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Megatrends und Raumentwicklung - Teil 2

Megatrends sind Instrumente der Zukunftsforschung. Salopp ausgedruckt, sie sind Treiber des Wandels und dienen den zahlreichen Gesellschaften dieser Welt als Orientierung. 

Im ersten Teil haben wir die fünf raumwirksamen Megatrends laut Rat für Raumordnung (ROR) analysiert, deren erwarteten Auswirkungen bis 2040 und die Chancen, die sie bieten, besprochen. 

Doch die Coronapandemie und der Krieg in der Ukraine haben die Karten neugemischt und eine geopolitische Lage hervorgebracht, die eine neue Orientierung in den Internationalen Beziehungen sowie in Wirtschaft und Gesellschaft erfordern.  

Im zweiten Teil geht es nun darum, nach Ausbruch der Coronapandemie und des Krieges in der Ukraine die Entwicklung der definierten Megatrends vorwegzunehmen  und Schlussfolgerungen für die Raumplanung in den alpinen Räumen bzw. in Graubünden zu ziehen. 

 

Die Megatrends und ihre mögliche Entwicklung nach heutigem Stand

Das Ende des Kriegs in der Ukraine ist zwar derzeit noch nicht absehbar, einige dessen Folgen allerdings schon. Der Krieg dürfte eine markante Zäsur in den Internationalen Beziehungen bewirken. Der Grund dafür liegt in der Natur dieses Krieges, die zweierlei ist. 

 

  • Einerseits haben wir es mit einem Krieg zu tun, der zumindest aus russischer Sicht als „Bürgerkrieg“ zwischen zwei eimal vereinten Völkern bezeichnet werden kann. Versöhnungen haben erfahrungsgemäss bei Bürgerkriegen einen schweren Stand. Mittlerweile sind die Schäden an Menschen und Material in der Ukraine so gross, dass eine Versöhnung zwischen den verfeindeten Fronten immer in weitere Ferne rückt. 
  • Andererseits ist dieser Krieg ein Stellvertreterkrieg zwischen den USA und Russland, der sich auf ukrainischem Territorium abspielt. Ob Russland gewillt ist, Friedensverhandlungen durchzuführen oder nicht, kann Wladimir Putin selbst entscheiden. Das Gleiche kann man über Wolodymyr Selenskyj nicht behaupten, da die Ukraine notorisch unter US-amerikanischem Einfluss steht. Somit ist Frieden eine reine Angelegenheit zwischen Washington und Moskau und folgt den jeweiligen geopolitischen Ambitionen beider Kontrahenten.  

Doch Kriege haben auch ihre eigenen Regeln, welche sich aus Fakten ergeben, die sich der Kenntnis des Publikums entziehen: Eine Wende kann sich plötzlich oder schleichend anbahnen, sie kann im besten Fall das Ende des Krieges oder eine labile Pattsituation, im schlimmsten Fall eine Ausdehnung und Verschärfung des Krieges mit unabsehbaren Folgen nach sich ziehen.

 

Dies vorausgesetzt, möchte ich nun die mögliche Entwicklung jedes Megatrends besprechen. 

 

Ablösung der Globalisierung durch die Regionalisieren

Die Globalisierung konnte sich nach dem Kalten Krieg und unter US-amerikanischer Vorherrschaft weltweit etablieren. Doch der Krieg in der Ukraine ist im Begriff, diese Entwicklung zu bremsen bzw. zu stoppen, wobei das Phänomen sich bereits beim Ausbruch der Coronapandemie abgezeichnet hat (1). Stark vereinfacht, die Weltordnung, die sich profiliert, wird die Machtverhältnisse zwischen mehreren grösseren Keyplayers neu verteilen und die Welt in drei grössere Regionen aufteilen. Durch die Regionalisierung wird die Welt kleiner, und das hat politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Folgen, die sich bis in die Raumplanung niederschlagen dürften. 

Der Megatrend Globalisierung ist also im Begriffe, sich zum Megatrend Regionalisierung umzuwandeln. So wie es aussieht, besteht diese Regionalisierung aus drei ideologisch geprägten Hauptregionen, die geografisch betrachtet dieselben sind wie vor der Globalisierung: Eine Region Ost, eine Region West und eine Anzahl bündnisfreie Staaten, die man heute unter dem Akronym BRICS subsummiert.

 

  • Geopolitisch betrachtet ist die Region Ost eine territoriale Macht, die den ganzen asiatischen Kontinent samt Russland, aber ohne Europa, abdeckt, und wirtschaftlich unter chinesischem Einfluss steht. In diesem Gebilde wäre die Rolle Russlands neu zu definieren.
  • Die Region West ist hingegen zerstreut über drei Kontinente und durch das Weltmeer verbunden. Daher setzt sie auf Seemacht. Geografisch deckt sie Europa, den Nord-amerikanischen Kontinent und die Inselstaaten Grossbritannien, Australien und Japan, die den eurasischen Kontinent wie einen Gürtel von West nach Ost einschliessen. Die West-Region steht unter US-amerikanischem Einfluss, der sich in der dominanten Ideologie, der Kriegspolitik, der Wirtschaft, der Technologie und der Kommunikation manifestiert.
  • Die BRICS-Länder sind verstreut über Südamerika, Asien und Afrika. Dazu zählen: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Eine kohärente, gemeinsame Geopolitik sucht man bei den BRICS-Staaten derzeit vergeblich, wobei die drei eurasiatischen Staaten Russland, China und Indien das Potenzial haben, eine eigene regionale Dynamik zu entwickeln. 

Die geopolitischen Kräfte, die auf Europa als Teil der Region West wirken, sind im Grunde dieselben als während des Kalten Krieges: Als alternder Teilkontinent, schwächende Wirtschaftsmacht und mittellose Militärmacht wird Europa zwischen beiden Fronten aufgerieben. 

 

Eine Begleiterscheinung der Globalisierung ist die ad absurdum getriebene Dualität Zentrum/Peripherie. Zur Erinnerung: Die Dualität Zentrum/Peripherie ist aus der Soziologie, die ab Mitte des 19. Jh. mit der Industrialisierung und deren gesellschaftlichen Folgen geboren ist, entstanden. Die Dynamik, die weltweit zur Stärkung der Zentren - sogenannte „Global Cities“ - geführt hat, zielt auf Gewinnoptimierung durch Konzentration der Produktionsfaktoren Kapital, Boden und Arbeitskräften, denen sich später auch Wissen und Kultur angeschlossen haben, ab.

 

In der Globalisierung stehen die „Global Cities“ in ständigem Austausch untereinander. Für eine regional geprägte Welt dürften diese Megazentren nun in manchen Hinsichten als überdimensioniert erscheinen. Die logische Konsequenz wäre, dass die Regionalisierung ebenso die Redimensionierung der Zentren nach sich ziehen würde. Folglich würden sich Wirtschaft und Konsum auf ein tieferes, ökologisch vertretbares Niveau einpendeln, was auch vernünftig wäre. Das würde bedeuten, dass die bisherige Vorherrschaft der Zentren gegenüber der Peripherie sich relativeren dürfte. 

 

Das will nicht etwa heissen, dass Zentrum und Peripherie ins Gleichgewicht kommen würden. Ebenso wenig wäre eine Stadtflucht zu erwarten. Doch die Machtverhältnisse zwischen Zentrum und Peripherie dürften sich leicht zugunsten der Peripherie verschieben. 

 

Auf die Schweiz übertragen, dürfte dieser Prozess der Redimensierung der Agglomerationen den Berggebieten zugute kommen, was die Raumplanung vor eine neue Dynamik stellen dürfte. Die Politik sollte diese einmalige Gelegenheit beim Schopfe packen.

 

Zugegeben, diese Theorie hat mindestens zwei Haken: 

 

  1. Theoretisch ist gleichzeitig eine Abschwächung von Zentrum und Peripherie auch möglich, sollte die Welt- bzw. regionale Konjunktur stark und dauerhaft rückläufig werden. 
  2. Die Versuchung und Verdrängungskraft von Politik und Wirtschaft dürften weiterhin gross bleiben und dazu tendieren, die Zentren gegenüber der Peripherie weiterhin zu bevorzugen. 

Wie gesagt, die Regionalisierung kann sich von selbst ergeben, mit ihrem Tempo und ihren Regeln, oder man kann sie unterstützen bzw. begleiten, indem die Politik Anreize kreiert, um aus heutigen kleineren Zentren mittlere Zentren zu machen, mit dem Ziel, die Wirtschaft zu stärken, zu diversifizieren und die Entvölkerung in den Berggebieten zu stoppen bzw. umzukehren. 

 

 

Zögernder Verlauf der Digitalisierung

Bei aller Begeisterung für die Digitalisierung, auch sie hängt von der Entwicklung der geopolitischen Grosswetterlage ab. Deshalb ist eine Übersicht der Machtverhältnisse im technologischen und Rohstoffbereich vonnöten. Ich werde in der Folge die Lage im Bereich Halbleiterhersteller, Vorkommen an Lithium und seltenen Erden sowie Informationstechnologie kurz schildern. 

 

Halbleiterhersteller: Fortschreitende Digitalisierung setzt einerseits einen einigermassen freien Markt für Halbleiter und deren Komponenten voraus. Wer dominiert diesen Markt?  Der Ausbruch der Coronapandemie und die momentane Schliessung von chinesischen Produzenten wurde in den westlichen Medien so präsentiert, als würde China den Markt dominieren. Ein Vergleich auf die zwei folgenden Tabellen von 2018 und 2021 zeigt, dass dem vor Corona nicht so war und heute ebenso wenig. 

 

Tabellen 1: Die grössten Halbleiterhersteller (2018)

 

 

Nr. Name Domizil Umsatz in Mrd. US$
1 Samsung 🇰🇷  75,698
2 Intel  🇺🇸  69,88
3 SK Hynix 🇰🇷  36,2
TSMC 🇨🇳 (Taiwan)  34,208
Micron Technologies  🇺🇸   30,93
Broadcomm  🇺🇸   16,454
Qualcomm  🇺🇸   16,385
Texas Instruments  🇺🇸  13,908 
Toshiba/Kioxia 🇯🇵  12,293 
10  Nvidia 🇺🇸  11,951 

Quelle: Technik & Einkauf

 

Tabelle 2: Die grössten Halbleiterhersteller (2021)

 

Nr.  Name Domizil Umsatz in Mrd. US$
1 Samsung 🇰🇷 59,689
2 Intel  🇺🇸 56,765
3 TSMC 🇨🇳  (Taiwan) 40,976
4 SK Hynix 🇰🇷 26,976
5 Micron Technologies  🇺🇸 22,775
6 Qualcomm  🇺🇸 20,003
7 Nvidia  🇺🇸 16,347
8 Broadcomm 🇺🇸 14,959
9 Mediatek 🇨🇳 (Taiwan) 12,945
10 Texas Instruments 🇺🇸 12,627
       

quelle: Technik & Einkauf

Der Halbleitermarkt generierte 2021 einen Umsatz von rund 550 Mrd. US$.

 

2018 war Südkorea der grösste Halbleiterhersteller und hielt 35 % des Marktes, gefolgt von den USA (28 %), Taiwan  (11 %) und Japan (4 %). Hersteller aus anderen Ländern bildeten insgesamt 11 % des Marktes. 

 

2021 ist der südkoreanische Samsung immer noch führend, doch die USA sind inzwischen zum grössten Halbleiterhersteller mit 50 % des Marktes aufgestiegen. Sie haben Südkorea auf den zweiten Platz verwiesen (30 % des Marktes), während Taiwan seinen dritten Platz verteidigen konnte (19 %). Japan ist aus dem Top-10 verschwunden. Hersteller aus anderen Ländern bilden nur noch 1 % des Marktes, darunter zwei Unternehmen aus Europa. 

 

 

Infobox: Halbleiterhersteller

Halbleiterhersteller lassen sich in drei Gruppen einteilen: 

  • Klassische Halbleiterhersteller (IDM, Integrated Device Manufacturer): Diese Unternehmen sind sowohl in der Entwicklung als auch in der Produktion von Halbleitern tätig. Beispiele sind etwa Intel, Samsung, SK Hynix, Micron Technologies und Texas Instruments. 
  • Auftragsfertiger (Pure-Play Foundries): Diese Unternehmen produzieren für andere Unternehmen. Ihre Halbleiter tragen keine eigene Marke. Grösster Auftragsfertiger ist TSMC in Taiwan. Auch die chinesische Semiconductor Manufacturing International Corporation (SMIC) fertigt im Auftrag. 
  • Reine Chipentwickler (Fabless): Diese Unternehmen sind nur noch in der Entwicklung tätig. Sie besitzen keine Produktionsstätten (fabless = fabriklos). Sie lassen andere für sich fertigen. (2)

 

Es fällt auf, dass China nicht unter den Top-10 Hableiterherstellern figuriert. zudem fertigt der grösste chinesische Halbleiterhersteller im Auftrag. Somit ist die Angst des Westens vor einer chinesischen Abhängigkeit in diesem Bereich völlig überrissen.  Im Gegenteil verspricht diese Situation eine wachsende Abhängigkeit Europas gegenüber den USA und erinnert an aktuell ähnliche Verhältnisse in der Gas- und Erdöl- Versorgung.

 

Lithium: Zudem zeichnet sich eine Knappheit an sogenannten seltenen Erden und ein geografisch begrenztes Vorkommen an Lithium ab. Das eine wie das andere kommen bei der Herstellung von Halbleitern oder Batterien vor. 

 

55 % der weltweit grössten Vorkommen an Lithium befinden sich im sogenannten „Lithium-Dreieck“, das Bolivien, Chili und Argentinien abdeckt, wobei Chili und Argentinien zusammen für 50 % der Bedürfnisse der Industrieländer Asiens und Europas aufkommen. Australien deckt weitere 40 % (3). Unter solchen Umständen - und ohne Ironie - ist es für die USA ein Leichtes, sich in ihrem Hinterhof oder in Australien zu versorgen. Für Europa bedeutet eine derartige Konzentration von Lithium auf zwei Standorte im besten Fall ein zusätzliches, indirektes Abhängigkeitsverhältnis zu den USA, schlimmstenfalls Versorgungsengpässe und überteuerte Preise.

 

Seltene Erden: Die grössten Vorkommen an seltenen Erden befinden sich in China, gefolgt von Brasilien, Vietnam und Russland. Die USA besitzen nur ein kleines Vorkommen, wie die folgende Tabelle zeigt. 

 

Tabelle 3: Die Top-10 Vorkommen und Produktionen an seltenen Erden weltweit

 

 

44'000
Staat Vorkommen in Tausenden von Tonnen Produktion in Tausenden von Tonnen
China 120  
Brasilien  22'000 1,0
Vietnam  22'000 0,40
Russland  12'000 2,6
Indien  6'900 1,8
Australien  3'400 20
USA 1'400 15
Malaysia  30 0,20
Myanmar ? 5,0
     

Quelle: Atlas mondial des matières premières nach USGS Mineral Yearbook

 

Die Konstellation um diese strategischen Rohstoffe verspricht wieder einen härten Kampf zwischen produzierenden und verbrauchenden Staaten bzw. um den Zugang und Kontrolle zu diesen Rohstoffen. Europas Abhängigkeit gilt in diesem Fall gegenüber China, aber auch die USA haben selbst nicht genügend Vorkommen, um den Markt zu kontrollieren. Sie werden Druck auf kleinere Produzenten ausüben müssen, um China in Schach zu halten.  

 

Informationstechnologie: Mit Ausnahme Chinas und Russlands sind die anderen Länder - und somit auch Europa - abhängig von den USA, was die Informationstechnologie im Internet angeht. So beherrschen die fünf grössten IT-Firmen - Alphabet (Google), Amazon, Apple, Meta (ehem. Facebook) und Microsoft -, die bekanntlich auch US-Firmen sind, den Weltmarkt. Mit einer solchen Monopolstellung liegt der Verdacht nahe, dass diese Firmen mit oder ohne Einflussnahme der US-Regierung sich den Weg zur digitalen Überwachung bahnen können, die wiederum in Ausbeutung von persönlichen Daten, Manipulation von Informationen bis hin zur politischen Repression ausufern könnte. Solche Prozedere kann man allerdings schon weltweit beobachten. 

 

Wie lang die EU Gefallen oder Interesse an einem ungebrochenen Abhängigkeitsverhältnis zu den USA finden wird, bleibt ungewiss. So langsam dürfte es jedoch der EU dämmern, dass die Abhängigkeit von den USA - oder welcher anderen Macht auch immer - nicht ipso facto Sicherheit mitbringt. Daher gehe ich davon aus, dass auf die Dauer die Digitalisierung in Europa von den eigenen Entwicklungskapazitäten abhängen dürfte, während sie in den USA oder in Asien weiterhin auf dem Vormarsch wäre.

 

Individualisierung auf den Rückzug

Paradoxerweise ist Individualisierung parallel zur Globalisierung entstanden und beide Megatrends verlaufen ähnlich: Wenn die Welt kleiner wird, werden mehr Menschen auf engerem Raum interagieren müssen, was die Individualisierung - im physischen Sinn - relativiert. Das gilt sinngemäss auch für die schnell gewachsenen, individualisierten Nachfragebedürfnisse nach multilokalen Wohnformen und Arbeitsmodellen.

 

Am Rande bemerkt, Individualisierung im geistigen Sinn braucht zur Entfaltung demokratische Rahmenbedingung wie Meinungsfreiheit oder Pressefreiheit, was heute, angesichts des Krieges in der Ukraine und dessen einseitigen Behandlung in den Medien stark hinterfragt werden darf. 

 

Eine Verschiebung der Föderalismus in der Schweiz in Richtung eines stärkeren Zentralismus wird punktuell und seit jeher beobachtet.

 

Fortbestand des demographischen Wandels und Abnahme der gesellschaftlichen Heterogenität

Die Entwicklung für die nächsten 20 Jahren ist anhand der demographischen Rahmenbedingungen bereits gegeben: Überalterung und zunehmende Heterogenität der Bevölkerung. Beeinflussen und kontrollieren lässt sich die Demografie hierzulande nur noch durch Zuwanderung. 

 

Politik und Wirtschaft sind sich einig: Zuwanderung braucht es in der Schweiz und in Europa im Allgemeinen, um den hiesigen Fachkräftemangel zu kompensieren. Dabei wird von der Bevölkerung erwartet, dass sie sich mit diesen übergeordneten Zielen und der daraus erwünschten Zuwanderung arrangiert. Unter Umständen sind wir somit seit jeher mit einer Kluft konfrontiert zwischen Wirtschafts- und geopolitischen Interessen. Unter diesen Umständen, welchen Einfluss könnte die Regionalisierung auf die Zuwanderung haben?

 

Mit der Regionalisierung wird nicht nur die Welt kleiner, sondern auch die Umsatzperspektiven der Unternehmen. Geschäfte mit Russland sind schon verpönt und dürften es auf absehbare Sicht bleiben. Mit China dürfte es künftig auch schwieriger werden, vor allem, wenn die USA auf direkte Konfrontation mit Peking gehen. So gesehen ist die globale Wirtschaft Vergangenheit und dürfte einer kleineren, regionalen Wirtschaft weichen. Weniger Umsatz reduziert automatisch den Bedarf an ausländischen Fachkräften und erhöht den Druck auf hiesige Fachkräfte, Jobs anzunehmen, die bisher durch ausländische Fachkräften ausgeübt worden sind. 

 

Durch die Regionalisierung dürften auch zunehmend patriotische oder auch im Extremfall nationalistische Tendenzen in Erscheinung treten - auch in der Schweiz.  Das letzte Mal hat man dies in der Zwischenkriegszeit mit der staatsverordneten „Geistigen Landesverteidigung“ beobachtet. 

 

Ohne wie damals autoritäre Züge annehmen zu müssen, könnte die Schweizer Identität in den alpinen Räumen am ehesten in der Baukultur oder in der Kulinarik Niederschlag finden, was wiederum den Tourismus etwas wiederbeleben dürfte. 

Zickzackiger Verlauf des Klimawandels

Die Auswirkungen des Megatrends Klimawandel sind am schwersten zu beurteilen. Im Grunde wird sich der Klimawandel selbst nicht abschwächen, sondern tendenziell eher zunehmen, aber die Bedeutung, die dem Klimawandel beigemessen wird, könnte kurz- bis mittelfristig bei akuten und dauerhaften Engpässen in der Energieversorgung schwinden. Es ist daher künftig nicht auszuschliessen, dass manche rohstoffreiche Länder ihre eigenen fossilen Energiequellen wie Kohle, Erdöl oder Gas wieder anzapfen, sei es, weil die Energieversorgung mit erneuerbarer Energie lückenhaft ist, sei es, weil die Preispolitik der produzierenden Länder nicht mehr tragbar ist.

 

Die prekäre Stromversorgungslage dürfte die Schweizer Politik dazu veranlassen, den Bau von Wasserkraftwerken im Alpengebiet zu forcieren, wobei ökologische Bedenken vorerst in den Hintergrund treten würden. Andererseits dürfte sich eine Abnahme der globalen Strömungen positiv auf den Klimawandel auswirken. 

 

Längerfristig allerdings, und angesichts der sich abzeichnenden Knappheit bzw. Verteuerung der natürlichen Ressourcen wie Wasser, Boden oder Nahrungsmittel, kann die staatliche Einführung einer strengeren Form von Ökologie nicht ausgeschlossen werden. Das wäre der wahre Preis für die Rettung des Planeten, welcher der Öffentlichkeit grösstenteils verschwiegen wird.

 

Für die alpinen Räume ist kurz- bis mittelfristig die Aufgabe von ganzen Talschaften aufgrund von Bergsturzgefahr zu befürchten, was der Entvölkerung noch zusätzlichen Vorschub leisten dürfte. Mittel- bis langfristig ist das Abschmelzen der Gletscher die grösste ökologische Herausforderung des Landes. Wie wird eine Schweiz aussehen, die Wasser künftig nur noch vom Regen erwarten dürfte? Das Bundesamt für Umwelt sieht das gelassen. Vielleicht, weil es nicht sonderlich langfristig denkt - oder sich nicht äussern will. 

 

Unsicherheiten

Zu der Entwicklung der bestehenden Megatrends kommen eine Menge Unsicherheiten, die sich auf das Handeln der Regierungen, Unternehmen und Bevölkerung hemmend auswirken. Manche von ihnen hängen wiederum vom Ausgang des aktuellen Krieges in der Ukraine ab: Steht uns ein Nuklearkrieg bevor? Ist Multilateralismus in Folge der Regionalisierung in den Internationalen Beziehungen ein realistischer und friedlicherer Weg? 

 

Andere Fragen sind globaler Natur: Steht die Ablösung des US-Dollars als Leit- und Reservewährung unmittelbar bevor? Und was wären die Folgen? Ist die Demokratie ein Auslaufmodell geworden? Und der Kapitalismus? Wird das alternde Europa von Migranten aus Afrika und Asien überschwemmt werden? Ist der Planet in 50 Jahren noch bewohnbar? Werden wir in der Lage sein, jede neue Pandemie auf die Dauer zu bewältigen? 

 

All diese Unsicherheiten - und das ist nur eine Auswahl - drücken aufs Gemüt und dürften sich auf neue Investitionen und unternehmerische Initiativen hemmend auswirken. 

 

In seinem Bericht von 2019 sah der ROR die Digitalisierung als einziger „empowering Trend“, also als aufmunternden Trend. Ich habe vorhin versucht aufzuzeigen, dass die Beständigkeit dieses Megatrends relativiert werden sollte. Somit zeigen zwei alte Megatrends eindeuztig nach unten, die anderen verlaufen eher unsicher oder im Zickzack wie der Abbildung auf der Frontpage zu entnehmen ist. 

Unsicherheitsfaktoren scheinen einen grösseren Einfluss auf die Zukunft als Megatrends zu haben. In solchen Zeiten ist die öffentliche Hand stärker gefragt und gefordert.  

 

Schlussfolgerungen für Graubünden

Nebst dem Krieg in der Ukraine bleibt für die Schweiz noch immer genug zu tun, um die raumplanerische Zukunft des Landes an die Hand zu nehmen, wobei Graubünden eine doppelte Herausforderung zu meistern hat: seine Wirtschaft zu retten und den demographischen Schwund zu stoppen. 

 

Laut dem letzten Bericht des Wirtschaftsforums Graubünden steuert der Kanton bis 2040 auf einen Arbeitskräftemangel zu, der auf 30’000 Vollzeitäquivalente berechnet wird. (4) Das entspricht einem Viertel der heutigen kantonalen Arbeitskraft. 

 

Angesichts des Ausmasses dieser Entwicklung steht es ausser Frage, dass der Tourismus allein diese Herausforderung nicht bewältigen kann. Es wird ein strukturelles Programm erforderlich sein, das den ganzen Kanton erfasst und das allgemeine Wirtschaftspotenzial und die Raumentwicklung neu beurteilt. 

 

Eigentlich befindet sich die Bündner Regierung zumindest theoretisch und ansatzweise bereits auf diesem Pfad. Die Raumordnungspolitik, die infolge der Revision des Raumplanungsgesetzes 1 (2014) im kantonalen Richtplan Niederschlag gefunden hat, sieht explizit „die Stärkung der urbanen und regionalen Zentren“ (5) vor, wobei das Zentrensystem in vier hierarchischen Stufen gegliedert ist, wie die folgende Karte zeigt:

 

Karte 1: Zentrenstruktur gemäss Raumkonzept Graubünden

Quelle: Amt für Raumentwicklung Graubünden

 

Am Kopf des Systems steht das Hauptzentrum Chur. Darunter befinden sich zwei Zentren mit internationaler Ausstrahlung (Davos und St. Moritz). Weiter folgen 10 Regionalzentren (Landquart, Schiers, Ilanz, Vals, Thusis, Roveredo/Grono, Vicosoprano, Poschiavo, Samedan, Val Müstair und Scuol) und 15 touristische Orte mit Stützfunktion (Disentis, Flims, Vella, San Bernardino, Splügen, Lenzerheide, Tiefencastel, Savognin, Andeer, Arosa, Klosters, Zernez, Samnaun und Pontresina).

Konkrete Ziele des kantonalen Richtplanes sind folgende: 

  • Chur als Hauptzentrum der Südostschweiz stärken, 
  • Davos und St. Moritz in ihrem internationalen Profil stärken, 
  • die zehn Regionalzentren als Versorgungsknoten und als regionale Schwerpunkte für das Wohnen und Arbeiten dynamisch weiterentwickeln, 
  • den insgesamt fünfzehn Orten mit Stützfunktion eine angemessene Versorgung ihres Umlandes sichern und so zur Aufrechterhaltung einer dezentralen Besiedlung beitragen. 

Der Einwand, dass die Topografie Graubündens ungünstig sei, um Unternehmen anzusiedeln, ist nicht haltbar. Hoteliers haben es geschafft, im ganzen Kanton riesige Paläste an Hängen zu errichten. Die ÖV-Erschliessung innerhalb des Kantons und nach Italien müssten allerdings zwingend verbessert und den mittelländischen Standards in Sachen Takt, Kapazität und Schnelligkeit angepasst werden. Denn entgegen einem landläufigem Vorurteil hat die alpine Bevölkerung nicht mehr Zeit zur Verfügung als die im Unterland. 

 

Einige dieser Zentren sind bereits Wirtschaftsstandorte, die nicht nur von Tourismus leben wie Samedan, Ilanz, Davos oder Thusis und haben Wachstumspotenzial. Andere bieten dazu verhältnismässig günstige topografische Voraussetzungen wie z.B. Zernez, Val Müstair oder Andeer und könnten ebenso ihre Wirtschaftsbasis vergrössern und diversifizieren. 

 

Das grösste Hindernis zur Stärkung der Zentren in Graubünden dürfte aber das revidierte Raumplanungsgesetz sein. Anpassungen oder Ausnahmeregelungen wären hier erforderlich. Frohes Schaffen!

 

Virginia Bischof Knutti©3. November 2022

 

Abbildungsverzeichnis und Quellen

Tabelle 1: Die grössten Halbleiterhersteller 2018, Technik & Einkauf, Kritische Rohstoffe, Das sind die grössten Halbleiterhersteller weltweit, 09,08.2022, https://www.technik-einkauf.de/rohstoffe/kritische-rohstoffe/das-sind-die-groessten-halbleiterhersteller-weltweit-282.html, gesichtet am 27.12.2022. 

Tabelle 2: Die grössten halbleiterhersteller 2021, Technik & Einkauf, Kritische Rohstoffe, Das sind die grössten Halbleiterhersteller weltweit, 09,08.2022, https://www.technik-einkauf.de/rohstoffe/kritische-rohstoffe/das-sind-die-groessten-halbleiterhersteller-weltweit-282.html, gesichtet am 27.12.2022. 

Tabelle 3: Die Top-10 Vorkommen und Produktionen an seltenen Erden weltweit, Mérenne-Schoumaker Bernadette, Atlas mondial des matières premières - Incertitudes et défis, Editions Autrement, Paris, 3e édition, 2020, S. 14-15.

Karte 1: Zentrenstruktur gemäss Raumkonzept Graubünden, Amt für Raumentwicklung Graubünden, Richtplan Kanton Graubünden, Teil 2: Raumordnungspolitik, Mai 2019, S. 2-2-6, https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dvs/are/richtplanung/Kapitel 2 Raumordnungspolitik web.pdf.

  1. Virginia Bischof Knutti, Essay zur Globalisierung vs. Regionalisierung, 14.05.2020, https://virginiabischofknutti.jimdofree.com/2020/05/14/teil-1-essay-zur-globalisierung-vs-regionalisierung/.
  2. Technik & Einkauf, Kritische Rohstoffe, Das sind die grössten Halbleiterhersteller weltweit, 09.08.2022, https://www.technik-einkauf.de/rohstoffe/kritische-rohstoffe/das-sind-die-groessten-halbleiterhersteller-weltweit-282.html, gesichtet am 27.12.2022. 
  3. Mérenne-Schoumaker Bernadette, Atlas mondial des matières premières - Incertitudes et défis, Editions Autrement, Paris, 3e édition, 2020, S. 14-15. 
  4. Wirtschaftsforum Graubünden, Personal- und Fachkräftemangel in Graubünden: Perspektiven 2040 und Massnahmenvorschläge, 12.10.2022, https://www.wirtschaftsforum-gr.ch/DE/projekte/336.html.
  5. Amt für Raumentwicklung Graubünden, Richtplan Kanton Graubünden, Teil 2: Raumordnungspolitik, Mai 2019, S. 2-2-6, https://www.gr.ch/DE/institutionen/verwaltung/dvs/are/richtplanung/Kapitel 2 Raumordnungspolitik web.pdf.

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