfach an die Koordinationssitzungen Unternehmer gesandt. Auf Schweizer Seite waren EOS (3), NOK (4), Atel, EGL (5) und BKW (6) vertreten. Sie alle verbanden das gemeinsame Interesse, Standards festzulegen. Im Gegensatz zu heute waren sie damals keine Konkurrenten. 1958 wurde dann die Schaltstation „Stern von Laufenburg“ im Kanton Aargau in Betrieb genommen. Sie verknüpfte damals die Stromnetze der Schweiz, Frankreichs und Deutschlands - eine für damalige Verhältnisse geopolitische Errungenschaft. 1996 umfasste der „Stern“ bereits 19 europäische Staaten. 

 

Doch der Ölschock (1973) und die Atomkatastrophe von Tschernobyl (1986) brachten die EU 1990 zu einem Umdenken. Die Staatssouveränität der Mitgliedstaaten geriet mit der Verabschiedung von verschiedenen Gesetzespaketen zur Aufstellung und Liberalisierung des Strombinnenmarkts (Produktion und Verteilung) zunehmend ins Hintertreffen. Es wurden verschiedene Gremien kreiert, in denen die Schweiz eine Zeitlang einen Sitz bzw. einen Beobachterstatus innehatte. Mit der Transitrichtlinie der EU und den regionalen Initiativen verlagerte sich das technische Zentrum des integrierten Marktes von Laufenburg in die Regionen Europas und der „Stern von Laufenburg“ stand plötzlich nicht mehr im Zentrum. Den Autoren nach ist diese geopolitische Änderung noch nicht allen PolitikerInnen bewusst. Diese blenden gewollt oder ungewollt aus, dass Zentren sich verschieben und dass andere Zentren als Konkurrenten entstehen können. Diese Zeichen der Zeit nicht zu erkennen, könnte zu fatalen Schlussfolgerungen führen.

 

Geschichte der Strombeziehungen zwischen der Schweiz und der EU 

Wie gesagt, die EU arbeitet seit 1990 konsequent an der Aufstellung eines liberalisierten Strombinnenmarktes. Ein grosser Teil des ersten Kapitels ist der Geschichte der Gesetzgebung zur Energiepolitik in der EU und in der Schweiz gewidmet. Die folgende Tabelle zeigt die Hauptereignisse in der Energiepolitik der EU und der Schweiz im Vergleich. Die Passivität der Schweiz ist  beispiellos.   

 

Tabelle 1: EU- und schweizerische Energiepolitik im Vergleich

 

           Europäische Union                                      Schweiz

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                                                                vor

1990   1. Energiepaket                             1990     Stern von Laufenburg 

1996   Florenz- und Madrid-Foren

                                                                2002     Das EMG (1) scheitert an der Urne

2003   2. Energiepaket             

2006   Regionale Initiativen                      2006     Kreierung von Swissgrid

                                                                2007     StromVG (2) und Kreierung von Elcom

2009   3. Energiepaket und Netzkodizes  

                                                                2017    Ausschluss der Schweiz aus der EU-

                                                                            Marktkoppelung

                                                                2018    Ausschluss der Schweiz aus dem  

                                                                            Intraday- und Day-ahead-Handel

2019   Clean Energy for all Europeans

           Package

 

Quelle: nach Matthias Finger und Paul van Baal

 

Die politisch kontroversen Themen

Im zweiten Kapitel nehmen die Autoren einige dieser Blockaden unter die Lupe. Sie sind im Vergleich zu den „wirklichen Herausforderungen“, die im Kapitel 4 behandelt werden, in eigener Regie lösbar, so die Autoren. Es sind: 

  • vollständige Marktöffnung Entflechtung und Wettbewerb
  • staatliche Beihilfen, Transparenz, Wasserkraft und die Kantone
  • Marktkoppelung und ungeplante Stromflüsse
  • Langfristverträge
  • Anpassungen der Regulierung und des Regulators
  • erneuerbare Energie und Wasserkonzessionen
  • institutionelle Kontroversen. 

Ich möchte hier nur auf das Thema „institutionelle Kontroversen“ eingehen und auf die Hauptakteure und deren jeweilige Rolle verweisen. 

  • Swissgrid: Der gesetzliche Auftrag der Swissgrid ist es, ein effizientes und sicheres Übertragungsnetz zu betreiben, und das kann sie, so die Autoren, angesichts der totalen Integration des Schweizer Hochspannungsnetzes ins europäische Netz, nur in enger Zusammenarbeit mit der EU. Daher engagiert sie sich für ein Stromabkommen. 
  • Elcom: Elcom ist die unabhängige staatliche Regulierungsbehörde im Strombereich. Ihre Aufgabe ist es, die Einhaltung des Stromversorgungs- und Energiegesetzes zu überwachen. Obwohl sie aufgrund der Verabschiedung des 2. Energiepaketes der EU ins Leben gerufen wurde, unterhält sie ein zwiespältiges Verhältnis zur EU.  
  • Die grossen Stromproduzenten: Dazu zählen gemäss den Autoren Alpiq, Axpo und BKW. Während Axpo und BKW eher auf ihre nationale Versorgungsauftrag fokussieren, ist Alpiq in ihrer Existenz von der EU abhängig.
  • Bundesamt für Energie (BFE): Zwischen 2007 und 2014 führte der BFE Verhandlungen mit der EU für ein Stromabkommen. Ohne Resultat. Aus der Sicht der Autoren sind das BFE und der damalige Direktor „zumindest dafür verantwortlich, dass wir heute kein Stromabkommen haben.“

Da diese Hauptakteure vielfach gegenseitige Eigeninteressen haben, ist eine kohärente Strompolitik ein schweres Unterfangen. 

 

Die wirklichen Herausforderungen

Die Autoren haben deren vier identifiziert: 

  1. Nachhaltigkeit: Die Energiestrategie 2050 ist die umfassendste Strategie der Schweiz zur Erreichung der Klimaschutzziele. Eine generelle Kritik an dieser Strategie ist, dass sie nicht auf den Energiekonsum bzw. -verzicht, sondern auf die Stromerzeugung abzielt. Wie soll künftig der zusätzliche Strom für Heizung, Verkehr und Industrie erzeugt werden (63 % des Energieverbrauchs), ohne Atomenergie, im Wissen, dass die Schweiz bereits in den Wintermonaten ein grosser Stromimporteur ist?
  2. Versorgungssicherheit: Hier unterscheiden die Autoren zwischen Netz- und Energiesicherheit. Während die Netzsicherheit mit Swissgrid als gewährleistet betrachtet werden kann, ist es bei der Energiesicherheit aufgrund fehlender Kompetenzübertragung auf die Elcom nicht der Fall. Zudem ist Swissgrid „blind“, was ungeplante Stromflüsse aus der EU durch die Schweiz, angeht. So kann es unter Umständen dazu kommen, dass Swissgrid temporär über keine oder ungenügend Übertragungskapazitäten für Schweizer Importe verfügt. Die Nichtteilnahme am europäischen Strombinnenmarkt bedeutet, dass das schweizerische Netz anfälliger und verwundbarer wird. 
  3. Digitalisierung: Hier sind Investitionen notwendig. Denn Digitalisierung geht einher mit Effizienzsteigerung und grösserer Flexibilität.
  4. Energiegerechtigkeit: Hier stellen sich Fragen, die in der Öffentlichkeit kaum erwähnt werden -  Gerechtigkeit im Netz, Gerechtigkeit bei der Produktion, soziale Akzeptanz, digitaler Graben. Es sind Fragen, die aufzeigen, wie Strompolitik eine Sozialschicht bevor- bzw. benachteiligen kann. 

Drei mögliche Szenarien

Die Autoren haben drei Szenarien im Bezug auf ein Stromabkommen mit der EU erarbeitet: 

  1. Wir schaffen es auch allein! - Szenario Alleingang
  2. Wir warten auf bessere Zeiten! - Durch- und Hinhalteszenario
  3. Energieführerszenario.

Für die Autoren ist das Szenario Nr. 2 das wahrscheinlichste und gleichzeitig das gefährlichste. Mangel an Entschlossenheit, Angst vor unpopulären Entscheidungen, Fokussierung auf politische Kontroversen statt auf wirkliche Herausforderungen, das alles wirkt sich negativ auf die Strompolitik und auf die Beziehungen mit der EU aus.  

Ob die Schweiz kurz vor dem wirtschaftlichen Ersticken steht, vermögen die Autoren nicht zu bejahen, denn sie sehen im Szenario 3 eine Möglichkeit, für die Schweiz ihre damalige zentrale Rolle zurückzuerobern. Das Szenario erscheint a priori nicht unrealistisch, aber die Autoren sind sich bewusst, dass die internen Blockaden das grösste Hindernis darstellen, und dies, obwohl sie lösbar wären. Für die Autoren gibt es keine andere Alternative, als auf die EU zuzugehen und ein Stromabkommen zu erwirken. Alles andere kostet mehr. Und: Die Energiewende ist laut Autoren ohne EU eh nicht zu schaffen.

 

Fazit und Schlussfolgerung

Strom, sowie früher Kohle und Erdöl, sind der Motor der wirtschaftlichen Entwicklung. Jede industrielle Revolution ist ihnen zu verdanken. Fehlt die gerade begehrte Energieform oder ist sie mangelhaft vorhanden, gerät die Wirtschaft ins Stottern. 

Zudem kommt heute, dass die eingeleitete Energiewende verlangt, dass die fossile Energie bis 2050 durch erneuerbare Energie ersetzt wird. Ist die Schweiz in der Lage, diese Herausforderung zu meistern, jetzt, wo die Perspektive eines Rahmenabkommens und eines Stromabkommen mit der EU ferner erscheint denn je?

 

Das Buch konfrontiert die Schweiz mit ihrer Einschlusslage und stellt fest, dass die EU in Sachen Strompolitik nicht zu umgehen ist. Je eher Politik und Volk dies kapieren, desto schneller kann man den Energie- und Klimawandel anpacken.  

 

Das Buch „Beziehungen unter Strom“ stellt Fragen, liefert Antworte und macht konkrete Vorschläge für die Politik. Ein Muss für jeden Politiker, jede Politikerin, der/die sich mit Energiefragen beschäftigt. 

 

Für die Gebirgskantone stellt sich zusätzlich die Frage des Wasserzinses. Da es ein komplexes Problem darstellt, werde ich es in einem späteren Beitrag behandeln. 

 

Virginia Bischof Knutti©29.09.2021

 

Abkürzungen

(1) EMG: Elektrizitätsmarktgesetz

(2) StromVG: Stromversorgungsgesetz

(3) EOS: Energie Ouest Suisse

(4) NOK: Nordostschweizerische Kraftwerke

(5) EGL: Elektrizitäts-Gesellschaft Laufenburg 

(6) BKW: Bernische Kraftwerke AG

 

           

 

 

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