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Geopolitik der Eisenbahn, Teil 1

Buchrezession

Anlass für diesen Beitrag ist die Erscheinung eines französischen Buches über Geopolitik: „La géopolitique du rail“ von Antoine Pecqueur. 

Ich würde ein Buch auf Französisch nur denjenigen zumuten, die der Sprache Molières geneigt sind. Für alle anderen, die unabhängig der Sprache Interesse an der Geopolitik haben,  ist die Erwähnung des Buches aus zwei Gründen von Bedeutung: 

  1. Es zeigt, dass Staaten unter dem Deckmantel der Mobilitätsbedürfnisse  oder der Ökologie in Wahrheit geopolitische Ambitionen verfolgen. Das ist zum  Beispiel der Fall der EU, aber auch von unseren Nachbarstaaten Österreich, Frankreich und Italien. 
  2. Ein Kapitel wird der Schweizer Eisenbahnpolitik gewidmet und in einem insgesamt positiven Licht dargestellt. Das ist selten und überraschend genug, um erwähnt zu werden.

Der Autor analysiert 25 Eisenbahnprojekte weltweit. Diese Rezension werde ich in zwei Teile gliedern und mich auf drei Projekte fokussieren. Im ersten Teil werde ich den für die Eisenbahnpolitik relevanten  geopolitischen Kontext erläutern und zwei europäische Projekte, die für die Schweiz geopolitisch unmittelbar relevant sind, behandeln: Der österreichische Eisenbahnknotenpunkt für Nachtzüge und die Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon-Turin. 

Im zweiten Teil werde ich aufgrund seiner technologischen Brisanz das Hyperloop-Projekt in den Vereinigten arabischen Emiraten behandeln und schliesslich die Sichtweise des Autors über die Schweiz darlegen und kommentieren.

 

Allgemeine geopolitische Lage

Die Eisenbahn hat neulich Rückenwind bekommen. Gründe dafür gibt es mindestens zwei: Die Coronapandemie und die Klimakrise.

  1. Die Coronapandemie hat unter anderem zur Wiederbelebung des Schienenverkehrs beigetragen. Durch die Schliessung der Grenzen, insbesondere zu China und den USA, wurde der grenzüberschreitende Reiseverkehr erheblich eingeschränkt, sodass die Reisemöglichkeiten auf die Inlandsmärkte, allenfalls auf kontinentaler Ebene geschrumpft sind. Die kürzeren Reisedistanzen haben die Rolle des Zuges gestärkt, der nach einem starken Rückgang zu Beginn der Pandemie (in Frankreich und Deutschland ging die Zahl der Fahrgäste bis 2020 um rund 40% zurück) ab 2021 wieder fast das gleiche Verkehrsniveau wie vor der Krise erreichen konnte. Indessen dürfte sich laut Autor der Luftverkehr in Europa nicht vor 2025 normalisieren. 
  2. Die Klimakrise hat ebenso zur Wiederbelebung der Eisenbahn beigetragen. Nach Angaben der französischen Agence de l’environnement et de la maîtrise de l’énergie (Ademe) sind die CO2-Emissionen einer Flugreise 45 Mal höher als die eines Hochgeschwindigkeitszuges. Es gibt sogar ein schwedisches Schimpfwort, flygskam - Flugscham - , um das Fliegen zu beschreiben. Mit einiger Verspätung wurde sich die Politik des Entwicklungspotenzials der Eisenbahn bewusst. Nicht nur für die Passagiere, sondern auch für die Fracht.

In Europa bringt die EU den Güterverkehr wieder in Schwung und plant, den Anteil des Schienengüterverkehrs bis 2030 zu verdoppeln. Das umfassende europäische Konjunkturprogramm nach Covid-19 soll dazu beitragen, das Wachstum dieses Verkehrsträgers zu unterstützen. Es sei daran erinnert, dass der europäische Green Deal die CO2-Neutralität bis 2050 vorsieht. Brüssel ist jetzt die erste Finanzierungsquelle für grosse Eisenbahnprojekte in Europa, wie Rail Baltica oder den Tunnel zwischen Lyon und Turin. 

 

Nun ist es Sache der Staaten, dies umzusetzen, denn auf allen Kontinenten ist die Eisenbahn nach wie vor das Symbol der staatlichen Macht.

 

So ist es nicht verwunderlich, dass selbst in Nordamerika, dem Land der Flugzeugherrschaft schlechthin, die Eisenbahn plötzlich an Fahrtwind gewinnt. Die Regierung Biden soll 80 Milliarden Dollar für den Schienenverkehr bereitstellen. Ziel ist es, den Personenverkehr zu steigern, der seit einem Jahrhundert rückläufig ist. Zu den vorrangigen Aufgaben gehört die Realisierung einer Hochgeschwindigkeitsstrecke, die an der Pazifikküste Kanada und Mexiko durch die USA verbinden soll. Erklärtes geopolitisches Ziel Washingtons: Die USA wollen China die Führungsrolle in diesem Bereich nicht länger überlassen.

 

Indessen baut China sein Netz weiter aus und bricht alle Rekorde: In zehn Jahren wurden 38 000 km Hochgeschwindigkeitsstrecken gebaut. Das chinesische Regime behauptet damit seine Kontrolle über das ganze Land und auch über seine Grenzen hinaus mit der Errichtung der neuen Seidenstrassen.

 

Die geopolitischen Rahmenbedingungen vorausgesetzt, wollen wir uns nun zwei europäischen Eisenbahnprojekten widmen.

 

Wien: Europäischer Knotenpunkt der Nachtzüge

Im Jahr 2016 beschlossen die grossen europäischen Eisenbahngesellschaften, ihre Nachtzüge aufgrund mangelnder Rentabilität einzustellen. Sie konnten gegen die Tarifangebote der Billigfluggesellschaften, die den ganzen europäischen Luftraum durchquerten, nicht mehr konkurrieren. Während im Jahr 2000 in Frankreich 67 Nachtzüge verkehrten, sind 2020 nur noch zwei davon in Betrieb. Nun will die französische Regierung bis 2030 zehn Streckenabschnitte wieder aufnehmen bzw. neubauen. Dasselbe gilt für Deutschland, wo die Deutsche Bahn 2016 ihren Privatisierungsprozess beschleunigt und die Nachtverbindungen eingestellt hat. Einzig Österreich tanzt aus der Reihe und hält sein Angebot aufrecht.
Europas ist auch für die Wende im Eisenbahnverkehr von Vorteil. So werden ab 2016 Schlag auf Schlag folgende Linien von Nachtzügen eingeführt: Wien-Berlin, Salzburg-Venedig, Hamburg-Zürich. Mittlerweile sind weitere Destinationen ab Wien verfügbar wie Zagreb, Ljubljana, Budapest oder Prag. Die Verbindungen sind international, mit Wien als europäische Drehscheibe und Zürich als Nebenschauplatz. Innerhalb von drei Jahren verdoppelte sich die Zahl der Fahrgäste, und ab 2019 schreibt der Nachtzugbetrieb bereit schwarze Zahlen.

 

Solche Verbindungen setzen internationale Kooperation voraus, und sei es nur wegen dem Wechsel der Lokomotive oder des Personals am Grenzübertritt. Das gibt anderen europäischen Staaten die Möglichkeit, auf den fahrenden Zug aufzuspringen. Diese konvergierenden Interessen führten am 8. Dezember 2020 zu einer Kooperationsvereinbarung zwischen den nationalen Eisenbahngesellschaften Österreichs, Deutschlands, Frankreichs und der Schweiz mit dem Ziel, neue Verbindungen quer durch den Kontinent zu eröffnen. Das ist die Geburtsstunde des neuen «Trans Europe Express» oder TEE.02. Das europäische Netz soll die Hauptstädte der EU mit dem Nachtzug näher rücken lassen.

 

Von allen Teilnehmerstaaten ist Österreich zweifellos der grosse Gewinner, der einen Vorsprung gegenüber den Nachbarstaaten hat und somit die Führung übernehmen kann. Und das nicht nur im Personenverkehr. In Österreich werden 31% der Güter auf der Schiene befördert, gegenüber 9% in Frankreich. Die Rail Cargo Group, das Bahnlogistikunternehmen der ÖBB, ist nach der Deutschen Bahn das zweitgrösste in Europa. 2008 kaufte sie die Güterverkehrsparte der ungarischen Eisenbahn und schuf damit einen österreichisch-ungarischen Schienendienst.

 

Es ist genau diese zentrale Lage auf dem europäischen Kontinent, die nun in die Hände Österreichs spielt. Wien hat seine Fühler in Richtung Osten und Südosten ausgestreckt, ein neues Netz gesponnen, das nun an der neuen Seidenstrasse anknüpfen konnte. Daher lag es für Österreich auf der Hand, eine strategische Partnerschaft mit dem chinesischenPräsidenten Xi Jinping zu unterzeichnen. 2018 verkehrten bereits 400 Züge der Rail Cargo Group zwischen China und Europa. Das Unternehmen nimmt somit am chinesischen Projekt „Belt and Road Initiative“ (BRI) teil, das neue Schienen und Seeverkehrsverbindungen zwischen China und Europa herstellt.

 

Für Österreich ist es ein wirtschaftlicher Segen und für China ein wichtiges Tor nach Europa, während andere Länder wie Deutschland der BRI weitaus misstrauischer gegenüberstehen. Die Handelsbilanz fällt jedoch letztlich zugunsten Chinas aus.

 

Für Österreich ist es ein wirtschaftlicher Segen und für China ein wichtiges Tor nach Europa, während andere Länder wie Deutschland der BRI weitaus misstrauischer gegenüberstehen. Die Handelsbilanz fällt jedoch letztlich zugunsten Chinas aus.

 

Verbindung Lyon-Turin: Ein gefährliches "ménage à trois"?

Die Arbeiten an der Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon-Turin hätten 2015 abgeschlossen sein sollen. Doch in Wirklichkeit haben sie erst dann begonnen. Seit seiner Gründung 1991 hat das Projekt zahlreiche Rückschläge und Verzögerungen erfahren. Der 57,5 km lange Mont-Cenis-Basistunnel wird zum Herzstück dieser neuen Eisenbahnachse zwischen Lyon und Turin. Die neue Reiseroute soll in das zukünftige europäische Hochgeschwindigkeitsbahnsystem integriert werden. Die gesamte Neubaustrecke umfasst rund 270,8 km, davon 140km in Frankreich und 46,7 km in Italien. Dazwischen liegt ein 84,1 km langer gemeinsamer Abschnitt mit dem 57,5 km langen Mont-Cenis–Basistunnel. Dieser soll vor dem Gotthardtunnel der längste Eisenbahntunnel der Alpen werden. Die Kosten der Strecke werden zwischen 18 und 26 Milliarden Euro geschätzt. 

 

Wie gesagt, das Ziel der EU ist es, bis 2030 den Güterverkehr auf Schienen zu verdoppeln. Deshalb ist der Bau dieser Alpentransversale ein zentrales Element des Brüsseler Vorhabens. Dank ihm werden Schätzungen zufolge 50% des Güterverkehrs auf der Schiene abgewickelt, gegenüber 8% heute. Die Strecke soll eine Kapazität von 40 Millionen Tonnen Güter aufweisen, gegenüber 6 Millionen derzeit. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Zunahme des Personenverkehrs, der einen erheblichen Zeitgewinn erlaubt. In diesem Szenario sollte Lyon zu einem Eisenbahnknotenpunkt an der Schnittstelle zwischen der Süd- und der Ostachse Europas werden.

 

Gegner und Befürworter beider Länder streiten sich über die Umweltdimension des Projekts. So musste Frankreich das Projekt derart redimensionieren, dass die ursprünglich erwartete Kapazität im Güterverkehr nicht annähernd erreicht werden könnte. Danach musste Paris zwei neue Studien in Auftrag geben. Ein Beschluss der französischen Regierung wurde für Ende 2021 in Aussicht gestellt. 

 

An der Finanzierung des Projekts beteiligen sich drei staatliche Akteure mit jeweils eigenen Interessen: Frankreich, Italien und die EU. Die beiden erstgenannten sind durch fünf internationale Verträge miteinander verbunden. Die EU ihrerseits befindet sich in einer stärkeren Position, da sie 50% der Baukosten des TELT (Euroalpin-Tunnel Lyon Turin) übernimmt und somit zum wichtigsten Geldgeber für den Tunnel wird. Deshalb stellt die EU Bedingungen: Sie macht ihre finanzielle Unterstützung an Frankreich und Italien von der Einhaltung des Zeitplans abhängig. Laut Autor ähnelt die Situation einem „ménage à trois“ und stuft sie als „gefährlich“ ein.

 

Kommentar

Diese beiden Beispiele aus Österreich einerseits, Frankreich und Italien andererseits zeigen, wie die Geografie - und erst recht die Geopolitik - hartnäckig sein können: Alte historische Beziehungen formieren sich in lockerer Form wieder, ein Phänomen das sogar im Rahmen der Regionalpolitik der EU (l’Europe des régions) unterstützt wird. 

Wien, die Hauptstadt Österreichs, liegt am östlichen Ende des Landes - 600 km oder 6 1/2 Autostunden trennen sie von Bregenz, am westlichen Ende des Landes. Das war nicht immer so. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges lag Wien im Zentrum eines Reiches, das sich im Westen bis an die Adriaküste und im Südosten bis in die Tiefen des Balkangebiets erstreckte. Mit dem Traité de Trianon 1919 wurde Österreich auf sein deutschsprachige Gebiet reduziert, wobei die Hauptstadt vom Zentrum in die Peripherie des neuen Staatsgebildes rückte. 

 

Die Schaffung eines Eisenbahnknotenpunkts gibt Wien die Möglichkeit, wieder ins Zentrum des Kontinents zu rücken und seinen Einflussbereich nach Osten und Süden (wieder) zu erweitern bzw. zu reaktivieren.  

 

Zudem erweist sich die Bevorzugung durch Österreich von Nachtzügen gegenüber Hochgeschwindigkeitszügen als Wettbewerbsvorteil. 

 

Zwischen Teilen Frankreichs und Italiens ist möglicherweise ein neuer Annäherungsversuch im Gang. Tatsächlich waren die französische Savoie und das italienische Piemont zwischen 1720 und 1861 ein eigener Staat, das Königreich Sardinien- Piemont. Seine grösste Ausdehnung wies es vor der Französischen Revolution 1789 auf und beinhaltete dann die Savoie, das Piemont, das Aostatal, die Grafschaft von Nizza sowie die Insel Sardinien. Nach dem Wiener Kongress 1815 bestand das Königreich nur noch aus Sardinien. Das Königreich hatte offiziell eine Hauptstadt, Cagliari, auf Sardinien, doch de facto teilten sich Turin im Piemont und Chambéry in der Savoie die Macht. Die französische Sprache war im Piemont und vor allem im Aostatal weit verbreitet. Dörfer, die heute noch französisch klingen, wie Villeneuve, Fénis oder Châtillon erinnern an diese Zeit. 

 

Man muss in der Annäherung zwischen historisch zusammenhängenden Gebieten nicht zwangsläufig die Gefahr neuer Grenzziehungen in Europa sehen, doch ausschliessen kann man solche regionale Dynamiken auch nicht. Zumal die europäische Identität alles andere als gefestigt ist und die nationale Einheit einiger europäischer Staaten historisch gesehen sehr jung ist. 

 

Die Gefährlichkeit des „ménage à trois“ zwischen der EU, Frankreich und Italien ist aus meiner Sicht übertrieben. Im Gegenteil, die EU ist Garant dafür, dass das Projekt vorwärts und pünktlich schreitet. 

 

Die geopolitischen Auswirkungen von diesen beiden Projekten auf die Schweiz werde ich im Teil 2 behandeln.

 

Virginia Bischof Knutti©16.11.2021

 

Géopolitique du rail (2021)

Antoine Pecqueur

Editions autrement, Paris

160 pages

ISBN: 978-2746762329

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