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Krieg in der Ukraine - Wo führt das hin?

Ein Essay zu möglichen globalen Auswirkungen des Krieges in der Ukraine

Anlass für diesen Essay ist der Krieg in der Ukraine, der nun seit über einem Monat tobt. 

Bei allem Verständnis für das Leid der ukrainischen Bevölkerung, bei aller Verurteilung des Krieges, ich bin mir nicht sicher, dass die Menschen weltweit ahnen, worauf es in diesem Krieg ankommt.   

Auch ich bin überrascht gewesen, dass Wladimir Putin zum äussersten greifen würde. Fest steht: Viele haben ihn und seine Entschlossenheit unterschätzt. Sein Handeln sollte nicht von  irgendeiner Form von Wahnsinn, sondern von Verzweiflung zeugen. Weil er wohl ganz genau weiss, worauf es in diesem Krieg ankommt. 

Der Bär wurde in die Ecke gedrängt und nun schlägt er zurück. Damit hätten wir, passive und indifferente SchweizerInnen und WeltbürgerInnen, rechnen müssen, aber wir haben weggeschaut und uns einem von aussen diktierten bequemen Konformismus hingegeben. Genau hingeschaut und mit erwarteten Konsequenzen gerechnet, haben hingegen die Strippenzieher, die den russischen Präsidenten provoziert und zu einem verhängnisvollen Verhalten verleitet haben. 

Es ist nicht verkehrt, einen Monat nach dem Ausbruch des Krieges, innezuhalten und fern von Kriegsrhetorik über den Ursprung dieses Kriegs geopolitisch zu reflektieren. Denn es geht um mehr als „bloss“ um den Krieg in der Ukraine.

 

 

 

Ausgangslage

Meine LeserInnen kennen meinen Standpunkt zur Auslösung des Krieges in der Ukraine. Laut Brzezinski-Doktrin (siehe Blog vom 8. Februar 2022) ist die Ukraine ein Pivot-Land der US-amerikanischen Geopolitik in Bezug auf die Kontrolle des eurasischen Kontinents und insbesondere Russlands. Wird die Ukraine  dem Einfluss Russlands entzogen, kollabiert das russische „Imperium“ und das Tor steht offen zu den zahlreichen Rohstoffen des Landes. 

 

Warum wird die Brzezinski-Doktrin, obwohl sie sozusagen offen vor den Füssen eines jeden liegt, in der westlichen Presse so gut wie nie thematisiert oder gar ignoriert? Vermutlich deshalb, weil sie den russischen Angriff auf die Ukraine völkerrechtlich zumindest teilweise (aus Russischer Sicht) legitimieren würde. 

 

Entgegen einer weitläufigen Meinung verbietet das Kriegsvölkerrecht den Krieg nicht - auch heute nicht. Ansonsten könnte sich kein Land auf dieser Welt, das aus welchen Gründen auch immer angegriffen wird, verteidigen. Es gilt immer noch das Prinzip des „bellum justum.“ Ich will damit nicht sagen, dass der Krieg in der Ukraine ein gerechter Krieg ist. Es sei denn, man bedient sich Argumente der US-amerikanischen Aussenpolitik:  

 

Nach den Anschlägen von 11. September 2001 hat US-Präsident George W. Bush das Prinzip des „Präventivschlags“ für sich beansprucht. Jeder Staat, der im Verdacht steht, US-amerikanischen Interessen zu gefährden, müsse mit einem Präventivschlag rechnen. Seitdem sind die USA offen in Afghanistan, in den Irak, in Libyen und verdeckt in eine Reihe anderer Operationen weltweit einmarschiert. Das hat nie zu juristischen oder politischen Konsequenzen geführt.

 

Nun, könnte es sein, dass der Bau und die Finanzierung durch das Pentagon von rund 30 biologischen Waffen-Labors in der Ukraine und die Annahme durch Moskau eines unmittelbar bevorstehenden Angriffs auf die Bevölkerung des Donbass mit einem  Präventivschlag zuvorgekommen wurde? Oder ist der Präventivschlag ein Exklusivrecht der USA?

 

Oder kann es zumindest sein, dass die Brzezinski-Doktrin und das darauf bauende Zermürben und Provozieren Russlands seit über zwei Jahrzehnten am Ende dazu geführt haben, Wladimir Putin in die Ecke zu drängen und ihn zum einem nach westlicher Sichtweise „fehlerhaften“ Verhalten geleitet haben?

Provokation - eine unmittelbar nicht letale Waffe, die aber zu letalen Folgen führen kann.  

 

Von Propaganda und Antipropaganda

Woher nehmen Sie, liebe LeserInnen, Ihre Informationen, um einigermassen zu erfahren, was in diesem Krieg läuft?  

 

Es gehört nunmal zur Kriegführung, Propaganda zu betreiben. Also selbstverständlich übt sich Moskau tüchtig darin. Aber wie wird russische Propaganda im Westen bekämpft? Mit westlicher Propaganda. Welche ist besser? glaubwürdiger?

 

Fakt ist, wenn Sie einigermassen informiert sein wollen, müssen sie die „andere“ Sichtweise“ auch kennen, oder zumindest lesen, um sich der „goldenen“ Mitte zu nähern. 

Themen wie Kriegsverbrechen und Genozid sind auch beliebte Schlagwörter jeglicher Propaganda seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs - davor waren sie kein Thema. Nur um es klarzustellen: 

 

  1. Genozid ist kein Kriegsverbrechen, sondern ein Verbrechen gegen die Menschheit. Eine universell akzeptierte Definition von Verbrechen gegen die Menschheit gibt es aber noch heute nicht. Ebensowenig eine über Genozid.
  2. Um Genozid vorzuwerfen, ist die Anzahl Opfer nicht massgebend, sondern die absichtliche und systematische Planung, ein Volk auslöschen zu wollen. 
  3. Und was Kriegsverbrechen angeht, es ist Sache von Gerichtshöfen, nicht von der Presse oder von eifrigen Politikern, darüber zu befinden.    

Und noch etwas: Wie aussagekräftig sollen Umfragen in der Schweiz oder in Europa sein, die noch schärfere Sanktionen gegen Russland unterstützen, wenn die Bevölkerung nur die eine Seite der Geschichte kennt? 

 

Und wie staatsmännisch ist „der mächtigste Mann der Welt“, der seinen Gegner als Killer oder wie neulich als Schlächter bezeichnet? Wenn es jemanden gibt, der den ersten Stein nicht werfen sollte, dann ist es genau der US-amerikanische Präsident.

 

 

Vom Boomerangeffekt von Sanktionen

Wirken die zahlreichen Sanktionen auf Russland? 

 

Irgendwie muss es doch einen Staat schmerzen, wenn er nur noch auf die Hälfte seiner Währungsreserven zurückgreifen,  wenn kein Aussenhandel (ausser mit dem aus westlicher Sicht lebensnotwendigen Gas und Erdöl) mehr betrieben werden kann, oder wenn viele AmtsträgerInnen unter Reiseverbot aus dem eigenen Land stehen. 

 

Ausnahmsweise erheben sich hie und da in Europa und in der Schweiz einige Stimmen, die den Boomerangeffekt von Sanktionen befürchten, gegen den Konformismus. Doch im Allgemeinen gilt, dass der hohe Preis für die Sanktionen in Kauf genommen wird, so z.B. die deutsche Aussenministerin. Bloss, wer ist „wir“?

 

Machen wir uns nichts vor. Mit den Sanktionen gegen Russland versuchen die USA und die EU indirekt den Konsum, den sie fast bis zur Erschöpfung der Energiequellen vorbehaltlos gefördert haben, zu reduzieren und ihre Bevölkerung auf schwere Zeiten zu trimmen. 

 

Denn, wenn Russland sein Getreide oder all die anderen Güter, die es im Überfluss produziert, nicht mehr exportieren kann oder darf, werden diese auf dem Markt fehlen und die Preise werden unweigerlich steigen. Leidtragende sind dann die Bevölkerungsteile eines jeden Landes, die mit dem Preisanstieg nicht mithalten können. Der nächste Winter dürfte in den europäischen Wohnungen auch weniger gemütlich sein als auch schon. 

 

 

 

Was kommt danach?

Über die Zeit danach wird kaum reflektiert. Man ahnt nur, dass schwierigere Zeiten auf uns warten. Was könnte konkret kommen? Ohne die Sterne zu deuten versuchen, steht eines fest: Die Welt danach wird nie mehr so sein, wie sie war. Doch was bedeutet das? 

Vorausgesetzt der Krieg bleibt geografisch begrenzt und er eskaliert nicht zu einem nuklearen Krieg, kann man grundsätzlich mit zwei Ausgängen rechnen: 

 

  1. Von Kriegsgewinn will ich gar nicht sprechen, denn mit den dauerhaften menschlichen und materiellen Schäden, die resultieren werden, kann man nicht von Kriegsgewinn sprechen. Sagen wir es so: Entweder setzt sich Wladimir Putin mit seinen Forderungen gegenüber der Ukraine (und der westlichen Welt) durch und diese werden dann lernen müssen, mit ihm zu kooperieren. 
  2. Oder Wladimir Putin wird irgendwie von innen oder von aussen neutralisiert und Russland verliert den Krieg und jeglichen Anspruch auf jegliche Forderungen. Womöglich ist auch mit schweren inneren Unruhen zu rechnen. 

Welcher Ausgang kommen wird, entscheidet sich weder in der Schweiz noch in der EU. Möglicherweise auch nicht allein in  Washington, denn an den Bodenschätzen Russlands haben viele Staaten und Konzerne ein reges Interesse.

 

Versuchen Sie sich vorzustellen, was im ersten Fall passieren würde: Die USA werden einen Modus vivendi mit Russland finden müssen, was ipso facto impliziert, dass sie die Vorherrschaft über die ganze Welt aufgeben und sie dem Tandem China-Russland übergeben müssten, die sich eine ganz andere Weltordnung wünschen. Ein solches Szenario kommt aus meiner Sicht nur in Frage, wenn die USA im Inland so hoffnungslos zerstritten sind - und Gründe dafür gibt es genug -, dass sie keine (aggressive) Aussenpolitik mehr betreiben können. Schwer vorstellbar, aber nicht undenkbar. 

 

Den zweiten Fall hat Europa schon mal nach dem Ersten Weltkrieg durchgemacht. Es erwies sich als Fehler, Deutschland zu verachten und aus der Wirtschaftscommunity rauszuwerfen. Nur ist Russland nicht Deutschland. Wie gesagt, Ersteres verfügt über wertvolle Rohstoffe. So stünde es wieder wie 1991 nach der Machtübernahme durch Boris Jelzin wie ein Supermarkt an einem Black Friday da. Ein durchaus denkbares Szenario. 

 

Sie ahnen es: Wir nähern uns langsam dem wahren Problem.  

 

Was ist das wahre Problem?

Die Rohstoffe sind nur noch begrenzt vorhanden und das aufstrebende China beansprucht eine Menge davon. Für die Bevölkerung, die weltweit nach westlichen Standards zu leben gedenkt, werden sie nicht mehr lange reichen, zumal die Weltbevölkerung weiter wächst. 

 

Daraus folgen wiederum zwei Szenarien:

 

  1. Russland ist zu gross, zu wenig bevölkert, seine Kultur und Ideologie dem Westen allzu fremd und feindlich eingestellt, als dass es von seinen wertvollen Rohstoffen weiterhin Nutzen ziehen dürfte. Deshalb müsste es bezwungen werden. Welcher Staat würde sich - Hand aufs Herz - nicht erfreuen, ungehinderten Zugang zu russischen Rohstoffen zu haben? Man kann schon die Goldgräberstimmung förmlich riechen. Doch Ordnung muss sein. Sehr wahrscheinlich würden die USA versuchen, die Zugangsrechte - mit oder ohne China - zu regeln und ihre treusten Alliierten mit den Resten abzuspeisen. 
  2. Gelinge es doch nicht, Russland zu bezwingen und für seine Rohstoffe zugänglich zu machen, würde sich der Rest der Welt einschränken müssen. Aber nicht alle. Vorläufig nur diejenigen, die es nicht vermögen. Sozialdarwinismus wäre die unmittelbare Folge. 

Die Plünderung Russlands mag das Ressourcenproblem vorübergehend lösen, aber zu welchem Preis? Und was kommt danach? Welches Land wird nächstes Opfer der westlichen Gier sein? 

 

Ich verstehe sehr wohl und hoffe es auch, dass man in Europa und in der Schweiz kein Zurück zu den gewaltvollen Zeit des letzten Jahrhunderts erleben will. Aber liegt die Befreiung der Ukraine nur in der Vernichtung Russlands? 

 

Indem der Westen Russland im Namen der Demokratie zu vernichten versucht, macht er sich zum Täter bzw. zum Komplize einer noch grösseren Ungerechtigkeit. Und er verrät die Werte, die er so hoch gelobt hat. 

 

Welche Werte soll man künftig verteidigen, wenn sie am Ende so relativ sind oder nur nach dem Prinzip der Doppelmoral angewendet werden?

 

Als Fazit: Kann sich die Schweiz dem Hype entziehen?

Der spontane Solidaritätselan gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen ist einmalig und lobenswert. Er steht hier gar nicht zur Debatte. 

 

Mit „Hype“ meine ich die Hysterie, die sich angeblich gegen den Krieg richtet, in Wahrheit sich aber als zielorientierte Russophobie entpuppt; die vorbehaltlose Unterstützung der  Ukraine, mit welchen Mitteln auch immer, die sich in Wahrheit als ebenso vorbehaltlosen Konformismus zur US-Geopolitik erweist. 

 

Genauso wie zur Zeit der beiden Weltkriege oder des Kalten Krieges kann sich die Schweiz dem westlichen Konformismus nicht entziehen, schon deshalb, weil sie eingeschlossen ist, und ferner, weil sie die Grundwerte dieses Systems selbst tief in sich trägt. Das ist verständlich. Aber weshalb müssen wir die durch Presse und Politik geschürte Hetze auf Wladimir Putin und sein Volk vorbehaltlos unterstützen? 

 

Im Gegensatz zum Zweiten Weltkrieg, wo der Bundesrat mit Lavieren zwischen dem Dritten Reich und den Alliierten es schaffte, durch schwierige Gewässer zu navigieren, scheint die Regierung diesmal keinen „Sonderfall“ eingehen zu wollen. Ist es das, was wir SchweizerInnen von der Vergangenheit gelernt haben, dem Mainstream schön brav zu folgen, auch wenn er moralisch höchst fragwürdig ist?  

 

Ob AmtsträgerInnen, Medienschaffende oder einfache BürgerInnen, wir machen uns doch nicht zu Komplizen oder Helfern von Wladimir Putin, wenn wir die allgemeine Hetze ablehnen, zur Raison appellieren, die Lage zu entschärfen beitragen, statt den Interessen von Kriegstreibern zu folgen. 

 

Die Historiker werden in 50 Jahren darüber befinden.

 

Virginia Bischof Knutti©29.03.2022

 

Karte: Militärische Lage am 24.03.2022

Quelle: Wikipedia Commons

 

P.S.

Der Bericht "Overextending and Unbalnding Russia" vom 24.04.2019 von RAND Corporation zeigt wie die Brzezinski-Doktrin in Tanten umgesetzt wird:  https://www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html.

 

 

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