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Wissen ist Macht - Teil 2

Ein Leuchtturmprojekt für Graubünden

Wissen ist Macht. Macht ist Wissen. Wissen hat die Bourgeoisie ab Mitte des 18. Jh. zur Macht verholfen. Warum sollte es im 21. Jahrhundert anders sein?

ie FernUni Schweiz und die Fernfachhochschule Schweiz (FFHS) haben am 19./20. August 2022 den neuen Hochschulcampus in Brig (VS) feierlich eröffnet. 

Der Hochschulcampus umfasst sechs Geschosse sowie ein Untergeschoss inklusive Einstellhalle. Zwei Stockwerke sind für die gemeinsame und öffentliche Nutzung (Cafeteria, Konferenz- und Schulungsräume) vorgesehen und je zwei Geschosse beherbergen die rund 180 Arbeitsplätze der FernUni Schweiz und der Fernfachhochschule (FFHS). Beide Institutionen haben ihren Hauptsitz in Brig und führen insgesamt acht Standorte in der Schweiz, an denen 5’100 Studierende (FernUni Schweiz: 2’335, FFHS: 2’800) unterrichtet werden. 

Die FernUni Schweiz wurde 1992 als Stiftung gegründet. Seit 2004 ist sie ein vom Bund anerkanntes universitäres Hochschulinstitut. Somit ist der Kanton Wallis, nach dem Tessin (1996), der zweite Gebirgskanton, der eine eigene, anerkannte, wenn auch Fern-Universität, führt. Doch dabei lässt es Wallis nicht bewenden:  Ab 2027 soll die FernUni Schweiz zusätzlich zu ihren Fernstudien ein ordentliches universitäres Programm mit Forschung und Lehre anbieten. 

Somit setzen unsere Nachbarkantone Wallis und Tessin auf akademische Bildung - eine konsequente Bildungspolitik, die im ersten Teil dieser Analyse am Beispiel der FernUni Schweiz in Brig präsentiert wurde. 

Im zweiten Teil wird nun auf die Bildungslandschaft von Graubünden  fokussiert.  Es geht nun darum, einige Vergleiche bezüglich Bevölkerung und Bildungsstand der beiden Kantone anzustellen und Schlussfolgerungen für Graubünden zu ziehen. 

 

Graubünden und Wallis im Vergleich

Die Situation im Wallis und Graubünden lässt sich nicht so einfach vergleichen. Obwohl beide Kantone mehrsprachig und grösstenteils von Gebirgen geprägt sind, lassen sich die geografischen Hindernisse in Graubünden viel aufwändiger bewältigen als im Wallis. Die Geografie hat auch gegensätzliche Auswirkungen auf die Bevölkerung beider Kantone hervorgebracht. So ist das Wallis durch ein hohes Bevölkerungswachstum gekennzeichnet, so hoch, dass es derzeit über dem Schweizer Durchschnitt liegt, während Graubünden ausserhalb des Churer Rheintals laut Bevölkerungsperspektiven des BFS in den nächsten 30 Jahren massiv an Bevölkerung verlieren soll. Darüber habe ich in früheren Analysen mehrfach berichtet. 

 

Ich möchte vier gegenläufige Entwicklungen zwischen Graubünden und Wallis aufzeigen: allgemeine Bevölkerungsentwicklung, Anteil städtischer Bevölkerung, Bildungsstand der 25-64-Jährigen und Finanzausgleich. 

 

Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung 2010-2019

 

 

7'870'134
  GR VS CH
Bevölkerung 2010 192'621 312'684  
Bevölkerung 2019 199'021 345'525 8'606'033
Differenz  6'400 32'841 735'899
in %  3.3 10.5 9.3

Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von Bundesamt für Statistik (BFS), Kantonsportraits

 

Da Universitäten (auch staatliche) nach dem Prinzip der Rentabilität funktionieren, ist ein grosser Bestand an Studierenden die erste Voraussetzung, um ein solches Institut über längere Zeit erfolgreich betreiben zu können. Zwischen 2010 und 2019 ist die Bevölkerung Graubündens noch gewachsen (+ 3,3 %), jedoch in keinem Verhältnis zum Wallis (+ 10,5 %). Für das Wallis hält der Trend an. Laut Bevölkerungsentwicklung der Schweiz und der Kantone des Bundesamts für Statistik (BFS) 2020-2050 soll die Walliser Bevölkerung um 14,5 % steigen, während diejenige von Graubünden um 4 % sinken soll. (1) Für das Wallis ist also die erste Voraussetzung erfüllt, um eine Universität gründen und führen zu können. Unterstützend kommt ein weiterer Faktor dazu: die Verstädterung des Kantons.

 

Tatsächlich geht das Bevölkerungswachstum im Wallis mit einer rasanten Urbanisierung des Kantons einher, während Graubünden sich in die entgegengesetzte Ökologisierung des Kantons bewegt, wie folgende Tabelle zeigt: 

 

Tabelle 2: Anteil städtischer Bevölkerung 2010-2019

 

73.7
  GR VS CH
Städtische Bevölkerung in % (2010) 49.8 56.8  
Städtische Bevölkerung in % (2019) 44.9 78.9 84.8
Differenz in Prozentpunkte -4.9 22.1 11.1

Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von Bundesamt für Statistik (BFS), Kantonsportraits

 

Die Urbanisierung einerseits und das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Umfeld andererseits stehen in wechselseitiger Beziehung zueinander. Sie begünstigen das Lernen und den Austausch zwischen Studierenden, aber auch die Beziehungen zwischen dem Campus, der Wirtschaft und dem sozialen Umfeld. Nebenbei gesagt, die Urbanisierung bringt aber nicht nur Standortvorteile, sondern auch ihr Los an dazugehörigen gesellschaftlichen Problemen wie erhöhter Kriminalität und vermehrten Drogenkonsum, die sich im Wallis dem Schweizer Durchschnitt nähern.

 

Punkto Bildungsstand hat unser Nachbarkanton einen grösseren Nachholbedarf als Graubünden, was das konsequente Setzen auf Bildung erklären kann.

 

Tabelle 3: Bildungsstand der 25-64-Jährigen in % (2010-2019)

 

 

  GR VS CH
Ohne nachobligatorische Ausbildung (2010) 24.6 29.3  22.9
Ohne nachobligatorische Ausbildung (2019) 18.1 26.3 19.0
Differenz in Prozentpunkten -6.5 -3.0 -3.9
Sekundarstufe II (2010) 54.2 48.0 49.2
Sekundarstufe II (2019) 53.1 46.0 45.4
Differenz in Prozentpunkten -1.1 -2.0 -3.8
Tertiärstufe (2010) 16.0 15.1 21.5
Tertiärstufe (2019) 28.8 27.6 35.6
Differenz in Prozentpunkten  12.8 12.5 14.1
Hochschulabschlussquote (2019 27.3 28.9 30.2

Quelle: Eigene Darstellung auf der Basis von Bundesamt für Statistik (BFS), Kantonsportraits

 

Die Rate Personen ohne nachobligatorische Ausbildung ist im Wallis nach wie vor höher als in Graubünden und höher als der Schweizer Durchschnitt. Graubündens Rate hingegen liegt unter dem Schweizer Durchschnitt. 

 

Ebenso tiefer als in Graubünden ist im Wallis die Rate Personen mit einem Abschluss der Sekundarstufe II, und nähert sich 2019 dem Schweizer Durchschnitt. In Graubünden liegt die Rate höher als den Schweizer Durchschnitt. 

 

Ähnlich verlaufen ist in beiden Kantonen die Rate Personen mit einem Abschluss auf tertiärer Stufe zwischen 2010 und 2019. Sie hat erheblich zugenommen, aber nicht sosehr wie im Schweizer Durchschnitt, sodass in beiden Gebirgskantonen noch Potenzial besteht. 

 

Schliesslich hat bei der Hochschulabschlussquote das Wallis gegenüber Graubünden die Nase vorn. Beide Kantone liegen allerdings unter dem Schweizer Durchschnitt. Also liegt hier ebenso ein gewisses Entwicklungspotenzial in beiden Kantonen.

 

Was den Finanzausgleich betrifft, so finanziert sich Graubünden laut Finanzstatistik 2017 zu 44,1 % durch Bundesgelder, Wallis zu 33,5 %. (2) Das ist ein erheblicher Unterschied, der zweifellos mehr auf die Handlungsfreiheit der Bündner Politik als auf die Walliser Politik drückt. Doch Wallis hat doppelt so viel Bruttoschulden als Graubünden (2,178 Mrd. Franken vs. 1,050 Mrd. Franken)(3). Das bedeutet, salopp formuliert, dass Wallis sich seine Handlungsfreiheit ausser Reichweite von Bern holt. Das ist ein gewagter Schritt, doch für Walliser Verhältnisse eine Selbstverständlichkeit. 

 

Diese wenigen Vergleiche haben gezeigt, dass Wallis und Graubünden sich in einer ungleichen Ausgangslage befinden.   Der Bevölkerungszuwachs und die Urbanisierung nimmt Wallis zum Anlass, auf Bildung, ja sogar auf universitäre Bildung zu setzen. Zunehmende Ökologisierung und Abwanderung hingegen hindern den Kanton Graubünden, in solchen grossen  Dimensionen zu denken. 

 

Dabei zeigt Graubünden durchaus Interesse für Hochschulbildung. Dafür spricht z.B. die Ansiedlung von drei Institutionen: 

 

  • Fachhochschule Graubünden (FHGR): Sie stammt aus der Loslösung am 1. Januar 2020 von der Fachhochschule OST und der nachfolgenden Gründung einer eigenen Fachhochschule, der FHGR. Aufgrund wachsender Bestände und Verzettelung der Räumlichkeiten über die ganze Stadt Chur soll zwischen 2024 und 2030 ein erweitertes Fachhochschulzentrum an der Pulverstrasse errichtet werden. Kostenpunkt: 178 Mio. Franken, was für Bündner Verhältnisse ein aussergewöhnliches Projekt darstellt. 
  • Academia Retica mit sitz in Davos: Sie vereint alle Studierenden und Mitarbeitende in den Forschungsinstituten und Hochschulen des Kantons Graubünden. Was die Forschung angeht, ist sie vor allem im gesundheitlichen Bereich aktiv. Sie bietet aber selbst keine Bachelor- oder Master-Studiengänge, sondern „nur“ doktorierende und Postdocs-Lehrgänge an. Mit anderen Worten ist ihre Wirkung hinsichtlich der potenziellen Entwicklung des Kantons zu eng. 
  • Das Institut für Schnee- und Lawinenforschung (SLF) in Davos als Ableger der ETH: Es gehört zur Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) und damit zum ETH-Bereich. Rund 140 Personen forschen zu den Themen Schnee, Atmosphäre, Naturgefahren, Permafrost und Gebirgsökosysteme und entwickeln innovative Produkte für die Praxis. Dabei sind Doktorierende (25 Personen) und Studierende (10 Personen)  eine kleine Minderheit.

Es liegt mir fern, die Leistungen dieser renommierten Institutionen zu schmälern. Doch ihre Wirkung scheint mir allzu sehr auf einige Gebiete konzentriert (Betriebswirtschaft, Tourismus, Gesundheit). Ausserdem richten sie sich nicht an Absolventen der Gymnasialmatura, sondern an Post-Doktoranden. Was Graubünden fehlt, ist die Chancengerechtigkeit, seine jungen AkademikerInnen selber ausbilden und Nutzen daraus ziehen zu können. Mit anderen Worten, das Bündner Bildungssystem bildet gute ausführende, aber zu wenig Wissen produzierende, kritische und top-verdienende Arbeitskräfte aus.

 

Um dies zu begreifen, müssen wir uns zuerst im Klaren darüber sein, was der Unterschied zwischen Universität und Fachhochschule ist und was eine eigene Universität bringt - abgesehen der unvermeidlichen hohen Kosten. 

 

 

Universität oder Fachhochschule?

In der Schweiz gibt es derzeit neben der ETH Zürich und der EPF Lausanne zehn kantonale Universitäten und eine Fernuniversität in Brig. Ihre Anerkennung als universitäre Hochschulen gibt ihnen Zugang zu Bundesgeldern nach verschiedenen Kriterien (feste Beiträge, Beiträge nach Leistungen in der Lehre bzw. in der Forschung). Der „Kuchen“ ist allerdings nicht beliebig dehnbar. Jeder Kanton, der eine Universität gründet und Anspruch auf Bundesgelder erhebt, schränkt automatisch den Anteil der anderen Kantone ein. Es versteht sich also von selbst, dass eine neue Universität auf einer soliden Finanzbasis (Kanton, Gemeinden und private Investitionen) stehen muss und im Prinzip die älteren Universitäten nicht konkurrieren darf, indem sie Studiengänge anbietet, die die anderen auch führen. 

 

Dies berücksichtigt, ist der Betrieb einer eigenen Universität für einen Kanton zuerst eine Frage des Prestige. Die Akademie in Neuenburg wurde 1838 vom preussischen König gegründet, 1848 geschlossen, 1866 wiedereröffnet und 1909 zur Universität erhoben. Es versteht sich von selbst, dass der Kanton Neuenburg alles unternehmen wird, um sie zu behalten. 

 

m 20. Jh. ist 1973 die Gründung einer Aargauer Universität gescheitert. Hingegen wurden 1996 die erste italienischsprachige Universität im Tessin, die Università della Svizzera italiana, mit Sitz in Lugano und Mendrisio, sowie 2000 die Universität Luzern als einzige katholische Universität der Schweiz gegründet. Im Tessin wie in Luzern haben die Universitäten ein spezifisches Identitätsmerkmal (Sprache oder Konfession), welches ihre Differenzierung und ihre Aufnahme im geschlossenen Kreis der Schweizer Universitäten legitimierte. 

 

Die Bolognareform von 1999 hat allerdings die Karten neugemischt, indem sie unter anderem die akademische Ausbildung harmonisiert und die Studienabschlüsse Bachelor und Master an europäischen Universitäten und Fachhochschulen gleichgesetzt hat. 

Manche Kantone, die sich keine Universität leisten konnten, haben hinsichtlich oder nach der Bolognareform innerhalb einer Grossregion Technika in Fachhochschulen umgewandelt. Sodass man in den bevölkerungsreichsten Kantonen sowohl Universitäten als auch Fachhochschulen findet, wie in Zürich, Bern, Basel oder Waadt. 

 

Doch gleichgesetzt heisst nicht gleichwertig. Es ist nach wie vor kein Zufall, wenn Studierende sich für eine Universität oder für eine Hochschule entscheiden. Das Graubündner Amt für Bildung definiert beide Institutionen wie folgt: 

 

  • Universitäre Hochschulen: Zu den universitären Hochschulen gehören die Universitäten und die Eidgenössischen Technischen Hochschulen. Universitäten und ETHs sind Orte, an denen durch Forschung neues Wissen generiert wird. Die theoretische Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Fachgebiete bildet den Schwerpunkt des Studiums. Studierende lernen Probleme zu erfassen, Erkenntnisse methodisch zu gewinnen, zu interpretieren und kritisch zu beurteilen. Diese wissenschaftliche Ausbildung führt in der Regel nicht zu einer spezifischen Berufsausbildung, sondern bildet eine allgemeine Berufsbefähigung. Dies führt zu einer grossen Palette an Berufsmöglichkeiten. Die meisten Studierenden schliessen ihr Studium mit einem Master ab.
  • Fachhochschulen: Es gibt in der Schweiz sieben Fachhochschulregionen, denen jeweils mehrere Schulen angegliedert sind. Die Fachhochschulen arbeiten eng mit der Wirtschaft und öffentlichen Institutionen zusammen. Die Ausbildung ist geprägt durch angewandte Forschung und durch einen hohen Praxisbezug. Das Studium findet meistens in überschaubaren Gruppen statt und die Ausbildung eröffnet häufig konkrete berufliche Perspektiven. Die meisten Studierenden schliessen ihr Studium mit einem Bachelor ab. Es gibt aber auch an den Fachhochschulen ein grosses Angebot an Masterstudiengängen. (4)

Anders formuliert, Fachhochschulen sind praxisorientierte Bildungsinstitutionen, während die Universitäten eher auf allgemeines und abstraktes Wissen fokussieren. Beide Institutionen finden sich also an der Schnittstelle zwischen Praxis und Theorie. Daher sprechen sie nicht das gleiche Publikum an. Aber beide sind Wirtschaftsmotoren.

 

Universitäten und Hochschulen als Quellen der Wertschöpfung

Aus Platzgründen verzichte ich hier darauf, die Karten der Lage und Grösse der universitären Hochschulen und Fachhochschulen abzubilden. Sie finden sie unter folgenden Links: Universitäten: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/neue-veroeffentlichungen.assetdetail.12607913.html und Hochschulen: https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/karten.assetdetail.17024559.html. 

 

In der Grossregion Ostschweiz ist lediglich die Universität St. Gallen vertreten, die Südostschweiz zeichnet sich hingegen durch gähnende Leere aus. Ich gebe hier ferner zu bedenken, dass auf der Karte weder die FernUni Schweiz noch der Ableger der EPFL in Sion abgebildet sind. 

 

Die Karte der Hochschulen ist in der Ostschweiz neuerdings etwas dichter geworden dank der Aufspaltung in die Ostschweizer Fachhochschule (OST) und die Fachhochschule Graubünden (FHGR). 

 

Dass Universitäten und Hochschulen Wirtschaftsmotoren sind, gilt als gesicherte Aussage. Es wäre jedoch auch interessant zu erfahren, ob es einen direkten Zusammenhang gibt zwischen der Dichte der Hochschulen und dem Durchschnittslohn in den sieben Grossregionen der Schweiz. Die folgende Tabelle scheint jedenfalls in dieser Richtung zu argumentieren. 

 

Tabelle 4 : Monatlicher Bruttolohn nach Grossregionen (2020), in Franken, privater und öffentlicher Sektor zusammen

 

6'092
Region Total 1+2 3 4 5
Genfersee 6'731 11'200 9'402 7'385  
Espace Mittelland 6'600 9'949 8'263 7'232 6'129
Nordwestschweiz 6'789 10'968 8'929 7'557 6'195
Zürich 7'113 11'475 9'524 7'993 6'166
Ostschweiz 6'274 9'174 7'645 6'682 5'850
Zentralschweiz  6'585 9'976 8'132 6'932 6'083
Tessin  5'546 8'537 7'056 5'942 5'137
Schweiz  6'665 10'531 8'762 7'287 6'062

Quelle: Bundesamt für Statistik (BFS)

 

Legende:

1 + 2 = oberstes, oberes unimittleres Kader

3 = unteres Kader

4 = unterstes Kader

5 = ohne Kaderfunktion

 

Wenn man die Kolonne „Total“ berücksichtigt, zahlt die Grossregion Ostschweiz (5) - zusammen mit dem Tessin - tatsächlich die tiefsten Löhne der Schweiz und liegt 5,8 % unter dem Schweizer Durchschnitt. Das Wallis (Genferseeregion (6)) hingegen liegt 0,9 % über dem Schweizer Durchschnitt. Die Grossregion Zürich bezahlt geradezu 13,3 % mehr als die Region Ostschweiz. 

 

Daraus kann man schliessen, dass die Dichte der Hochschulen einen direkten Einfluss auf die Dichte und die Diversifikation des Arbeitsmarkts und folglich auf das Lohnniveau ausübt. Das bestätigt auch das Bundesamt für Statistik (BFS) in seiner Broschüre „Bildungsfinanzen 2018“: „Die städtischen Universitätskantone Basel-Stadt, Genf und Zürich weisen ein hohes BIP und überdurchschnittliche Bildungsausgaben pro Einwohnerin und Einwohner auf.“ (7)

 

Aus dieser Feststellung ergeben sich zwei Möglichkeiten: Entweder setzt ein Kanton auf eine Universität und generiert mit Sicherheit Kosten und  hoffentlich auch Wertschöpfung oder er verzichtet auf eine Universität und auf die vermeintliche Wertschöpfung, dafür spart er die Kosten oder gibt sie für andere Zwecke aus. Wie er sich entscheidet, ist eine Frage der überwiegenden Ideologie in Bezug auf Budgetfragen, aber auch der Handlungsfreiheit gegenüber Bundesbern und anderen Kantonen (Finanzausgleich). 

 

Das Verhalten der Bündner Maturaabsolventen

In Graubünden soll der Bildungsstand anhand der Maturitätsquote untersucht und der Frage nachgegangen werden, wie sich die Jugendlichen nach dem Maturaabschluss orientieren.

 

Im Jahr 2018 weist Graubünden eine Maturitätsquote aus, die im Schweizer Verhältnis in der oberen Hälfte liegt.

 

Tabelle 5: Maturitätsquote nach Wohnkanton (2018)

 

Quelle: Bundesamt für Statistik (BFS)

 

Tatsächlich kann man aus der Tabelle entnehmen, dass insgesamt 39,4 % der Bündner Jugend 2018 eine der drei Maturaarten besitzt, wobei die Mehrheit sich für die Gymnasialmatura entschieden hat. Es ist wichtig hervorzuheben, dass dieser Trend am ausgeprägtesten bei den lateinischen Kantonen sowie bei den Gebirgskantonen ist. Eine Feststellung, die vielleicht gewissen Vorurteilen gegenüber der alpinen Bevölkerung widerspricht. 

 

Was können die Bündner Jugendlichen mit einer Matura unternehmen? Theoretisch können die Gymnasialmaturanden direkt bei einer Schweizer Universität aufgenommen werden. Das trifft zwischen 2013 und 2017 jährlich auf über 2’000 Bündner Studierende zu, wie folgende Tabelle zeigt: 

 

Tabelle 6: Studierende an Schweizer Hochschulen, die vor Studienbeginn im Kanton Graubünden wohnhaft waren (2013-2017)

 

35
Universitäten 2013 2014 2015 2016 2017 Diff.
Basel 190 162 172 156 155  
Bern 335 330 342 345 370 35
Freiburg 126 134 142 129 125 -1
Genf 25 18 15 13 12 -13
Lausanne  21 20 12 12 15 -6
Luzern  75 71 68 67 63 -12
Neuenburg  6 7 4 6 5 -1
St. Gallen  198 215 207 191 194 -4
Zürich 837 813 777 735 710 -127
Svizzera italiana 18 13 15 16 15 -3
ETH Lausanne  4 7 7 11 10 6
ETH Zürich 475 480 464 468 453 -22
Andere 19 20 21 22 20 1
Total 2'329 2'290 2'246 2'171 2'147 -182

Quelle: Bundesamt für Statistik (BFS), Bista Graubünden

 

Es fällt jedoch auf, dass die Zahl der Bündner Studierenden an Schweizer Universitäten seit 2013 im Sinken begriffen ist. Es betrifft alle Universitäten mit Ausnahme von Bern und „anderen“. Ein solcher genereller Trend lässt drei Ursachen vermuten: Entweder liegt die sinkende Zahl an der schwächelnden Demografie des Kantons (Abwanderung) oder die Studierenden orientieren sich zunehmend an Fachhochschulen oder beides.  

 

Laut Maturitätsquote schliessen 17,9 % der Bündner der Sekundarstufe II mit einer Berufsmatura ab. Den direkten Zugang zur Universität ist ihnen nur nach einer Zusatzleistung gewährt, der sog. Passerelle. Ansonsten können sie direkt bei Fachhochschulen aufgenommen werden. An der Fachhochschule Graubünden FHGR waren 2018 325 von 1’694 Studierenden in Graubünden wohnhaft, was einer Quote von 19,2 % des gesamten Bestandes entspricht (8). Die anderen sind in Fachhochschulen in anderen Kantonen abgewandert oder haben einen Beruf ergriffen. Folgende Tabelle zeigt, wie die Bündner Studierenden sich an Schweizer Fachhochschulen verteilen: 

 

Tabelle 7: Studierende an Schweizer Hochschulen, die vor Studienbeginn im Kanton Graubünden wohnhaft waren (2013-2017)

 

Fachhochschulen 2013 2014 2015 2016 2017 Diff.
Berner FH 83 95 99 96 95  12
HES-SO 12 15 15 19 16 4
FH Nordostschweiz 91 94 98 94 88 -3
FH Zentralschweiz 109 101 108 102 113 4
SUPSI 74 67 67 72 82 8
FH Ostschweiz  533 525 492 517 501 -32
Zürcher FH 473 506 561 572 558 -85
Kalaidos FH 4 5 6 10 9 5
HES Les Roches 1 - - - - -1
Andere 434 463 486 511 458 -24
Total  1'814 1'871 1'932 1'993 1'920 106

Quelle: Bundesamt für Statistik BFS, Bista Graubünden 

 

Die Tabelle bestätigt, dass ein Teil der Bündner Maturitätsabsolventen sich von der Universität auf die Fachhochschule verlagert hat. Tatsächlich verzeichnen zwischen 2013 und 2018 fast alle Hochschulen höhere Bestände  mit Ausnahme der FH Nordostschweiz, FH Ostschweiz und Zürcher FH. 

 

Es wäre höchst hilfsreich, dieses Verhalten der Bündner Maturaabsolventen näher zu untersuchen. Ist die Bündner Jugend den Universitäten im Unterland überdrüssig geworden? Drückt etwa die Migration die Zahlen nach unten? Kommt ein Teil der Hochschulabsolventen nach dem Abschluss nach Graubünden zurück, um einen Beruf auszuüben? Findet sie hier genügend berufliche Perspektiven? Würde sie an einer Bündner Universität studieren, wenn es eine solche gäbe? Welche Bündner Unternehmen wären bereit, die Gründung einer Universität zu unterstützen? Wie steht die Bündner Bevölkerung zur Gründung einer eigenen Universität?

 

Antworten zu solchen Fragen wären von eminenter Wichtigkeit, um die Bildungspolitik des Kantons gegebenenfalls neu zu orientieren.

 

Schlussfolgerungen für Graubünden

Es kann nicht Sinn und Zweck dieser kurzen Analyse sein, dem Kanton Graubünden alle notwendigen Entscheidungselemente zu geben, um seine Bildungspolitik zu bestätigen oder ihr zu widersprechen. Ich stelle jedoch fest, dass 

  • über 4’000 Studierende Jahr für Jahr Graubünden verlassen, um in einem anderen Kanton zu studieren, entweder an einer Universität oder an einer Fachhochschule;
  • Bündner Studierende weniger als 20 % der Bestände der Fachhochschule Graubünden ausmachen.

Wenn man bedenkt, dass Graubünden zusammen mit dem Tessin der einzige Kanton ist, der laut Bevölkerungsperspektiven 2020-2050 massiv an Bevölkerung verlieren soll, muss man hier nicht nur von Braindrain, sondern auch von Entvölkerung sprechen. Dass mögliche Ursachen in mangelndem, zahlbarem Wohnraum und in der Ökologisierumg des Kantons liegen, wird erst in letzter Zeit angesichts der Krise des Wohnungsmarkts im Engadin richtig wahrgenommen. 

 

Diese Abwärtsspirale des Braindrains und der Entvölkerung ist ernst zu nehmen und zu stoppen, denn Graubünden dämmert dahin, mit Ausnahme des Churer Rheintals und einiger weniger Tourismusdestinationen, zu einer Art „Reservat“ zu verkommen.  

 

Die Lage ist kompliziert. Eine Universität, ob fern oder nah, wird Graubünden nicht retten. Viel mehr braucht es zuerst eine saubere Problemanalyse und darauf basierend einen langfristigen strategischen Entwicklungsplan, der die Schlüsselbereiche der Wirtschaft mit einbezieht. Es braucht eine Dezentralisierung der Dienstleistungen und deren gerechtere Verteilung über den ganzen Kanton. Es braucht aber vor allem überall bezahlbaren Wohnraum und punktuell eine bessere verkehrstechnische Erschliessung der noch bewohnten Talschaften.

 

Schafft man es in Graubünden, die Entvölkerungstendenz zu  stabilisieren und umzukehren, ist das Thema Universität kein Tabu mehr. Es wäre nur noch die Frage offen, welche Fächer sie anbieten soll. Um die älteren Universitäten nicht zu konkurrenzieren, bräuchte eine Bündner Universität exklusive Studiengänge, so die etablierte die Praxis. 

 

Sorry, diese Bedingung ist nicht mehr erfüllbar. Dafür ist es schon zu spät, denn die alten Universitäten decken mittlerweile alle Bereiche ab - selbst unsere romanische Sprache, die an den Universitäten Zürich und Freiburg unterrichtet wird! Unsere Denkmäler und historische Gebäude werden von Universitäten im Unterland gepflegt und restauriert. Unsere Geschichte wird von Universitäten im Unterland erforscht. Also wird es gezwungenermassen zu Überschneidungen kommen.

 

Was Graubünden braucht, ist ein Leuchtturmprojekt. Etwas, das den Kanton, wie seine romanische Sprache, aufwertet. Etwas, das wieder Hoffnung für die Zukunft gibt, ähnlich dem Anschluss an dem Eisenbahnprojekt im Dreiländereck Graubünden, Südtirol und Lombardei. Eine eigene Universität wäre dabei nichts weniger als ein Recht, der spezifischen Kultur Graubündens eine eigene Stimme zu geben, ein Recht, sich weiterentwickeln zu dürfen, ein Recht, an den wichtigen Entscheidungen dieses Landes mehr teilnehmen zu dürfen.  

 

Wissen ist Macht. Macht ist Wissen. Wissen hat die Bourgeoisie ab Mitte des 18. Jh. zur Macht verholfen. Warum sollte es im 21. Jahrhundert anders sein?

 

Virginia Bischof Knutti©12.09.2022

 

Quellen und Anmerkungen

  1. Bundesamt für Statistik (BFS), Kantonale Szenarien, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/zukuenftige-entwicklung/kantonale-szenarien.html, gesichtet am 16.09.2022.
  2. Eidgenössische Finanzverwaltung (EFV), Finanzstatistik der Schweiz 2017, Jahresbericht, S. 39, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/publikationen.assetdetail.10287485.html.
  3. Ibid, S. 52. 
  4. Amt für Berufsbildung Graubünden, https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/ekud/afb/Dokumente%20AfB/211123-bslb-Uni%20oder%20FH%20oder%20PH_Merkblatt.pdf, gesichtet am 09.09.2022.
  5. Die Grossregion Ostschweiz beinhaltet die Kantone Glarus, Schaffhausen, Appenzell-Ausserrhoden, Appenzell-Innerrhoden, Sankt-Gallen, Graubünden und Thurgau.
  6. Die Grossregion Genfersee beinhaltet die Kantone Waadt, Wallis und Genf.
  7. Bundesamt für Statistik (BFS), Bildungsfinanzen, Ausgabe 2018, S. 10, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/bildungsfinanzen.assetdetail.4482588.html.
  8. Fachhochschule Graubünden (FHGR), Zahlen und Fakten, Ausgabe 2019.

 

Abbildungs- und Tabellenverzeichnis

Foto: Bildungslandschaft der Schweiz © Kaufmännischer Verband.

Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung 2010-2019, eigene Darstellung auf der Basis von Bundesamt für Statistik (BFS), Kantonsporträts, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/regionalstatistik/regionale-portraets-kennzahlen/kantone.html.

Tabelle 2: Anteil städtischer Bevölkerung 2010-2019, eigene Darstellung auf der Basis von Bundesamt für Statistik (BFS), Kantonsporträts, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/regionalstatistik/regionale-portraets-kennzahlen/kantone.html.

Tabelle 3: Bildungsstand der 25-64-Jährigen in % (2010-2019), eigene Darstellung auf der Basis von Bundesamt für Statistik (BFS), Kantonsporträts, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/regionalstatistik/regionale-portraets-kennzahlen/kantone.html.

Tabelle 4: Monatlicher Bruttolohn nach Grossregionen (2020), in Franken, privater und öffentlicher Sektor zusammen, Bundesamt für Statistik (BFS), https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/loehne-erwerbseinkommen-arbeitskosten/lohnniveau-grossregionen.html.

Tabelle 5: Maturitätsquote nach Wohnkanton (2018), Bundesamt für Statistik (BFS), https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/kataloge-datenbanken/grafiken.assetdetail.14715849.html.

Tabelle 6: Studierende an Schweizer Hochschulen, die vor Studienbeginn im Kanton Graubünden wohnhaft waren (2013-2017), Bundesamt für Statistik (BFS), Bista Graubünden, https://www.bista.gr.ch/hb/hb-einstieg.aspx.

Tabelle 7: Studierende an Schweizer Hochschulen, die vor Studienbeginn im Kanton Graubünden wohnhaft waren (2013-2017), Bundesamt für Statistik (BFS), Bista Graubünden, https://www.bista.gr.ch/hb/hb-einstieg.aspx.

 

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