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Die Ukraine - Drehpunkt der US-amerikanischen Geopolitik

Anlass für diese Analyse ist die aktuelle Lage in der Ostukraine. Die internationalen Medien überbieten sich täglich darin, die Mobilisierung von russischen Kräften an der Grenze zur Ukraine mit Emphase darzulegen, während die Gegenhandlungen auf der NATO-Seite „minimiert“ werden. 

Warum wird die Lage von den westlichen Kanzleien und Medien aufgeheizt? Warum kann die westliche Welt nicht begreifen, dass die sicherheitspolitischen Ängste  Russlands genauso erst zu nehmen sind, wie diejenigen der USA, als in den 1960er-Jahren  die Sowjetunion ballistische Raketen auf Kuba installierte? Das sind legitime Fragen, die sich jeder Medienkonsumenten stellt, wenn er einen Hauch von Objektivität sucht. 

Mit Objektivität kann ich so wenig wie jede Journalistin oder jeder andere Journalist dienen. Aber ich kann mit der Analyse einer vergessenen oder absichtlich unbeachteten Quelle dienen, welche die Strategie der USA auf dem eurasischen Kontinent auf den Punkt bringt.          

Tatsächlich steht an der Quelle der aktuellen US-amerikanischen Geopolitik der ehemalige Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, und sein Werk, das ich auf Französisch besitze: „Le grand échiquier - L’Amérique et le reste du monde“ (1), erschienen 1997. In der englischen Originalversion ist das Buch ebenfalls 1997 unter dem Titel „The Grand Chessboard“, Basic Books, erschienen.

Damit die Tragweite von Brzezinskis geopolitischem Denken möglichst unverfälscht dargelegt werden kann, habe ich mich für meine Analyse der Methode eines fiktiven Interviews mit dem Autor bedient und seine Aussagen auf Deutsch übersetzt.  

Doch zuerst bedarf es einiger einleitender Worte.

 

 

Geopolitische Grundlagen

Zu den Gründungsvätern der US-amerikanischen Geopolitik zählen unter anderen drei Namen: Alfred Mahan (1840-1914), Sir Hartford Mackinder (1861-1947) und Zbigniew Brzezinski (1928-2017). 

 

Alfred Mahn war Admiral der US-Seeflotte und hat die Grundlagen für die US-amerikanische Seeherrschaft gelegt. Hartford Mackinder war ein britischer Geograf und Journalist. Mahan und Mackinder haben gemeinsam, dass sie die Seemacht über die Landmacht gestellt haben, oder genauer: Die Seemacht ist dazu da, die Landmacht in Schach zu halten.

 

Mackinder teilt die Welt in eine Meeres- und Inselwelt und hat eine Theorie aufgestellt, die besagt, welche Region der Inselwelt zu halten ist, um die ganze Welt zu kontrollieren. Ohne Überraschung fiel seine Wahl auf die Mitte des eurasischen Kontinents, die er als Heartland bezeichnete. Dieses Heartland war damals Teil der Sowjetunion, heute liegt es im heutigen Russland. Im Westen, Süden und Osten des Heartland identifizierte er einen Ring an Staaten (inner crescent), die er als Drehpunkte der US-Geopolitik einstufte. Dieser Ring war im Westen und im Osten durch einen zusätzlichen Ring (outer crescent) flankiert, bestehend aus den britischen Inseln und Japan. An der Peripherie dieses riesigen Raums liegen der amerikanische Kontinent und Australien. 

 

Die grösste Angst Mackinders war, dass Russland sich mit Deutschland verbünden und so eine geopolitische Achse bilden würde, die die US und britische Überlegenheit auf See nichtig machen würde. Deshalb muss das Heartland möglichst neutralisiert bzw. gefügig gemacht werden. 

 

Die Quintessenz Mackinders Theorie kann man in drei logisch abgeleiteten Sätzen zusammenfassen: 

 

Wer Osteuropa regiert, beherrscht das Heartland;

wer das Heartland regiert, beherrscht die Inselwelt;

wer die Inselwelt beherrscht, beherrscht die Welt. 

 

Aus Mackinders Theorie wurde die Doktrin des Containment (Eindämmung) der Sowjetunion entwickelt, die während des Kalten Krieges Anwendung fand und heute wieder aktueller denn je scheint.

 

Und nun kommen wir zum US-amerikanischen Strategen, der heute noch die US-amerikanische Aussenpolitik beeinflusst: Zbigniew Brzezinski. 

 

Zbigniew Brzezinski (1928-2017) ist der Sohn eines polnischen Diplomaten. Er war von 1977 bis 1981 Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter. Er war Professor für US-amerikanische Aussenpolitik an der School of Advanced International Studies (SAIS) der Johns Hopkins University in Washington, D.C., Berater am „Zentrum für Strategische und Internationale Studien“ (CSIS) in Washington, D.C. und Autor renommierter politischer Analysen. Brzezinski wird zur realistischen Schule der Internationalen Politik gerechnet, steht geopolitisch in der Tradition Halford Mackinders und gilt als Unilateralist. 

 

In seinem 1997 erschienen Buch „Le grand échiquier - L’Amérique et le reste du monde“, erklärt Brzezinski, weshalb die USA das durch die Implosion der Sowjetunion belassene politische Vakuum in Eurasien füllen und so lang wie möglich halten sollen.

 

Er hat Mackinders Theorie aktualisiert, wobei er dessen oben skizzierte, zu Doktrin umgewandelte Theorie übernommen hat. Brzezinskis Beitrag  dazu besteht lediglich darin, dass er aus der Theorie bzw. Doktrin ein „Spiel“ abgeleitet hat, das er das eurasische Schachbrett genannt hat und die teilnehmenden Spieler - geostrategische Akteure und geopolitische Drehpunkte - namentlich definiert hat. Ausserdem hat er das Heartland in „Zentralraum“ umgetauft. Gemeinst ist aber nach wie vor Russland.

 

Nach diesen einleitenden Worten gehen wir zum fiktiven Interview über.

 

Karte: Geostrategische Akteure und geopolitische Drehpunkte

 

 

 

Karte: Nach Zbigniew Brzezinski

Die geopolitische Bedeutung Eurasiens

Warum ist die Beherrschung Eurasiens für die USA so wichtig? 

„Der grösste Kontinent auf der Erdoberfläche ist auch die geopolitische Achse. Jede Macht, die sie kontrolliert, kontrolliert damit zwei der drei am weitesten entwickelten und produktivsten Regionen. Ein einfacher Blick auf die Landkarte genügt, um zu verstehen, wie die Übernahme Eurasiens fast automatisch eine leichte Bevormundung Afrikas bedeutet und beiden Amerikas und Ozeanien eine geopolitische Peripherieposition verschafft.“

 

Ist das wirtschaftliche Potenzial Eurasiens auch von Relevanz für die USA? 

„In Eurasien leben etwa 75% der Weltbevölkerung und der grösste Teil des materiellen Reichtums in Form von Unternehmen oder Rohstoffvorkommen. Die Summe der Bruttosozialprodukte des Kontinents macht etwa 60% des weltweiten Gesamtvolumens aus. Dort sind drei Viertel der bekannten Energieressourcen konzentriert.“

 

Nehmen die USA China als Konkurrent auf dem eurasischen Kontinent wahr?

„Die Vereinigten Staaten, eine Macht ausserhalb Eurasiens, geniessen die internationale Vormachtstellung durch ihre unmittelbare Präsenz in drei peripheren Gebieten des Kontinents, wodurch ihr Wirkungsfeld bis auf die Staaten des kontinentalen Hinterlandes ausgedehnt wird. Es ist offensichtlich, dass diese Situation nur eine Weile dauern wird. Aber von der Dauer und dem Ausgang des Friedens hängt nicht nur das Wohlergehen der Vereinigten Staaten ab, sondern generell auch der Weltfrieden.“

 

Haben die USA Russland als Konkurrent auf dem eurasischen Kontinent abgeschrieben? 

„Russland, das muss man wohl sagen, ist nach wie vor ein wichtiger Akteur. Und das trotz der Schwächung des Staates und der anhaltenden Unruhe im Land. Allein ihre Existenz übt einen grossen Einfluss auf die neuen unabhängigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion aus. Russland hat hohe geopolitische Ambitionen, die es immer offener zum Ausdruck bringt. Sobald Russland  wieder zu Kräften gekommen ist, werden alle Nachbarn im Osten wie im Westen mit seinem Einfluss rechnen müssen.“

 

Welches Szenario könnte die Vorherrschaft der USA im westlichen Teil des eurasischen Kontinents in Frage stellen?

 „Wenn der Zentralraum (2) mit dem Westen bricht und ein dynamisches Gebilde bildet, das eigenständig handeln kann, wenn es dann die Kontrolle über den Süden übernimmt oder ein Bündnis mit dem Hauptakteur des Ostens (3) schliesst, dann wird die Position der USA in Eurasien schrecklich geschwächt.“ 

 

Und im östlichen Teil des Kontinents? 

„Im Osten hätte die Vereinigung der beiden Hauptakteure (4) ähnliche Folgen. Was die westliche Peripherie betrifft, so würde der Ausschluss der USA durch ihre Partner das Ende der US-Beteiligung am eurasischen Schachspiel bedeuten, auch wenn eine solche Umkehr zweifellos bedeuten würde, dass die westlichen Grenzen einem wieder einflussreichen Akteur in der zentralen Region untergeordnet würden.“

 

US-Strategie auf dem eurasischen Kontinent

Wie zeichnet sich die US-Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent aus?

„Trotz ihrer globalen Dimension bleibt die amerikanische Hegemonie oberflächlich. Sie wird durch vielfältige Einflussmechanismen ausgeübt, aber im Gegensatz zu den Imperien der Vergangenheit nicht durch direkte Kontrolle. Die Grösse und Vielfalt Eurasiens sowie die Stärke vieler seiner Staaten bremsen Amerikas Einfluss und schmälern die Kontrolle über den Lauf der Dinge.“ 

 

Müssen die USA mit Widerstand auf dem eurasischen Kontinent rechnen? 

„Dieser Megakontinent ist einfach zu gross und zu bevölkert, zu reich an seinen vielen Kulturen, zu stark an seinen politisch dynamischen und historisch ambitionierten Staaten, um sich irgendjemandem, sei es der herrschenden Weltmacht oder der blühendsten Wirtschaft, unterwerfen zu können.“

 

Will das heissen, dass die USA keinen offensiven Krieg auf dem eurasischen Kontinent lostreten würden? 

„Amerika ist zu demokratisch, um sich nach aussen hin autokratisch zu zeigen. Dies schränkt die Möglichkeiten ein, ihre Macht, insbesondere ihre militärische Einschüchterungsfähigkeit, einzusetzen. Nie zuvor hat eine liberale Demokratie eine solche Vormachtstellung erreicht. Das Wettrennen um die Macht ist kein Ziel, das populäre Leidenschaften wecken kann, es sei denn, es besteht eine unmittelbare Bedrohung für das innere Wohlbefinden.“

 

Wenn der Krieg keine Option ist, wie sollen dann die USA ihre Strategie auf dem eurasischen Kontinent implementieren?  

„Diese Situation erfordert grosses geostrategisches Geschick. Auf dem eurasischen Schachbrett müssen die USA ihre Ressourcen sinnvoll einsetzen, und zwar stets selektiv und umsichtig. Manöver, Diplomatie, Koalitionsbildung, Kooptation (5) und die Nutzung aller verfügbaren politischen Vorteile sind nun die Schlüssel zum Erfolg bei der Ausübung geostrategischer Macht auf dem eurasischen Schachbrett.“

 

Und wie sieht die US-Strategie konkret aus?

„In der Terminologie der Imperien der Vergangenheit lassen sich die drei grossen geostrategischen Imperative wie folgt zusammenfassen:

  1. Verhinderung von Absprachen zwischen Vasallen und Aufrechterhaltung der Abhängigkeit, die ihre Sicherheit rechtfertigt;
  2. Förderung der Fügsamkeit der geschützten Untertanen;
  3. Verhinderung der Barbaren an der Bildung offensiver Bündnisse.“

 

Geostrategische Akteure und geopolitische Drehpunkte

Auf der Karte oben sind 5 geostrategische Akteure und 5 geopolitische Drehpunkte auf dem eurasischen Schachbrett nach Brzezinski ersichtlich.

 

Wo findet das Spiel genau statt?

 „Das «Spiel» spielt sich auf diesem verzerrten und riesigen Schachbrett ab, das sich von Lissabon bis Wladiwostok erstreckt.“ 

 

Wer sind die Spieler? 

„In der gegenwärtigen Situation lassen sich auf der neuen politischen Landkarte Eurasiens mindestens 5 geostrategische Akteure sowie 5 geopolitische Schwerpunkte ausmachen.“

 

Welche sind die geostrategischen Akteure? 

„Frankreich, Deutschland, Russland, China und Indien sind die Hauptakteure, während Grossbritannien, Japan und Indonesien, zweifellos sehr wichtige Länder, nicht in diese Kategorie fallen.“

 

Welche sind die geopolitischen Drehpunkte?

„Die Ukraine, Aserbaidschan, Korea, die Türkei und der Iran sind wichtige geopolitische Drehscheiben. Die beiden letztgenannten spielen trotz ihrer geringeren Mittel in gewissem Masse auch eine geostrategische Rolle.“

 

Welche ist die Rolle der geostrategischen Akteuren? 

„Die wichtigsten geostrategischen Akteure sind die Staaten, die über die Fähigkeit und den nationalen Willen verfügen, Macht und Einfluss über ihre Grenzen hinweg auszuüben. Dadurch sind sie in der Lage, die internationalen Beziehungen zu verändern, auf die Gefahr hin, Amerikas Interessen zu schaden.“

 

Wozu sind die geostrategischen Akteure fähig? 

„Diese Staaten prüfen alle Aspekte der amerikanischen Macht, beurteilen, inwieweit ihre Interessen mit denen des begünstigten Partners vereinbar sind und entwickeln eigene Ziele, wobei sie gegebenenfalls die Verantwortung für eine Konfrontation mit Amerika übernehmen.“

 

Welche ist die Rolle der geopolitischen Drehpunkte? 

“Der Begriff der geopolitischen Drehpunkt bezieht sich auf Staaten, deren Bedeutung weniger auf ihre tatsächliche Macht und Motivation als vielmehr auf ihre sensible geografische Lage und ihre potenzielle Verwundbarkeit zurückzuführen ist, die das Verhalten geostrategischer Akteure beeinflusst.“

 

Welches Interesse bergen die geopolitischen Drehpunkte für die US-Strategie auf dem eurasischen Kontinent? 

„Es geht darum, die Staaten zu identifizieren, die eine echte geostrategische Dynamik besitzen und in der Lage sind, eine tiefgreifende Veränderung der internationalen Machtverteilung herbeizuführen. In diesem Zusammenhang sollen die aussenpolitischen Prioritäten der Eliten der betreffenden Länder beziffert und die Folgen ihrer Bemühungen zur Erreichung dieser Ziele untersucht werden; zudem müssen die geopolitisch sensibelsten Staaten ermittelt werden, die aufgrund ihrer geographischen Lage oder ihrer blossen Existenz Katalysatorwirkung für wichtigere geostrategische Akteure oder regionale Bedingungen haben können.“

 

Weshalb ist dabei die Ukraine so wichtig? 

„Für Moskau bedeutet die Wiederherstellung der Kontrolle über die Ukraine – ein Land mit 52 Millionen Einwohnern, das über grosse Ressourcen und Zugang zum Schwarzen Meer verfügt – die Sicherung der Mittel, um wieder ein mächtiger imperialer Staat zu werden, der sich über Europa und Asien erstreckt. Das Ende der ukrainischen Unabhängigkeit hätte unmittelbare Folgen für Mitteleuropa. Polen würde dann zum geopolitischen Drehpunkt am östlichen Rand des vereinten Europas werden.“

 

Kommentar

Zur Erinnerung: Das mehrfach zitierte Buch datiert 1997. Zu diesem Zeitpunkt steckte China noch am Anfang seiner kapitalistischen Revolution und war deshalb noch keine unmittelbare Bedrohung für die USA. Ausserdem war Wladimir Putin 1997 „erst“ Kanzleichef von Präsident Boris Jelzin. Daher befand sich damals Russland im besten Fall als Juniorpartner der USA sozusagen auf Kurs mit den amerikanischen Vorstellungen auf dem eurasischen Kontinent.   

 

Das fiktive Interview mit Zbigniew Brzezinski offenbart die wahren Absichten der USA auf dem eurasischen Kontinent. Die Sprache ist direkt, ja nicht selten äusserst zynisch. Für Strategen wie Brzezinski ist solche Rhetorik längst zur Routine geworden. Als EuropäerIn oder EurasianerIn fühlt man sich nicht sonderlich geschmeichelt - gelinde ausgedrückt. 

 

Die Lehre aus dem Buch ist: Einen Krieg wollen die USA auf dem eurasischen Kontinent möglichst nicht riskieren, aber sie sind bereit, alle Register in der breitgefächerten Palette der US-Strategie zu ziehen, um zum Ziel zu kommen. Das Ziel lautet: den Zentralraum in Eurasien - sprich Russland - zu kontrollieren. Dazu brauchen die USA die Ukraine.

 

Damit die Rolle der Ukraine eindeutig klar wird, möchte ich ein paar Ergänzungen hinzufügen: Auf der Flagge der Russischen Föderation ist ein zweiköpfiger Adler zu sehen. Das ist kein Zufall. Damit will das grösste Land der Welt mit seinen 17 Mio. km2 an Fläche deutlich machen, dass es gleichzeitig zu zwei Welten gehört - der westlichen und der eurasischen, wobei das Ural-Gebirge die geografische Grenze darstellt. Diese Haltung schafft auch interne Spannungen. Manche politischen Kräfte zieht es nach Westen, andere nach Osten. Eine endgültige Entscheidung aus dem Kreml ist nicht zu erwarten, solange sich der grösste Teil der russischen Bevölkerung westlich des Ural und die strategischen Rohstoffe östlich davon befinden. 

 

Die Ukraine ist nicht nur die historische Wiege der russischen Nation, sondern sie legitimiert auch durch ihre geografische Lage Russlands Anspruch auf europäische Identität. Kippt die Ukraine in die westliche Einflusssphäre und wird sie in die EU und/oder  NATO aufgenommen, verliert Russland nicht nur eine geostrategische Pufferzone, sondern auch einen erheblichen Teil seiner europäischen Identität. Demnach wäre Russland „nur noch“ eine asiatische Macht und der Adler auf der Flagge der Russischen Föderation würde gewissermassen einen Kopf verlieren. Mit allen vermeintlich geostrategischen Konsequenzen: Rein ideologisch wäre z.B. ein Angriff auf ein asiatisches Russland einfacher zu begründen - auch aus europäischer Sicht.  

 

Die USA stecken in einem Dilemma: Einerseits wollen oder müssen sie den Krieg gegen Russland vermeiden, der im schlimmsten Fall in einen Nuklearkrieg ausarten könnte, andererseits haben sie sich mit ihrem militärischen verlängerten Arm - der NATO - und ihrem improvisierten und mit ihren Alliieren unabgesprochenen Rückzug aus Afghanistan vor der ganzen Welt bis auf die Knochen blamiert. Wenn es einen Staatschef gibt, der Vorwände sucht - notfalls auch einen Krieg -, um seine WählerInnen hinter sich zu scharen, dann ist es eher Joe Biden als Wladimir Putin. 

 

Doch die USA sind nicht nur im Clinch mit Russland, sondern vor allem auch mit dem aufstrebenden China. Daher fürchten sie eine militärische Allianz zwischen Moskau und Beijing. Wie die Konfiguration USA - Russland - China aussehen könnte im Kriegsfall ist viel zu komplex, um hier behandelt zu werden. Doch wenn es Washington gelingt, Russland durch einen regime change zu neutralisieren oder auf seine Seite zu ziehen, dann könnte Washingtons zumindest einen Zweifrontenkrieg vermeiden.  

 

Die Ukraine selbst, die seit der Wende unter Entvölkerung, Korruption und Misswirtschaft leidet, hat - trotz aller martialischer Rhetorik -  in einem Krieg nichts zu gewinnen. 

 

In Europa herrscht noch die Erinnerung von einem 20. Jh., das von Krieg und Elend gezeichnet war. Die Amerikaner haben ein derart nachhaltiges Ereignis nie erlebt - auch der 11. September 2001 steht ereignisgeschichtlich in keinem Verhältnis zu drei Jahrhunderte totaler Krieg. Aber die USA verdienen seit 1945 an jedem Krieg - an Geld und Macht, der nicht auf ihrem Territorium stattfindet. Während Europa nur verlieren kann. 

 

Und was die Dämonisierung von Wladimir Putin sowie die Kriegsrhetorik des Westen angeht, möchte ich auf den Historiker Eric Hobsbawm hinweisen, der exemplarisch zeigt, wie Menschen von der Politik instrumentalisiert werden können: „Totale Kriege verwandelten sich in „Volkskriege“, weil Zivilisten und ziviles Leben zum geeigneten und manchmal auch eigentlich Ziel der Strategie wurden und weil in demokratischen Kriegen der Gegner ebenso dämonisiert wird wie in der demokratischen Politik - denn nur so kann erreicht werden,  dass er wirklich hassenswert oder zumindest verabscheuungswürdig erscheint.“ (6)

 

Ich komme nun auf meine anfänglichen Fragen zurück: Warum wird die Lage von den westlichen Kanzleien und Medien aufgeheizt? Warum kann die westliche Welt nicht begreifen, dass die sicherheitspolitischen Ängste Russlands genauso erst zu nehmen sind, wie diejenigen der USA, als in den 1960er-Jahren  die Sowjetunion heimlich ballistische Raketen auf Kuba stationierte? 

 

Die Antwort darauf konnten Sie aus Auszügen von Brzezinskis Buch lesen. Und warum ticken die meisten US-amerikanischen Strategen, Politiker, Generäle und Medien wie Brzezinski? Weil die  internationalen Beziehungen ein Nullsummenspiel sind: Was ein Staat gewinnt, verliert ein anderer. Was ein Staat verliert, gewinnt ein anderer. Macht ist offensichtlich nicht teilbar. 

 

Virginia Bischof Knutti©08.02.2022

 

Quellen und Anmerkungen: 

  1. Zbigniew Brzezinski, Le grand échiquier - l’Amérique et le reste du monde, Editions Hachette, Collection Pluriel, Paris, 1997, S. 57-73.
  2. Verstehen Sie „Russland“ (Anm. der Autorin). 
  3. Verstehen Sie „China“ (Anm. der Autorin). 
  4. Verstehen Sie „Russland und China“ (Anm. der Autorin).
  5. Aufnahme oder Wahl von Mitgliedern durch die übrigen Mitglieder einer Gemeinschaft  (Anm. der Autorin). 
  6. Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Deutscher Taschenbuch Verlag, München, 11. Auflage, 2012, S. 72-73.

Bild: Wikipedia commons

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