· 

Zeichen der Zeit

Ein Essay zum Jahresende 2021

Einer meiner Leser wunderte sich eines Tages darüber, dass ich viele politische Themen geopolitisch behandle. Das hat seine Gründe. Unter Geopolitik versteht jeder etwas anderes. Vor allem gehen die meisten davon aus, dass Geopolitik le domaine réservé der Grossmächte ist. Dem ist nicht so. Geopolitik ist die Analyse von meist territorialen Rivalitäten zwischen zwei oder mehreren Staaten, Staatsteilen oder Völkern. Aber sie ist auch eine Analysenmethode, um die Welt besser zu verstehen. Die geopolitische Analyse hilft mir also, die inhaltlich leeren oder - noch schlimmer - voreingenommenen Kommentare des Rudeljournalismus zu umgehen und damit wohl auch der Wahrheit wesentlich näher zu kommen. 

Zum Jahresende 2021 möchte ich ein paar geopolitische Gedanken vorbringen, die den üblichen Rahmen meiner lokal-regionalen Analysen sprengen. Das muss auch mal sein. Mich beschäftigen die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zum Thema Corona sehr, aber auch die kriegstreibende Spirale gegen Russland und China, die Folgen des Bevölkerungswachstums, die Exzesse des Spätkapitalismus, der Demokratieverlust in Staaten, die sich vordergründig als liberal vorgeben, oder auch die Digitalisierungsfalle.

Gesundheitspolitik des Bundes

Man erkennt es vielleicht nicht auf Anhieb, aber die Gesundheitspolitik des Bundes kann auch durch die geopolitische Brille analysiert werden. Wo liegen hier die Reibungspunkte, bzw. die Rivalitäten? Hier klaffen mehrere Ansichten aufeinander. Es geht nicht vordergründig um territoriale Ansprüche, sondern um die Wahrnehmung von Freiheitsrechten - für oder gegen Impfen, für oder gegen Schutzmassnahmen, möglicherweise auch für oder gegen die Umverteilung von Steuergeldern auf die Wirtschaftsopfer der Pandemie. Doch unter diesem offenkundigen Unbehagen liegt mehr, als man auf den ersten Blick erkennen mag. 

 

Seit bald zwei Jahren leben wir unter Corona-Bedingungen. Im Gegensatz zu den meisten Nachbarländern musste die Schweizer Bevölkerung, zumindest bis zur Redigierung dieses Beitrages, nur einen einzigen Lockdown über sich ergehen lassen. Bei uns konnten die schlimmsten finanziellen Auswirkungen bisher mit einem grosszügigen Massnahmenpaket des Bundes und der Kantone abgewendet werden. Selbstverständlich wurden auch Menschen vergessen oder nicht erfasst. Jedes Opfer ist ein Opfer zu viel. Doch Bund und Kantone streben seit zwei Jahren nach einer schwierigen Balance zwischen Bevölkerungsschutz und der Notwendigkeit, die Wirtschaft am Laufen zu halten. Ich sage es ohne Umschweife: Für mich ist dies ein Meisterstück der Schweizer Politik. 

 

Unterdessen sind laut WHO am 14. Dezember 2021 weltweit über 269 Mio. Fälle registriert worden. 5,3 Mio. Menschen sind an den Folgen von Corona gestorben. Wir nähern uns langsam den Zahlen der Spanischen Grippe. 

 

Obwohl die Schweizer Wirtschaft sich im Verlaufe des Jahres jedoch wieder erholt hat, gehen immer wieder und immer öfter Menschen auf die Strasse, um ihren Unmut lautstark und manchmal auch gewaltsam zu bekunden. Meistens sind es ImpfgegnerInnen, aber auch CoronaleugnerInnen, die gegen die Bundes- und kantonale Politik protestieren. Manchmal greifen sie sogar Menschen an, die vor den Impfzentren auf ihre Impfung warten, während in vielen Entwicklungsländern kaum 10 % der Bevölkerung geimpft ist. 

 

Vergessen die Zeit, in der in den Regalen der Supermärkte keine einzige Schutzmaske zum Kaufen lag. Vergessen die Zeit, in der die Sargschreiner und Krematorien mit der Zahl von Corona-Todesopfern überlastet waren. Vergessen auch die TV-Bilder, in denen die italienische Armee die Särge mit Militärfahrzeugen aus den Städten transportierte, oder die Leichen, die in Massengräbern auf einer New Yorker Insel begraben wurden. 

 

Viele Menschen in der Schweiz haben offenbar ein kurzes Gedächtnis oder eine Verdrängungskapazität vergleichbar mit einem Hochseeschiff. Selbstverständlich sind Verdrängen und Verleugnen wichtige Abwehrmechanismen der Seele. Das ist wichtig, um weiter leben zu können. Doch ich glaube, dass nicht nur Corona verantwortlich für diese Situation ist. Verantwortlich sind auch Probleme und vor allem Widersprüche, in denen die Menschen verwickelt sind und aus denen sie keinen Ausweg finden. Ich werde sie in vier Gruppen einteilen und mögliche Fragen aufwerfen.

 

Gruppe 1: Demographische Probleme

  • Weltweites Bevölkerungswachstum: Die Bevölkerung wächst weltweit unaufhörlich. Ganz nüchtern betrachtet, gibt es in der Konfliktforschung eine Anzahl äussere Faktoren, denen man die Funktion zuschreibt, die Bevölkerung regulieren zu können: Das sind z.B. Kriege, Pandemien, Hungersnöte oder Umweltkatastrophen. Dass bereits über 5 Mio. Menschen Corona zum Opfer gefallen sind, mag zynischerweise für eine Form von Bevölkerungsregulierung gehalten werden. Glauben die Menschen, die auf die Strasse gehen und gegen Coronamassnahmen sind, bewusst oder unbewusst an eine Form von Sozialdarwinismus, wonach der Kräftigere überleben soll? Oder wehren sie sich gegen die Impfung, weil sie in ihr genverändernde Stoffe vermuten, die direkt oder indirekt gegen das Bevölkerungswachstum agieren sollen?
  • Bevölkerungswachstum in der Schweiz: Die Schweiz ist eines der wenigen europäischen Länder, welches ein Bevölkerungswachstum erfährt. Das stimuliert die Wirtschaft und zieht gut ausgebildete Menschen aus der EU und woanders an, die Konkurrenz zwischen Firmen wächst, die Margen werden kleiner, was wiederum den Druck auf die ArbeitnehmerInnen erhöht. Gleichzeitig boomt der Immobilienmarkt, es wird mehr gebaut, als benutzt wird, und trotzdem steigen die Mieten. Wohlhabende Menschen kaufen sich Wohnobjekte in den Bergen, während die Bergbevölkerung die wirtschaftliche Perspektivlosigkeit durch Abwanderung in die Agglomerationen wettzumachen versucht. Was für eine Umverteilung der Wohnverhältnisse findet hierzulande statt und mit welchen langfristigen Folgen? 

 

Gruppe 2: Schwindende natürliche Ressourcen

  • Nahrung und Lebensraum: Die natürlichen Ressourcen - und damit auch die Nahrungsmittel und der Lebensraum - werden knapper bzw. ungleich verteilt. Das ist zwar noch nicht überall und mit der gleichen Intensität spürbar, doch der Trend ist unmissverständlich. In den Industrieländern wächst der Druck auf die KonsumentInnen. Ihnen wird von Grünaktivistenkreisen vorgeworfen, zu viel zu kaufen, zu viel zu essen, zu viel zu verschwenden. Die Kritik ist berechtigt. Doch gleichzeitig überflutet die Nahrungsmittelindustrie Millionen von Menschen mit Produkten mit exzessivem Einsatz von Salz, Zucker und Fett, was alles bekanntlich süchtig macht. Statt ihre Praktiken zu regulieren, wird den Herstellern von der Politik Straffreiheit zugesichert. Die Politik könnte auch die verführerische und allgegenwärtige Werbung regulieren, tut sie aber nicht. Warum werden solche auf der Hand liegenden Massnahmen unterlassen?
  • Strom: Die Preise für Energie steigen, der Strom wird knapp. In der Schweiz soll ab 2025 mit öfteren und dauerhaften Stromunterbrüchen gerechnet werden, warnt der Wirtschaftsminister und Bundespräsident Guy Parmelin. Doch kein Politiker denkt daran, die Produktion von batteriebetriebenen Fahrzeugen oder Geräten einzuschränken. Warum wird hier wieder keine Staatsregulierung vorgenommen? 

 

Gruppe 3: Aussen- und Sicherheitspolitik

  • Einschlusslage und Konfrontationskurs mit der EU: Die Schweiz ist geografisch, politisch und militärisch von der EU bzw. der NATO eingeschlossen. Bundesbern ist im Clinch mit der EU, hat aber kurz- und mittelfristig keine wirtschaftspolitische Alternative zur Hand. Was soll aus uns SchweizerInnen werden? 
  • Alte und neue Kriege: Um nur einige Krieg- oder postkriegerische Konflikte zu erwähnen, kommen Afghanistan und grosse Teile des Nahen Osten - eigentlich überall, wo die Amerikaner in den letzten 30 Jahren interveniert haben - nicht zu Ruhe. Im Gegenteil. Neuerdings sind die USA im Begriff, ihre Weltherrschaftsansprüche an China zu verlieren und dürften sich mit allen Mitteln dagegen wehren, notfalls auch militärisch. Gleichzeitig lechzen sie nach den ungeahnten natürlichen Ressourcen, die im schwach besiedelten Russland unter der Erde liegen. Kein Wunder, dass die USA immer wieder Gründe finden, um Russland zu brandmarken, und Nachahmer, die ihnen bedingungslos ergeben sind. Macht sich Washington daran, die Welt erneut entlang derselben Bruchlinie zu spalten? 
  • Deutschland als politisches Modell: Wie gesagt, die Schweiz ist ein eingeschlossenes Land. Deshalb ist sie auf das Wohlwollen der Nachbarstaaten angewiesen. Doch kein Land beeinflusst die Schweiz mehr als Deutschland. Gründe dafür gibt es genug: geografische Nähe, Durchlässigkeit der Grenze, Kultur- und Sprachverwandtschaft. Nachdem die Schweizer Politik Angela Merkel bedingungslos in ihrer fraglichen Energiewende gefolgt ist, fragt sich die Schweizer Bevölkerung zu recht, was die neue Ampel-Regierung wohl unternehmen wird, das wir auch wieder bedingungslos übernehmen werden müssten. Kaum war sie im Amt, hat die grüne Aussenministerin Annalen Baerbock bereits Farbe bekennt: Sie will härter gegen Russland und China vorgehen. Sie mag teilweise grün sein, doch die jetzige deutsche Regierung verhält sich nicht anders als alle ihre Vorgängerinnen: Sie ist und bleibt aus historischen Gründen der nordamerikanischen Politik bedingungslos ergeben und angebunden. Kann sich die Schweizer Politik von der deutschen unterscheiden? Müssen wir alles gut finden, was die Politiker des grossen Kantons gut finden müssen?

 

Gruppe 4: Spätkapitalistische Herausforderungen

  • Unsichere Renten: Seit Jahren versucht Bundesbern vergeblich eine Reform der AHV und der beruflichen Vorsorge zu erwirken und droht mit Rentensenkungen, falls die Reform scheitert. Warum bedeuten Reformen immer Kürzungen für die Bedürftigen? Warum soll ein Millionär die AHV erhalten?   
  • Die Vermögensumverteilung von unten nach oben: Die Umverteilung von Vermögen von unten nach oben nimmt zu. Es sind immer weniger Menschen, die immer mehr besitzen. In der Schweiz sollen 2,1 % der Bevölkerung so viel wie 97,9 % besitzen. Weltweit sollen 8 Männer so viel besitzen wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung. Liegt es nicht auf der Hand, dass diese selbsternannte Elite, die mächtiger ist als manche Staaten, ihre Weltanschauung und Zielsetzungen mit allen Mitteln durchzusetzen versucht? Wenn die Besitzverhältnisse derart liegen, sind wir zweifellos in die spätkapitalistische Ära eingetreten. Was kommt danach? Wird, nachdem die Reichsten ihr ganzes Vermögen gesichert haben, das ganze System zusammenbrechen?
  • Erderwärmung: Die Erde erwärmt sich, das ist nicht zu leugnen. Doch wie beim Konsum wird hier die Rechnung den BürgerInnen präsentiert. Sie sollen an der Erwärmung schuld sein - zu viele Menschen, die zu viel wollen. Das geht nicht auf. Doch ob die Erderwärmung tatsächlich von Menschen verursacht ist, ist auch nicht wissenschaftlich erwiesen. Dennoch muss sie am Menschen liegen, denn niemand kann der Sonne eine Rechnung für ihren Überfluss an Energie stellen und dazu noch erwarten, dass sie die Rechnung zahlt. Kann es sein, dass man den Menschen die Schuld der Erderwärmung in die Schuhe schiebt, weil der Kapitalismus dringend neue Entwicklungsmöglichkeiten und Absatzmärkte braucht? 
  • Die Digitalisierungsfalle: Fast alle Politiker und UnternehmerInnen hierzulande schreien nach Digitalisierung. Damit hoffen sie, Geld zu sparen bei der öffentlichen Hand und der Wirtschaft. Gleichzeitig aber macht die Digitalisierung die Arbeitskraft vieler Menschen überflüssig. Eigentlich sollte die Politik Teile der Wirtschaft und der Ausbildung in nicht digitalisierbaren Bereichen lenken, wie z.B. in soziale Berufe, wo der Mensch unersetzbar ist. Doch das Gegenteil ist der Fall. In den zahlreichen Schweizer privatwirtschaftlichen Weiterbildungsanstalten werden lauter Ausbildungen angeboten, die auf Zahlen basieren: Betriebsökonomie, Steuerexpertise, Bankwesen, Versicherungswesen, weil dort die Hoffnung auf Wertschöpfung am grössten ist. Wovon sollen die ArbeitnehmerInnen leben, wenn ihre Berufe von Computern wegrationalisiert werden? Und wird die Digitalisierung nicht als Vorwand zur Verhaltenskontrolle von Menschen eingesetzt, so wie es in China bereits der Fall ist?

 

Angst vor der Zukunft?

Es sind also möglicherweise viele Fragen und existenzielle Ängste am Ende dieses Jahres, die die Menschen plagen dürften, und ich habe nur einen Bruchteil davon behandelt. Und das Schlimmste sind nicht einmal die sich wiederholenden Krisen, sondern neulich die Ohnmacht bzw. der mangelnde Wille von Politik und Wirtschaft, diese Krisen auch lösen zu wollen. Vielleicht, weil man sie mit nicht autoritären Mitteln nicht lösen kann oder weil es sich in Krisen am meisten Geld verdienen lässt, oder beides.

 

Diejenigen, die nicht auf die Strasse gehen spüren möglicherweise dieselbe Angst. Dazu dürfte allerdings auch die Angst um die Zukunft der Demokratie kommen, wenn Letztere so sehr strapaziert wird und für alle Freiheitszwecke missbraucht wird. 

 

Jedes politisches Modell ist aus den herrschenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten hervorgekommen und hat sich in diesem Kontext weiter entwickelt. Das würde bedeuten, dass die Demokratie kein ewiger Zustand ist. Möglicherweise hat die direkte Demokratie, wie wir sie in der Schweiz kennen, jetzt ihr Limit erreicht, und wir müssen uns darauf vorbereiten, punktuell oder auf Dauer einige Rechte dem Staat abzutreten. 

 

Zugegeben, manche osteuropäische Staaten sind uns in Letzterem um Meilen voraus, und ich spreche nicht nur von Russland, sondern vor allem von Polen und Ungarn - beide seit 2004 Mitgliedstaaten der EU. Diese waren zum Zeitpunkt ihrer Aufnahme in die EU nicht reif für die westliche demokratische Tradition und sind es heute, 15 Jahren danach, offenbar noch immer nicht. Solchen Beispielen darf die Schweizer Politik nicht folgen, wenn sie glaubwürdig bleiben will.

 

Kann man unter solchen Umständen noch optimistisch sein?

Wenn die Politik die Probleme erkennt und auch wirklich lösen will, dann schon. Das bedeutet: 

  1. Die Coronapandemie zu besiegen, und zwar weltweit. Hier muss auch die lukrative Pharmaindustrie Opfer bringen und den Impfstoff allen Bevölkerungen zugänglich machen. 
  2. Die Konfrontation mit Russland und China auf alle Kosten vermeiden. 
  3. Die asymmetrischen und zunehmend als ungerecht empfundenen Besitzverhältnisse zwischen den Reichsten und den Anderen müssen ausgeglichen werden.  

Und noch ein Trostpflaster: Sowohl die Politik als auch die Unternehmer haben Respekt, wenn nicht Angst, vor dem Volk - dass es auf die Barrikaden geht, dass es streikt, dass es die Wirtschaft lahmlegt. Das hat man mit der Bewegung der Gilets jaunes in Frankreich gesehen. „La peur a changé de camp“ - Die Angst hat die Seite gewechselt -, sagte ein Kommentator damals. Die Zeit der Willkür und der Diktatur ist nicht gekommen, solange die Wirtschaft vernünftig liberal bleibt und Konsumenten braucht. 

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen besinnliche Festtage und ein erfolgreiches neues Jahr 2022. 

 

Virginia Bischof Knutti©15.12.2021

 

Kommentar schreiben

Kommentare: 0