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Why American Power Endures

The U.S.-Led Order Isn't in Decline

Vorliegender Beitrag ist eine neue Rezension aus der Ausgabe von November-Dezember 2022 von „Foreign Affairs“, die China gewidmet ist. 

Autor des Artikels ist G. John Ikenberry (1). Ikenberry ist  Professor für Politik und internationale Angelegenheiten an der Princeton University und Global Eminence Scholar an der südkoreanischen Kyung Hee University. Er ist der Autor von „A World Safe for Democracy: Liberal Internationalism and the Crises of Global Order.“

Sein Artikel stellt sich in eine unendlich lange Reihe von Beiträgen anderer Autoren, die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Grunde immer dasselbe predigen: Wenn es um die Weltherrschaft geht, haben die USA weit und breit keine Konkurrenten. Darin liegt aber nicht das Interesse für diesen Artikel.

Die Besonderheit von Ikenberrys Artikels liegt in seiner entwaffnenden Ehrlichkeit mit welcher der Autor die Heuchelei der USA beschreibt. Trotzdem: Es gibt  keine Alternative zur U.S.-Vorherrschaft. 

Viele Akteure und Beobachter sehnen sich jedoch das Ende des U.S.Imperiums herbei, doch die Welt kann sich das Ende der amerikanischen Ära nicht leisten. Ikenberry erklärt wieso. 

Der Artikel gliedert sich wie folgt: Einführung, America’s Third Way, The Anti-Imperial Empire, Collective Power, At Home in The World, Work in Progress und Empire By Invitation.

 

Einführung

„For over a century, people around the world have lived through an American era: a period dominated by U.S. power, wealth, institutions, ideas, alliances, and partnerships.“   Seit 100 Jahren dominieren die USA die Weltpolitik. Doch die Vorstellungen, dass diese Ära sich nun dem Ende neigen dürfte, mehren sich. Im Zentrum der Vorstellung liegt die Annahme, dass die USA dem zunehmenden wirtschaftlichen Wettbewerb Chinas erliegen würden.

„The mistake made by prophets of American decline is to see the United States and its liberal order as just another empire on the wane.“    Diejenigen, die sich den Untergang der U.S.-amerikanischen Vorherrschaft herbeisehnen, machen einen Fehler, argumentiert der Autor weiter: Sie sehen in den USA nur ein weiteres, zusammenbrechendes Imperium. Doch die globale Ordnung, welche die USA seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgebaut haben, ist kein Imperium, sondern ein Weltsystem, das den Menschen auf dem ganzen Planeten Chancen bietet. 

„The struggle between the United States and its rivals China and Russia is a contest between two alternative logics of world order.“   Mit den USA einerseits und China und Russland andererseits konkurrenzieren sich zwei Weltordnungen. Die Vereinigten Staaten verteidigen eine internationale Ordnung, die sie seit einem Dreivierteljahrhundert anführen - eine offene, multilaterale Ordnung, die in Sicherheitspakten und Partnerschaften mit anderen liberalen Demokratien verankert ist. China und Russland hoffen, jedes auf seine Weise, eine internationale Ordnung aufzubauen, die autoritäre Herrschaft vor den bedrohlichen Kräften der liberalen Moderne schützt. Die Vereinigten Staaten bieten der Welt eine Vision eines postimperialen globalen Systems. Die derzeitigen Führer Russlands und Chinas betreiben zunehmend eine Aussenpolitik, die auf imperialer Nostalgie beruht.

„But the United States continues to matter for another reason: the appeal of its ideas, institutions, and capacities for building partnerships and alliances.“   Das Geheimnis der Macht und des Einflusses der USA  seit dem Ende des Ersten Weltkriegs basiert auf zwei Pfeilern. Es sind einmal die unübertroffenen wirtschaftlichen, technologischen und militärischen Fähigkeiten des Landes. Zudem kommt die ungeheure Anziehungskraft ihrer Ideen, Institutionen und Fähigkeiten für den Aufbau von Partnerschaften und Allianzen. 

  „Finally, at the core, one of the United States’ greatest strengths is its capacity to fail; as a liberal society, it can acknowledge its vulnerabilities and errors and seek to improve, a distinct advantage over its illiberal rivals in confronting crises and setbacks.“

  Tatsächlich ist die amerikanische Weltordnung so vielschichtig wie eine Zwiebel. Die äussere Schicht bilden liberal-internationalistische Projekte, mit denen die USA der Welt einen „dritten Weg“ zwischen der Anarchie der wild miteinander konkurrierenden Staaten und der übermächtigen Hierarchie der imperialen Systeme eröffnet haben. Die mittlere Schicht bilden die Vorteile der Geografie. Dank ihrer inselartigen Lage zwischen zwei Ozeanen und ihrer ausgedehnten Landmasse sind die USA sowohl Europa als auch Asien zugewandt, sodass sie sich als globaler Machtausgleicher aufspielen konnten. Weiter liegt die Fähigkeit der USA, in ihrer multirassischen und multikulturellen Einwanderungsbasis, weltweit agierende Netzwerke zu bilden. Schliesslich besitzen die USA im Kern die Fähigkeit zu scheitern, Fehler einzugestehen und wieder aufzustehen.

America's Third Way

 
  „If China and Russia seek to usher in a new world order, they will need to offer something better — an onerous task indeed.“

  Grundpfeiler dieser Weltordnung sind unter anderem zwei Institutionen, welche die USA nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut haben: die UNO und die NATO. Menschen auf der ganzen Welt haben sich mit diesen zwischenstaatlichen Plattformen verbunden und auf ihnen aufgebaut, um ihre Interessen durchzusetzen. Wenn China und Russland eine neue Weltordnung einführen wollen, müssen sie etwas Besseres anbieten - eine in der Tat schwierige Aufgabe.

  „What the U.S. has had to offer is a set of solutions to the most basic problems of international relations.“   Die grundlegendsten Probleme der Internationalen Beziehungen liegen im Kräfteverhältnis zwischen den Staaten - Anarchie, Hierarchie und Interdependenz. Um diese Probleme zu lösen, haben die USA eine Reihe von Lösungen angeboten.

„After World War II, in the shadow of the Cold War, the United States and its allies and partners established a complex and sprawling system of institutions that persist today.“   Die realistische Schule der Internationalen Beziehungen vertritt die Ansicht, dass Staaten in einem grundlegenden Zustand der Anarchie leben, was die zwischenstaatliche Kooperation einschränkt. Doch die USA haben es geschafft, nach dem Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Institutionen zu gründen, um die Anarchie einzudämmen und eine internationale Kooperationsbasis aufzustellen. Beispiele hierfür sind die Vereinten Nationen, der Internationale Währungsfonds, die Weltbank und multilaterale Regelungen in verschiedenen Bereichen des Handels, der Entwicklung, der öffentlichen Gesundheit, der Umwelt und der Menschenrechte. 

„In a liberal order, the leading state consents to acting within an agreed-upon set of multilateral rules and institutions and not use its power to coerce other states.“    In einer liberalen Ordnung verpflichtet sich der führende Staat, im Rahmen vereinbarter multilateraler Regeln und Institutionen zu handeln und seine Macht nicht dazu zu nutzen, andere Staaten zu zwingen. Die nach 1945 entstandene, von den USA geführte Ordnung war einzigartig in der Weltgeschichte und folgte dieser Logik. Es handelt sich um eine hierarchische Ordnung mit liberalen Merkmalen. Der Deal sieht wie folgt aus: Die Vereinigten Staaten haben ihre beherrschende Stellung als führende Wirtschafts- und Militärmacht der Welt genutzt, um der Welt Schutz und Sicherheit, Marktöffnung und Förderung von Regeln und Institutionen bereitzustellen. Sie hat sich durch Bündnisse und multilaterale Organisationen an Verbündete und Partner gebunden. Im Gegenzug fordert sie andere Staaten auf, sich zu beteiligen und sich ihr zu fügen, angefangen mit dem Subsystem der liberalen Demokratien vor allem in Ostasien, Europa und Ozeanien. 

„The United States has used its privileged perch to bend multilateral rules in its favor and to act unilaterally for parochial economic and political gains.“   Der Autor gibt zu, dass die USA ihre Machtstellung missbraucht haben, z.B. im Irak-Krieg. Die Vereinigten Staaten haben ihre privilegierte Stellung genutzt, um multilaterale Regeln zu ihren Gunsten zu biegen und einseitig zu handeln, um wirtschaftliche und politische Vorteile zu erlangen.

  „Great gains could be obtained from trade and investment across borders, but domestic economies had to be protected from destabilizing economic actions taken by irresponsible governments. Such logic is in wide application today within the U.S.-led liberal order.“

  Mit wachsender Verflechtung des internationalen Handels stellt sich auch die Frage der Interdependenz. Durch den grenzüberschreitenden Handel und Investitionen konnten grosse Gewinne erzielt werden, aber die heimischen Volkswirtschaften mussten vor destabilisierenden wirtschaftlichen Massnahmen durch unverantwortliche Regierungen geschützt werden. Deshalb drängte bereits der U.S. Präsident Franklin Roosevelt an der Konferenz von Bretton Woods 1944 auf eine Koordinierung der Finanz- und Währungsfragen. Diese Logik findet heute in der von den USA geführten Liberalen Ordnung noch immer Anwendung und spricht für die Hegemonie des U.S.-Dollars. 

„But that is precisely the point—if the world is to organize itself to address the problems of the twenty-first century, it will need to build on, not reject, this U.S.-led system.“   Die Kritik an die USA, so der Autor, rührt daher, dass sie nicht genug getan hätten, um die Welt in die Richtung des „dritten Weges“ zu bewegen, dass diese Richtung, der sie vorstehen, allzu hierarchisch ist. Der Autor antwortet: Aber genau das ist der Punkt - wenn die Welt sich selbst organisieren soll, um die Probleme des 21. Jh. zu bewältigen, muss sie auf diesem von den USA geführten System aufbauen, anstatt es abzulehnen. Und wenn die Welt die Extreme von Anarchie und Hierarchie vermeiden soll, braucht sie mehr, nicht weniger, liberalen Internationalismus.

The Anti-Imperial Empire

 
  „Instead, it began as a fragile attempt to build a state that was institutionally weak and divided—by design—to prevent the rise of autocracy at home. The United States’ isolation gave it the opportunity to succeed.“

  Die USA sind eine junge Nation. Ihre Gründungsväter hatten stets die beispiellose und kostenintensive Kriegsgeschichte Europas vor Augen. Sie verglichen sie mit derjenigen des Vereinigten Königreiches und zogen die Schlussfolgerung, dass die Insellage des Vereinigten Königreiches die Entwicklung liberaler Institutionen bevorzugte. So haben die USA von Anfang an auf einen institutionell schwachen Staat gesetzt, um den Aufstieg einer Autokratie im eigenen Land zu verhindern. Die Insellage gab ihnen zusätzlich die Möglichkeit zum Erfolg. 

  „U.S. interests and ambitions pointed not to a world where the United States would simply join the other great powers in running an empire but to one where empires would be swept away and all regions would be opened up to multilateral access.“   Die Frage, mit der sich die U.S.-Strategen vor allem während des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzten, war, ob die Vereinigten Staaten als Grossmacht in einer von Imperien zersplitterten Welt agieren könnten. Nein, waren sich Politiker und Analysten einig, das geht nicht. Um eine Weltmacht zu sein, müssen die USA Zugang zu Märkten und Ressourcen in allen Teilen der Welt haben. Die Interessen und Ambitionen der USA wiesen nicht auf eine Welt hin, in der sie einfach gemeinsam mit den anderen Grossmächten ein Imperium führen würden, sondern auf eine Welt, in der Imperien hinweggefegt und alle Regionen für den multilateralen Zugang geöffnet werden würden. Auf diese Weise nutzten die Vereinigten Staaten ihre Macht und Stellung, um das imperiale Weltsystem zu untergraben.

  „Many countries in those regions now worry more about being abandoned by the United States than being dominated by it.“

  Der komparative Vorteil der USA lag in ihrer Offshore-Lage und in ihrer Fähigkeit, Allianzen und Partnerschaften zu schmieden, um die Dominanz Bestrebungen autokratischer, faschistischer und autoritärer Grossmächte in Ostasien und Europa zu untergraben. Viele Länder in diesen Regionen befürchten heute eher, von den Vereinigten Staaten im Stich gelassen zu werden, als von ihnen beherrscht zu werden. Daher bieten Allianzen mit festen Einrichtungen wie Militärbasen und Truppenstationierungen den Partnern nicht nur Sicherheit, sondern auch eine grössere Gewissheit über das Engagement der USA. Die Vereinigten Staaten unterhalten über 60 Sicherheitspartnerschaften in allen Regionen der Welt, während China nur vereinzelte Sicherheitsbeziehungen zu Dschibuti, Nordkorea und einigen anderen Ländern unterhält.

 

Collective Power

 
„At three pivotal moments during the last century, (…) the United States found itself on the winning side of major conflicts.“   In drei entscheidenden Momenten des 20. Jh. - nach dem Ersten Weltkriegs, nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion - befanden sich die Vereinigten Staaten auf der Gewinnerseite der grossen Konflikte. Die Vereinigten Staaten haben sich dafür entschieden, ihre Macht in diesen entscheidenden Momenten durch die Zusammenarbeit mit anderen Demokratien auszuüben.

  „Nonetheless, in these eras, the core impulse has been to build U.S. grand strategy around a dynamic core of liberal states in East Asia, Europe, North America, and Oceania.“    Der Autor gibt zu, dass während des Kalten Krieges und auch heute noch die Vereinigten Staaten sich mit autoritären Klientelstaaten in der ganzen Welt verbündet haben. Doch in der Regel bestand in diesen Epochen der Hauptimpuls darin, die grosse Strategie der USA um einen dynamischen Kern liberaler Staaten in Ostasien, Europa, Nordamerika und Ozeanien herum aufzubauen.

  „The world order contest underway between the United States and its autocratic rivals China and Russia offers a new opportunity to advance liberal democratic principles around the world.“

  Denn die demokratische Solidarität schafft ein Umfeld, in dem fortschrittliche Ideen entwickelt werden können, was weltweite Unterstützung erfährt. Der derzeitige Wettstreit um die Weltordnung zwischen den USA und ihren autokratischen Rivalen China und Russland bietet eine neue Gelegenheit, liberal-demokratische Grundsätze in der ganzen Welt zu fördern.

At Home in The World

 
  „The United States is more knowledgeable about the outside world, and the outside world has a greater stake in what happens in the United States.“ 

  Kulturelle Vielfalt ist anscheinend auch ein komparativer Vorteil der USA. Im Gegensatz zu ihren Rivalen unter den Grossmächten sind die Vereinigten Staaten ein Land der Einwanderer, multikulturell und multirassisch. Diese komplexen und weitreichenden Beziehungen, die über den Bereich der Regierung und der Diplomatie hinausgehen, machen die Vereinigten Staaten in der ganzen Welt relevant und engagiert. Die USA wissen mehr über die Aussenwelt, und die Aussenwelt hat ein grösseres Interesse daran, was in den USA geschieht.

  „In recent decades, civil society groups habe proliferated and spread across the world.“   So wie die Vielfalt ihrer Bevölkerung sie mit der Welt verbindet, so bilden die USA mit ihrer Vielzahl von NGOs ein einflussreiches, weltumspannendes Netzwerk. Diese NGOs sind eine oft übersehene Quelle des amerikanischen Einflusses, welche die Zusammenarbeit und Solidarität in der gesamten liberal-demokratischen Welt fördert. China und Russland haben ihre eigenen politischen Netzwerke und Diaspora-Gemeinschaften, aber die globale Zivilgesellschaft neigt dazu, liberale Prinzipien zu stärken, was die zentrale Rolle der USA in globalen Auseinandersetzungen um die Weltordnung verstärkt. Es überrascht nicht, dass sowohl China als auch Russland hart gegen die Aktivitäten internationaler zivilgesellschaftlicher Gruppen innerhalb ihrer Grenzen vorgehen.

  „It is hard to imagine China, with a shrunken civil society that is closed to the world, as a future center of global order.“

  Es ist schwer vorstellbar, dass China mit seiner geschrumpften und weltabgewandten Zivilgesellschaft ein künftiges Zentrum der Weltordnung sein könnte.

Work in Progress

  „No other state aspiring to world power, including China, has advanced a more appealing vision of a society in which free individuals consent to their political institutions than has the United States.“

  Angesichts der jüngsten innenpolitischen Erschütterungen in den USA mögen diese Ermahnungen zur Zentralität der Vereinigten Staaten im kommenden Jahrhundert seltsam erscheinen. Die USA scheinen heute so viele Probleme zu haben wie seit den 1930er Jahren nicht mehr. Inmitten der Polarisierung und Dysfunktionalität, welche die amerikanische Gesellschaft plagen, ist es leicht, eine Erzählung über den Niedergang der USA anzubieten. Doch was die Vereinigten Staaten trotz ihrer Schwierigkeiten über Wasser hält, sind ihre progressiven Impulse. Es ist mehr die Idee der Vereinigten Staaten als das Land selbst, welche die Welt im letzten Jahrhundert bewegt hat. Kein anderer Staat, der nach Weltmacht strebt, einschliesslich China, hat eine attraktivere Vision einer Gesellschaft entwickelt, in der freie Individuen ihren politischen Institutionen zustimmen, als die Vereinigten Staaten.

  „As the political scientist Samuel Huntington once observed: “America is not a lie, it is a disappointment. But it can be a disappointment only because it is also a hope.” 

  Die Geschichte, welche die USA der Welt präsentieren, ist die eines fortwährenden Unterfangens, schmerzhafte Hindernisse auf dem Weg zu einer „vollkommenen Union“ zu überwinden, angefangen bei der Erbsünde der Sklaverei. Die Menschen in vielen Teilen der Welt scheinen von den USA mehr zu erwarten als von China und messen das Handeln der USA stets am Massstab der erklärten amerikanischen Prinzipien und Ideale. Wie der Politikwissenschaftler Samuel Huntington einmal feststellte: "Amerika ist keine Lüge, es ist eine Enttäuschung. Aber sie kann nur deshalb eine Enttäuschung sein, weil sie auch eine Hoffnung ist.“

„The country has never fully lived up to its liberal ideals, and when it commends these ideals to others, it looks painfully hypocritical.“   Was die USA im Zentrum der Weltpolitik halten wird, ist ihre Fähigkeit, es besser zu machen. Das Land ist seinen liberalen Idealen nie ganz gerecht geworden, und wenn es diese Ideale anderen empfiehlt, wirkt es schmerzlich heuchlerisch. Aber Heuchelei ist ein Merkmal, kein Fehler, der liberalen Ordnung, und muss kein Hindernis sein, die liberale Ordnung zu verbessern. Die Ordnung, über die die Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg den Vorsitz führen, hat die Welt vorangebracht, und wenn die Menschen rund um den Globus eine bessere Weltordnung wollen, die eine stärkere Zusammenarbeit und sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt unterstützt, werden sie dieses von den USA geführte System verbessern und nicht abschaffen wollen.

   

Empire by Invitation

 
„Although China and Russia seek to move the world in the direction of regional blocs and spheres of influence, the United States has offered a vision of world order based on a set of principles rather than competition over territory.“   Der Untertitel suggeriert, dass die USA „eingeladen“ worden sind, die Vorherrschaft über die Welt zu übernehmen. Während China und Russland versuchen, die Welt in Richtung regionaler Blöcke und Einflusssphären zu bewegen, haben die USA eine Vision der Weltordnung angeboten, die auf einer Reihe von Prinzipien und nicht auf dem Wettbewerb um Territorien beruht. Die liberale internationale Ordnung ist eine Möglichkeit, eine interdependente Welt zu organisieren. Es ist, wie der norwegische Historiker Geir Lundestad es nannte, ein "Imperium auf Einladung.“ Ihr Erfolg hängt von ihrer Legitimität und Attraktivität ab und nicht von der Fähigkeit ihrer Schirmherren, Gehorsam zu erzwingen. Wenn die USA auch in den kommenden Jahrzehnten im Zentrum der Weltpolitik stehen werden, dann deshalb, weil diese Art von Ordnung weltweit mehr Anhänger und Mitstreiter findet als die von China und Russland angebotene.

  „If the past is any guide, the United States should not try to simply consolidate the old order but to reimagine it.“   Was sollten die USA aus den Konfrontation mit Russland und China lernen? Die Vereinigten Staaten sollten nicht versuchen, die alte Ordnung einfach zu konsolidieren, sondern sie neu zu gestalten. Die führenden Politiker der USA sollten versuchen, die demokratische Koalition zu erweitern, grundlegende Werte und Interessen zu bekräftigen und eine Vision einer reformierten internationalen Ordnung anzubieten, die Staaten und Völker in neuen Formen der Zusammenarbeit zusammenführt, um beispielsweise Probleme des Klimawandels, der globalen öffentlichen Gesundheit und der nachhaltigen Entwicklung zu lösen. 

  „Other powers may be rising, but the world cannot afford the end of the American era.“

  Keine andere Grossmacht ist besser in der Lage, die notwendigen Partnerschaften aufzubauen und bei der Bewältigung der grossen Probleme des 21. Jh. die Führung zu übernehmen. Andere Mächte mögen aufsteigen, aber die Welt kann sich das Ende der amerikanischen Ära nicht leisten.

Kommentar

Wie vielen Beiträge aus „Foreign Affairs“ ist Ikenberrys Essay keine wissenschaftliche Abhandlung. Der Autor ist weder der Wahrheit noch der Vollständigkeit verpflichtet. Es ist ein Text, welcher den U.S.-Behörden und der weiten Welt Mut machen soll - nicht mehr und nicht weniger. Aber dieser Text wird sein Zweck erfüllen, denn er wird zweifellos bei den Meisten im In- und Ausland wirken. Einwände gibt es jedoch allerhand, zumal die Schwachstellen der U.S.-Vorherrschaft vom Autor verschwiegen werden.

 

Die USA mögen das grösste Verteidigungsbudget und die grössten und best ausgerüsteten Streitkräfte haben, aber sie setzen sie meistens gegen schwache Staaten ein. Und wenn sie doch in langwierigen Kriegen verwickelt wurden, mussten sie den „strategischen Rückzug“ antreten. 

 

Die Frage der Rolle der U.S.-Dollars als Leit- und Reservewährung spricht der Autor nicht an. Das ist aber der Angel- und Drehpunkt der U.S.-Finanz- und Aussenpolitik. Damit kann die U.S.-Notenbank so viele Dollars drucken, wie die Politik es verlangt, ohne Rücksicht auf Verschuldung zu nehmen. Das ist ein erheblicher geopolitischer Vorteil, den nur die USA besitzen. Wird eines Tages die vorherrschende Rolle des Dollars zugunsten konkurrierender Währungen so herabgesetzt, dass dieses Privileg nicht mehr greift, so dürfte den USA eine schwere allgemeine Krise bevorstehen, die vielleicht im Lande zum ersten Mal virulenter sein könnte als anderswo auf der Welt. 

 

Fakt ist, die Finanzkrisen häufen sich in immer kürzeren Abständen. Fragt sich also, was von dieser Weltordnung übrig bleiben würde, falls eine neue Finanzkrise das ganze Wirtschaftssystem dauerhaft ausser Gefecht setzt. 

 

Fragt sich ebenso, bei allem Schwören auf Multikulturalismus und Multirassismus, ob die USA eigentlich nicht eher auf eine Form von Rechtsextremismus zusteuern. 

Der Autor spricht von den USA als eine multilaterale Ordnungsführung. Das sind allerdings ganz neue Töne, die suggerieren, dass selbst amerikanische Politwissenschaftler nicht mehr am Unilateralismus glauben. Ironischerweise ist Multilateralismus genau die Art von Internationalen Beziehungen, die sowohl Russland als auch China anstreben - eine Welt, in der verschiedene Systeme mit- oder nebeneinander leben können. 

 

In einem Punkt hat allerdings der Autor Recht: Ausser Multilateralismus haben weder China noch Russland ein alternatives Konzept bereit, das sie der Welt schmackhaft machen können. Aber das ist genau der Punkt: Sie haben weder  die Mittel noch die Ambition, ein solches System aufzustellen und aufrechtzuerhalten. 

 

Schliesslich behauptet der Autor, dass man das U.S.-Weltsystem verbessern kann. Gewiss, aber aus wessen Perspektive? 

 

Virginia Bischof©15.12.2022

 

Quelle:

(1) Ikenberry G. John, „Why American Power Endures. The U.S.-Led Order Isn’t in Decline“, in: Foreign Affairs, Ausgabe November-Dezember 2022, https://www.foreignaffairs.com/united-states/why-american-power-endures-us-led-order-isnt-in-decline-g-john-ikenberry.

 

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