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"Russia's Dangerous Decline"

The Kremlin Won't Go Down Without a Fight

In meiner Entourage werde ich zur Zeit immer wieder gefragt, wie der Krieg in der Ukraine sich entwickeln wird, oder ob Wladimir Putin Atomwaffen einsetzen wird. Da ich nur mit „open sources“ arbeite, kann ich solche Fragen objektiv nicht beantworten. Aber ich kann meine Leserschaft darüber orientieren, wie die grosse Geopolitik sich entwickelt. Deshalb habe ich in meinem Blog eine neue Rubrik kreiert - „Foreign Affairs“ - eine Fachzeitschrift, die ich regelmässig lese. Darin finden Sie künftig Rezensionen von mir über die Grossmachtpolitik - USA, Russland und China - und über andere globale Themen wie den Klimawandel.

Foreign Affairs ist das Publikationsorgan des U.S.-amerikanischen “Council on Foreign Relations“. Dieser ist eine der einflussreichsten Denkfabriken der USA. Zu den zahlreichen Autoren und WissenschaftlerInnen gehören auch viele ehemalige U.S.-Präsidenten sowie Aussen- und Finanzminister.

Der vorliegende Artikel „Russia’s Dangerous Decline“ ist in der aktuellen November/Dezember 2022-Ausgabe erschienen, die grösstenteils China gewidmet ist. Die Autoren forschen beim Center for a New American Security, weshalb ihr Beitrag in den USA und weltweit grossen Anklang finden dürfte. 

Die Autoren befassen sich mit der ewigen Gefahr, die Russland für die USA und die westliche Welt darstellt. Zudem machen sie Vorschläge, welche Massnahmen nach dem Krieg in der Ukraine gegen Russland ergriffen werden sollen, um die russische Gefahr dauerhaft zu beseitigen.

Foreign Affairs und der "Council on Foreign Relations"

Foreign Affairs ist der Publikationsorgan des „Council on Foreign Relations.“ Die Zeitschrift erscheint 6mal jährlich. Der „Council on Foreign Relations“ ist eine der einflussreichsten Denkfabriken der USA. Zu den zahlreichen Autoren und WissenschaftlerInnen gehören auch viele ehemalige U.S.-Präsidenten, sowieAussen- und Finanzminister.

 

Die Zeitschrift gilt weltweit als führende Fachzeitschrift auf ihrem Gebiet. Wie Wikipedia vermerkt, „Vieles, was später in konkrete Politik umgesetzt wird, wurde hier zuerst erdacht und entfaltet.“ (1)

 

So wurde in Foreign Affairs z.B. im Jahre 1947 der unter „X" veröffentlichte Artikel - hinter dem sich der Chef des U.S.-Planungsstabes, George F. Kennan, versteckte -, publiziert. Mit seinem Artikel gilt Kennan als der Begründer der Containment-Politik gegen die Sowjetunion, die dann tatsächlich im gleichen Jahr wie die Publikation von Kennans Artikel implementiert wurde.  Ebenso in Foreign Affairs erschien 1993 der Artikel von Samuel Huntington „Clash of Civilizations“. Erst drei Jahre später erschien das Buch dazu - „The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order“. Obwohl Huntingtons These wegen seines rassistischen Approach weltweit viel Kritik erntete, bildet sie heute noch immer eine der grundlegenden Doktrin der U.S.-Aussenpolitik. 

 

Solche Artikel müssen nicht zwangsläufig wahr und noch weniger wissenschaftlich fundiert sein. Sie widerspiegeln vielfach die Verhältnisse zwischen grossen und mittleren Mächten. Sie sind inhaltlich jedoch dauerhaft prägend, denn sie unterstützen meistens die vorherrschende Ideologie. Daher kann man die Zeitschrift ruhig als propagandistisches Organ der U.S.-Aussenpolitik bezeichnen. Staaten, die die U.S.-Vorherrschaft hinterfragen, werden als revisionistisch bezeichnet und systematisch angeprangert. 

 

Der vorliegende Artikel ist in der November/Dezember 2022-Ausgabe von Foreign Affairs erschienen. Die Autoren sind Andrea Kendall-Taylor, Senior Fellow and Director of the Transatlantic Security Program at the Center for a New American Security, und Michael Kofman, Research Program Director of the Russia Studies Program at the Center for naval Analyses and an Adjunct -Senior Fellow at the Center for a New American Security. (2)

 

Der Artikel zählt 7 Kapitel, die absichtlich in englischer Sprache belassen werden: Einführung, Payment due, Battlefield Dearth, Beyond Putin, Wounded but Dangerous, The Danger of Complacency und Constrict and Constrain. Die Kernaussagen werden ebenso im Englisch am Rande wiedergegeben. 

 

Einführung

„Russia’s invasion of Ukraine has been a massive strategic blunder, leaving Russia militarily, economically, and geopolitically weaker.“

 

 

 

In der Einführung befassen sich die Autoren mit zwei kapitalen Fehlern, die Wladimir Putin mit der Invasion der Ukraine begangen hat:
1. der Krieg hat Russland militärisch, wirtschaftlich und geopolitisch geschwächt. 

„Instead of giving up, however, Putin responded to these problems by ordering a partial military mobilization.“

2. Statt aufzugeben, hat der russische Präsident im September 2022 eine Teilmobilmachung ausgerufen. 

Die Autoren schliessen daraus, wie der Untertitel des Artikels es ahnen lässt, dass „The Kremlin Won’t Go Down Without a Fight“, da die Versuchung des Kremls, auf nukleare Waffen zurückzugreifen, gross sein dürfte. 

 

   

Payment due

Unter diesem Untertitel soll man die Rechnung verstehen, die Wladimir Putin für seine Fehler zahlen soll. Sie beinhaltet einen wirtschaftlichen und einen militärischen Aspekt. 

 

 

„It would be unwise to assume that an economically weaker Russia will necessary be less threatening to U.S interests in the years to come.“

Der wirtschaftliche Aspekt: Die Wirkungen der internationalen Sanktionen und Exportkontrollen gegenüber Russland sind unklar. Teilweise kann Russland Sanktionen über befreundete Regierungen, insbesondere im eurasischen Raum, umgehen. Teilweise setzt das Land vermehrt auf wirtschaftliche Autarkie und Abkoppeln von der Weltwirtschaft. 

 

 

Dennoch, laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) dürfte Russlands BIP 2022 um 6 % schrumpfen. Einnahmen aus dem Ölverkauf dürften sinken, zumal die G-7 Staaten sich auf eine Preisobergrenze für russisches Öl geeint haben. 

Die Quintessenz ist, dass die Sanktionen und Exportkontrollen am Ende ihre Wirkung doch voll Voltfalten dürften.

"There ist a reason Russia features so prominently in the wars of the past several hundred yeas: the country frequently uses, misuses, and eventually restores hard military power.“

Der militärische Aspekt: Mehr als 80'000 russische Soldaten wurden bei den Kämpfen getötet oder verwundet. Doch selbst eine allgemeine Mobilmachung würde die strukturellen Probleme der russischen Streitkräfte nicht lösen. Dennoch verfügt Russland nach wie vor über ein beträchtliches latentes Macht-, Widerstands- und Mobilisierungspotenzial, auch wenn das gegenwärtige Regime unfähig ist, diese Ressourcen zu nutzen.

 

Ausserdem bleiben viele von Russlands Fähigkeiten auch nach dem Krieg erhalten, was die USA und die NATO beunruhigt.  

Beyond Putin

„Putin ans his propagandists have broadcast the message that the war in Ukraine is in fact a civilizational conflict with a West that seeks to keep Russia weak. They allege that Russia is fighting NATO in Ukraine and that the US and Europe are out to break Russia apart."

Im dritten Kapitel suchen die Autoren nach dem Grund für die Kriegsauslösung durch den russischen Präsidenten. Es ist die Rede von einer extremen Form von „Patriotismus“ und der Behauptung, die USA und der Westen würden auf die Zerstückelung Russlands abzielen.  

Dass die Sowjetunion bzw. Russland jedoch schon immer im Visier der USA waren, beweist ein Blick in die Online-Archive von Foreign Affairs seit seiner Gründung 1922. Der ideologische Kampf gegen die Sowjetunion bzw. Russland prägen die Zeitschrift auf Schritt und Tritt.

      Es stellt sich die Frage, so die Autoren, wie lange sich Putin nach der Teilmobilmachung noch im Amt halten kann. Denn mit der Teilmobilmachung ist der Krieg in Russlands Alltag eingedrungen. Die Autoren sind der Meinung, dass Putins Nachfolger kaum schlimmer sein dürfte und erwähnen eigene (allerdings dürftige) empirische Untersuchungen, die das belegen sollen. Sie sind jedoch überzeugt, dass Autoritarismus in Russland Putin überdauern wird. Denn die Nachfolge wird wahrscheinlich aus dem Kreis der Präsident nahen Sicherheitsdienste hervorkommen, die bekanntlich den USA und dem Westen historisch feindselig gegenüberstehen. 

Wounded but Dangerous

 

„With its back against the wall, the Kremlin will also have less compunction about trying to destabilize its enemies through sometimes exotic and hard-to-track-methods in the biological, chemical, cyberspace, or artificial intelligence realms.“ Mit dem Rücken zur Wand besitzt Russland noch immer beträchtliche Fähigkeiten, um seine Feinde zu destabilisieren. Gemeint sind Methoden in den Bereichen Biologie, Chemie, Cyberspace oder künstlicher Intelligenz. 
    Ausserdem kann Russland auf Desinformation setzen, die offenbar auch fruchtet, da Politiker in Afrika, Lateinamerika und dem Nahen Osten nach der Invasion Moskaus in die Ukraine neutral oder umsichtig bleiben. 

 

Am bedrohlichsten ist jedoch der Einsatz von Nuklearwaffen. Je mehr Schäden das russische Militär in der Ukraine erleidet, desto wahrscheinlicher ist es, dass es sich auf eine atomare Eskalation einlässt, um die konventionelle Überlegenheit der NATO in Europa auszugleichen. Es bestehen auch wenige Chancen, dass Russland den New-START-Vertrag, der 2026 ausläuft, erneuert.

The Danger of Contemplacy

 
„It is optimistic to assume that this war is the dying gasp of Russian imperialism or that Russia, even under a different leader, will quickly abandon revanchism to become a stakeholder in European security.“

Aus allen diesen Gründen sollte der Westen sich hüten, in Selbstgefälligkeit zu fallen. Daher gilt es nach wie vor, die Ukraine zu unterstützen, wobei die USA allein bereits 45 Mrd. Dollar Hilfe geleistet haben. 

 

Der Westen soll Waffenlieferungen an die Ukraine verstärken mit dem Ziel, die Grenzen wieder dorthin zu bringen, wo wie vor der Invasion standen. Ob die Krim auch dazu gehört, wird nicht erwähnt. 

 

Die Autoren bemerken, dass die Auflösung der Sowjetunion kein abgeschlossener Prozess ist und dass der russische Imperialismus und Revanchismus weiterhin bestehen dürften. 

 

 „NATO has been strengthened by their addition (Finland and Sweden), but their membership also brings new borders for NATO to defend and contingency plans to develop. Moreover, a Russia that feels vulnerable about its conventional forces is more likely to overreact to Western actions.“  

Doch mit den Beitrittskandidaten Schweden und Finnland hegen die Autoren auch Bedenken, was die neueste Erweiterung der NATO angeht. Diese bringt neue Risiken für die westlichen Beziehungen zu Russland. Zudem vergrössert sich die NATO-Grenze, was neue Verteidigungs- und Notfallpläne erfordert. 

 

Vorläufig ist Russland nicht in der Lage, einen weiteren Krieg - und schon gar nicht gegen die NATO - zu beginnen. Doch die europäischen NATO-Staaten sind auch nicht auf einen Krieg vorbereitet, wenn man bedenkt, dass sie einen Teil ihrer Lager an Waffen und Munition in die Ukraine geschickt haben. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sie ihre Lager wieder aufgefüllt haben werden. 

 

„European countries would struggle on their own to scale operations to counter a future Russian campaign similar in size to the one Moscow launched in Ukraine.“

Von den europäischen Verteidigungsfähigkeiten halten die Autoren nicht viel. Angesichts der Schwäche der russischen Streitkräfte in der Ukraine lag ihnen die Überlegung nah, dass die USA das Management des russischen „Challenge“ Europa überlassen könnten. Doch das wäre ein Fehler gewesen, denn dieser Krieg hat einmal mehr bewiesen, so die Autoren, dass Europas Verteidigung in hohem Masse von den USA abhängig ist und auch bleiben wird.

Die Autoren fügen an, dass eine europäische Armee längst vom Feld gedrängt worden wäre, wenn sie nur einen Bruchteil der Opfer der russischen oder ukrainischen Streitkräfte erlitten hätte. 

 

Constrict and Constraint

„Meanwhile, Washington must also work to constrict and constrain Russia - to prevent it from waging aggression beyond its borders.“

Constrict and Constraint heisst Einengen und Einschränken. Das bedeutet, dass die altbewährte Politik des „Containment“ vermehrt und verschärft zum Einsatz kommen soll. Folgende konkrete Ziele werden von den Autoren formuliert: 

 

 

„In the long term, however, the U.S. and Europe share an interest in stabilizing the relationship with Russia. That will not be possible as long as Putin is in power.“

   
  • Russlands Fähigkeit, Krieg zu führen, sowie die Eskalation eines nuklearen Austausches verringern.
  • Russland eingrenzen und einschränken, um Aggressionen über seine Grenzen zu verhindern. 
  • Europa beim Übergang von russischem Öl und Gas und beim Aufbau von Waffen- und Munition unterstützen. 
  • Durchsetzung von Sanktionen, Exportkontrollen und Antikorruptionsmassnahmen gegen Russland. 
  • Russland isolieren, sodass Indien und andere Zaunstaaten in Afrika und im Nahen Osten Russland keine Alternative bieten können. 
  • Langfristig die Beziehungen zu Russland stabilisieren.
  • Schliesslich hoffen, dass Russlands Unterwürfigkeit gegenüber China zu einer weniger antagonistischen Politik gegenüber dem Westen führen wird. 

 

   

Fazit

Auch wenn seine Fähigkeit und sein globales Ansehen durch den Krieg in der Ukraine geschmälert wird, wird Russland weiterhin von Ressentiments, dem Streben nach einem geopolitischen Raum ausserhalb seiner Grenzen und dem Streben nach Status getrieben. Washington kann es sich nicht leisten, Russland abzuschreiben und es darf sich auch nicht vorstellen, dass Europa das Problem allein lösen kann. Die Bedrohung kann sich weiterentwickeln, aber sie wird fortbestehen. 

 

Wenn die USA und ihre Verbündeten sich mit dem aktuellen Putin-Regime auseinandersetzen und darüber nachdenken, was ihm letztendlich folgen könnte, sollten sie sich an das alte Sprichwort erinnern, dass Russland nie so stark ist, oder so schwach, wie es aussieht. 

 

Virginia Bischof Knutti©18.11.2022

 

 

Quellen

  1. Wikipedia, „Foreign Affairs“, https://de.wikipedia.org/wiki/Foreign_Affairs.
  2. Kendall-Taylor Andrea and Kofman Michael, Russia’s Dangerous Decline, The Kremlin Won’t Go Down Without a Fight, Foreign Affairs, November-December 2022, https://www.foreignaffairs.com/issues/2022/101/6.

 

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