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Geopolitik der Eisenbahn, Teil 2

Anlass für diesen Beitrag ist die Erscheinung eines französischen Buches über Geopolitik: „La géopolitique du rail“ von Antoine Pecqueur. 

Ich würde ein Buch auf Französisch nur denjenigen zumuten, die der Sprache Molières geneigt sind. Für alle anderen, die unabhängig der Sprache Interesse an der Geopolitik haben,  ist die Erwähnung des Buches aus zwei Gründen von Bedeutung: 

  1. Es zeigt, dass Staaten unter dem Deckmantel der Mobilitätsbedürfnisse  oder der Ökologie in Wahrheit geopolitische Ambitionen verfolgen. Das ist zum  Beispiel der Fall der EU, aber auch von unseren Nachbarstaaten Österreich, Frankreich und Italien. 
  2. Ein Kapitel wird der Schweizer Eisenbahnpolitik gewidmet und in einem insgesamt positiven Licht dargestellt. Das ist selten und überraschend genug, um erwähnt zu werden.

Der Autor analysiert 25 Eisenbahnprojekte weltweit. Diese Rezension werde ich in zwei Teile gliedern und mich auf drei Projekte fokussieren. Im ersten Teil werde ich den für die Eisenbahnpolitik relevanten  geopolitischen Kontext erläutern und zwei europäische Projekte, die für die Schweiz geopolitisch unmittelbar relevant sind, behandeln: Der österreichische Eisenbahnknotenpunkt für Nachtzüge und die Hochgeschwindigkeitsstrecke Lyon-Turin. 

Im zweiten Teil werde ich aufgrund seiner technologischen Brisanz das Hyperloop-Projekt in den Vereinigten arabischen Emiraten behandeln und schliesslich die Sichtweise des Autors über die schweizerische Eisenbahnpolitik darlegen und kommentieren.

 

Hyperlook-Verbindung zwischen Abu Dhabi und Dubai

Heute dauert eineAutofahrt von Abu Dhabi nach Dubai, den 160 km voneinander entfernten zwei grössten Städten der Vereinigten Arabischen Emiraten, zwei Stunden. Diese Dauer wollen beide Emirate jedoch in absehbarer Zukunft erheblich verkürzen, denn sie haben beschlossen, Hyperloop genannte Projekte für (sehr) Hochgeschwindigkeitszüge zu starten, die in Niederdruckröhren verkehren und von einem elektromagnetischen System angetrieben werden. Ziel ist es, eine Geschwindigkeit von 1100 km/h zu erreichen und Abu Dhabi in 12 Minuten mit Dubai zu verbinden. Utopie oder Zukunftswette? 

 

Dieses industrielle Forschungsprojekt wurde 2012 von Elon Musk, dem Geschäftsführer von SpaceX und Tesla, angekündigt. Fragt sich, wer wird als Erster den Wahnsinn von Elon Musk verwirklichen? Weltweit sind einige Vorprojekte im Gang, doch so wie es momentan aussieht, dürfte die Schlacht in den Vereinigten Arabischen Emiraten geschlagen werden. 

 

Dieser technologische Wettlauf mit der Zeit erfordert immer umfangreichere Investitionssummen, ganz zu schweigen von den Baukosten selbst, die auf etwa 40 Millionen Dollar pro Kilometer geschätzt werden, was 6 Milliarden Dollar für die gesamte Strecke Abu Dhabi-Dubai entspricht.

 

Hinter dieser technischen Leistung stehen jedoch geopolitische Rivalitäten. Seit 1981 gehören dem Golf-Kooperationsrat sechs Staaten an: Saudi-Arabien, Katar, Oman, Kuwait, Bahrain und die Vereinigten Arabischen Emirate. Zur Verwirklichung dieser regionalen Union und zur Verbesserung der Verbindungen zwischen den Golfmonarchien, vor allem in kommerzieller Hinsicht, wurde vor etwa 15 Jahren der Plan einer Eisenbahnlinie angekündigt, die die Golfstaaten miteinander verbinden soll. Einige Länder verfügen zwar bereits über eigene Netze, doch es gibt keine grenzüberschreitenden Linien. Dieses Megaprojekt mit einer Länge von über 2’000 km bedeutet eine Investition von 15 Milliarden Dollar. Doch Abu Dhabi und Dubai, die seit eh und je erbitterte Konkurrenten sind, haben beschlossen, eine eigene Schiene zu fahren - eben das Hyperloop-Projekt.

 

Wenn das Projekt erfolgreich ist, wollen die beiden Emirate die Vorreiterrolle haben. Indem sie auf innovative Verkehrsmittel setzen, zeigen sie auch, dass sie die Zeit nach Öl und Gas antizipieren, indem sie ihre Volkswirtschaften vorzeitig diversifizieren. Dubai hat sogar ein Interesse bekundet, das Emirat mit Maskat (Oman) und dann mit Riad (Saudi-Arabien) zu verbinden. Wird somit das Hyperloop die U-Bahn der Golfstaaten?

 

Soweit ist es noch nicht. Denn das Projekt wirft bedenkliche Fragen auf, angefangen bei der Sicherheit der Passagiere. Wie werden sich die Fahrgäste in solchen vollautomatischen Zügen fühlen, die mit mehr als 1000 km/h in fensterlosen Wagen unterwegs sind? Es stellt sich auch die Frage der Finanzierung, denn wenn die Emirate bereit sind, beträchtliche Summen in ein solches Projekt zu investieren, was wird dann aus den anderen Ländern? Das Wirtschaftsmodell des Hyperloops ist also noch lange nicht gefunden.

 

Fragt sich schliesslich, wenn nur eines der beiden Projekte im Arabischen Golf durchführbar wird, welches wird die Oberhand gewinnen? Ein hypothetisches Hyperloop zwischen Abu Dhabi und Dubai oder eine herkömmliche Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen allen Golfstaaten? Das Machtspiel vor Ort zwischen Iran und einigen Staaten auf der Arabischen Halbinsel und die geopolitische Instabilität, die sich an der Strasse vom Hormuz immer wieder abzeichnet, sollte eigentlich die Emiraten dazu verleiten, die Seestrasse möglichst zu vermeiden und Landkorridore für den Güterverkehr zu bauen. 

 

Die Schweiz: Ein reproduzierbares Modell?

Wie in der Einführung gesagt, hat der Autor einen insgesamt sehr positiven Beitrag zur Eisenbahnpolitik der Schweiz geschrieben. Die Schweizer Eisenbahnpolitik funktioniert so gut, so der Autor, dass ein Benutzer im Schnitt 2’400 km pro Jahr mit dem Zug zurücklegt, doppelt so viel wie sein Nachbar in Frankreich. Er nimmt durchschnittlich 71 Mal pro Jahr den Zug und ist damit der bei weitem grösste Nutzer auf dem gesamten Kontinent. Wie ist eine solche Erfolgsgeschichte zu erklären?, fragt der Autor verblüfft. 

 

Hiermit die Hauptingredienzen des Rezeptes, die er selber analysiert hat. Sie kennen sie doch alle, aber ich will sie Ihnen nicht vorenthalten, wenn schon ein Franzose unser patriotisches Ego flattiert.

 

  • Hauptmerkmale: Das Schweizer Eisenbahnnetz zeichnet sich durch hohe Pünktlichkeit, den Stundentakt und eine aussergewöhnliche Netzdichte aus. Die Pünktlichkeit ist das Ergebnis von Effizienz bei der Wartung, der Verkehrsleitung und der engen Zusammenarbeit zwischen Regulierungsbehörde und Betreibern. Seit der Einführung des Stundentaktes 1982 braucht kein User sich mit Zeitplänen durchzuschlagen, da die Abfahrt der Züge stündlich zur gleichen Minute erfolgt.
  • Organisation: Wie die Eidgenossenschaft ist sie föderalistisch geprägt mit der SBB auf Bundesebene und untergeordneten kantonalen bzw. regionalen Bahngesellschaften (Beispiel BLS und RhB). Er stellt die Frage in den Raum, ohne sie zu beantworten, ob das föderalistische System als Katalysator oder als Bremse wirkt. 
  • Ziele: Identifiziert hat er deren drei: Die Mobilität der User auch in schwer zugänglichen Gebieten zu gewährleisten, die Begleitung des Güterverkehrs und die Förderung des Tourismus, wobei das Umweltbewusstsein eine grosse Rolle spielt. Ich gehe nun kurz ins Detail:
    • Mobilität: Einige Orte sind nur mit dem Zug erreichbar (Beispiel Zermatt). Der Autor hebt die ergänzende Rolle des Postautonetzes hervor, das Orte bedient, die nicht von der Eisenbahn erschlossen sind.
    • Güterverkehr auf Schienen: Hier wird, ohne ausdrücklich genannt zu werden, an die NEAT gedacht mit der Möglichkeit für Lkw-Fahrer, eine 9-stündige Fahrt durch das Zentrum Europas ausruhend zu verbringen, indem die Lkw auf die Schienen verlegt werden. Laut Autor sollen die Autobahngebühren (er meint wohl die Leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe LSVA) in der Schweiz dermassen hoch sein, dass viele Lkw-Fahrer von der Verlagerung regen Gebrauch machen müssen. Jedenfalls spart die Schweiz mit dem Güterverkehr auf der Schiene 30’000 Tonnen CO2.
    • Tourismus: Der Autor erwähnt den Glacier Express und lobt die Kooperation zwischen der RhB und der Matterhorn- Gotthard-Bahn, sowie die Aufnahme der Bernina-Linie und Albula-Linie in das UNESCO-Kulturerbe. Er spricht von unzähligen architektonischen Kunstwerken, die die Bahnstrecken säumen wie Viadukte, die Solis-Brücke oder die Landwasser-Brücke sowie den Gotthardtunnel.
  • Finanzierung: Die Schweiz kann sich ein solches System leisten, weil es ausschliesslich mit öffentlichen Geldern finanziert wird. Die Schweiz ist mit 404 Euro pro Einwohner das Land, das am meisten in die Eisenbahninfrastruktur investiert - zehnmal mehr als in Frankreich, wie die folgende Tabelle belegt:

 

Tabelle 1: Investitionen pro Kopf in der Eisenbahn (2019)  

  Staat Betrag (Euro)
🇱🇺 Luxemburg 448
🇨🇭 Schweiz 404 
🇦🇹 Österreich  226 
🇸🇪 Schweden  188 
🇩🇰 Dänemark   148 
🇳🇱 Niederlande   133 
🇬🇧 Grossbritannien  101 
🇮🇹 Italien  93 
🇩🇪 Deutschland   76 
🇫🇷 Frankreich  42 
🇪🇸 Spanien  29 

Quelle: Allianz pro Schiene 2020, zitiert von Antoine Pecqueur

 

Vergleichbar ist die Schweizer Eisenbahn am ehesten mit der japanischen, wobei Pünktlichkeit und Netzdichte gleich hoch sind. Beide Länder sind weltweit führend: Japan verzeichnet 72 Zugfahrten pro Kopf - knapp vor der Schweiz (71). Doch der modus operandi ist grundsätzlich verschieden: Die japanischen Bahngesellschaften sind mehrheitlich privat, während die schweizerischen staatlich finanziert sind.

Dies soll jedoch nicht zu einem idyllischen Bild der Schweizer Eisenbahn führen, mahnt der Autor. Denn et hat zwei negativ ausfallende Faktoren gefunden:

  • Hohe Kosten für den User: Die Kehrseite der Medaille liegt im Preis der Billette.  
  • Unfall: Hier erwähnt der Autor einen bedauerlichen, aber dennoch aus meiner Sicht völlig deplatzierten Vorfall - die Entgleisung zwischen Lax und Fisch im Jahr 2010, die zum Tod einer japanischen Touristin führte.

Und nun? Welche geopolitische Ambitionen verfolgt die Schweiz mit ihrer Eisenbahnpolitik? Ich übersetze hier sinngemäss die Schlussfolgerung des Autors:

 

Aufgrund seiner Lage ausserhalb der EU ist die Schweiz auch nicht an bestimmte Brüsseler Richtlinien gebunden, die den Verkehr, insbesondere den Güterverkehr, betreffen. Die SBB schliesst jedoch Partnerschaften mit anderen Gesellschaften auf dem Kontinent, wie z.B. mit der SNCF für den TGV Lyria oder für das Angebot von Nachtzügen nicht aus. Unabhängig bleiben und gleichzeitig vernetzt sein, das ist einmal mehr die einzigartige Positionierung der Bahn Schweiz.

 

Kommentar

Der Autor hat die stillschweigende Schweizer Geopolitik in Bezug auf die Eisenbahnpolitik richtigerweise erkannt - die Suche nach der empfindlichen Balance zwischen Unabhängigkeit und Integration zu finden. Ein Balanceakt, die die Schweizer Politik seit eh und je zur Staatsstrategie hochstilisiert hat. Doch selbst wenn sie sich seit einem halben Jahrtausend bewährt hat, hält keine Staatsstrategie für ewig, aus dem einfachen Grund, dass kein Staat im luftleeren Raum operiert. 

 

Wir beobachten, wie die EU zunehmend an Macht gewinnt über ihre eigenen Teilnehmerstaaten, aber auch gegen die eigensinnige Schweiz, und wie sie, ähnlich einer Spinne, ihr Netz um die Schweiz herum spinnt. Das ist aktuell in zwei Bereichen klar ersichtlich: in der Strom- und in der Verkehrspolitik. 

 

So wird mit dem Bau der Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Lyon und Turin die Schweiz in Richtung Ost-West weiträumig umfahren. Und daran sind die nicht Schweizer Alpen schuld, denn sie sind offensichtlich technisch zu bezwingen. Die wohl grösste und letzte Errungenschaft in der grenzüberschreitenden Kooperation in der Eisenbahnpolitik bleibt vorerst die TGV-Verbindung Bern-Paris. 

 

Mit Deutschland verbindet uns der ICE, der von Chur bis Hamburg fährt, aber diese Eisenbahngesellschaft ist in den letzten Jahren nicht gerade ein Beispiel an Effizienz, Pünktlichkeit und Innovation. Zudem läuft bezüglich Güterverkehr mit unseren Nachbarn im Norden gar nichts. 

 

Mit Österreich ist die Schweiz über Zürich - allerdings im „Schneckentempo“ - dank der Tag- und Nachtzuglinie nach Wien verbunden. 

Mit Italien sind wir ab Chiasso mit dem EC oder mit Regionalzügen verbunden. Doch die Hochgeschwindigkeitslinie der italienischen Frecce Rosse berührt die Schweiz nicht. Sie startet erst in Mailand. 

 

Im Grunde und rückwirkend hat die Schweiz offensichtlich seine verkehrstechnischen Beziehungen zum Norden priorisiert. Im Nachhinein kann man dieses Vorhaben zu Recht hinterfragen. Denn auf Deutschland zu setzen, ein Land, das seiner Verkehrspolitik seit eh und je den Zielsetzungen der Autoindustrie unterordnet, hat der Schweiz offensichtlich nicht viel gebracht. 

 

Deshalb setzen Politik und Bevölkerung in Graubünden viele Hoffnungen in das Interreg-III-Projekt der EU, das  Dreiländereck Terra Raetica (Schweiz-Österreich-Italien), welches an das Unterengadin und an das Val Müstair anknüpfen soll. Das Ziel des Projektes Terra Raetica ist nicht Hochgeschwindigkeit, sondern die Erschliessung und die Integration des Dreiländerecks in das europäische Eisenbahnnetz. Bis zum Spatenstich darf Graubünden allerdings zitternd jede Pressemitteilung der EU verfolgen, aus Angst, das Projekt möge zum Opfer der schlechten Beziehungen zwischen Bern und Brüssel fallen. Das Schlimmste, was Graubünden blühen könnte, ist tatsächlich die Umgehung des Kantons durch eine direkte Verbindung zwischen dem österreichischen Tirol und dem italienischen Südtirol. 

 

Unterdessen können wir uns mit rein hiesigen Eisenbahnprojekten wie dem Cargo sous terrain trösten, das mit Privatinvestitionen finanziert werden soll. Doch auch dieses Projekt lässt die Südostschweiz links liegen.  

 

Virginia Bischof Knutti©23.11.2021

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