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9th Report on the state of the Alps - Teil 1

Erkenntnisse

Im Dezember 2022 ist der 9. Bericht über den Stand der Alpen der Alpenkonvention erschienen: „9th Report on the state of the Alps“ - abgekürzt RSA9. 

Der Bericht ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil fokussiert auf eine Analyse der Alpenstädte und mündet in eine Reihe von Erkenntnissen und Debatten. Der zweite Teil präsentiert fünf  mögliche Szenarien  für die Entwicklung von Alpenstädten. 

Abgesehen davon, dass jedes Teil über 50 Seiten beinhaltet, ist der Bericht auf Englisch verfasst. Eine Zusammenfassung ist zwar auf Deutsch erhältlich, sie hat aber den Nachteil, die Ursachenanalyse für die Erkenntnisse und Debatten zu umgehen, was das Nachvollziehen der Erkenntnisse erschwert.

Dieser Bericht ist von einer Instanz verfasst, der Alpenkonvention,  die sich wirklich im Interesse der Berggebiete einsetzt. Deshalb erscheint es mir für die kommunale und kantonale Politik Graubündens von eminenter Wichtigkeit, die zahlreichen Erkenntnisse dieses Berichts zur Kenntnis zu nehmen. Dasselbe gilt für die Debatten, die die Autoren für die Zukunft wittern. 

Ich habe beide Teile auf Deutsch rezensiert und kommentiert. Angesichts des Umfanges der Erkenntnisse, Debatten und Szenarien, werde ich meine Arbeit in drei Teilen gliedern. 

Dieser ist der erste Teil. Hauptthemen sind: Die Alpenstädte und das Siedlungssystem, demografische Entwicklung, Umwelt, Wirtschaft, globale Positionierung und Governance. Der erste Teil enthält ebenso gutes und umfangreiches Kartenmaterial. Da jede Karte mehrere Megabyte schwer ist, werde ich nur die Frontseite damit bestücken. Auf die anderen Karten wird anhand der Fussnote verwiesen. 

Die weiteren zwei Teile (Debatten und Szenarien) folgen voraussichtlich in Wochenabstand. 

 

Die Alpenstädte und das Siedlungssystem

Erkenntnis 1: Definition

Das Alpengebiet, so wie es von der Alpenkonvention definiert ist, erstreckt sich über acht Staaten. Wie viele Alpenstädte sind darin enthalten? Das Hauptkriterium zur Definition einer Stadt ist die Einwohnerzahl. Je nachdem, wie hoch der Schwellenwert angesetzt wird, variiert die Anzahl Städte in einem bestimmten Gebiet. Dasselbe Kriterium gilt für das Berggebiet. 

 

Nimmt man den im Unterland allgemein gültige Schwellenwert von 100’000 Einw., so würden von den rund 14 Millionen Alpenbewohnern nur 900’000 (ca. 6,5 %)  in solchen Städten leben. Rechnet man Städte mit mehr als 50’000 Einw. dazu, so ergeben sich insgesamt rund 1,4 Millionen Menschen oder 10 % der Alpenbevölkerung. Solche Alpenstädte sind vor allem am Rande des Alpengebiets gut erkennbar, wie die Abbildung auf der Frontseite zeigt.

 

Die erste Erkenntnis des vorliegenden Berichtes zeigt, dass die Anwendung von unterländischen Massstäben für alpine Verhältnisse ungeeignet ist. Kartografisch gesehen, würde der innere Alpenraum mehr oder weniger „leer“ dastehen, was wiederum suggeriert, dass in solchen Räumen keine oder wenig wirtschaftliche Aktivität stattfinden würde - was selbstverständlich keineswegs zutrifft. Deshalb haben die meisten alpinen Länder den Schwellenwert zur Definition einer Alpenstadt auf 10’000 Einw. herabgesetzt. Doch selbst dann würde die Karte des inneren Alpenraums leer aussehen. Das hat die Mitgliedstaaten der Alpenkonvention dazu geführt, den Schwellenwert noch tiefer festzulegen. 

 

Für den vorliegenden Bericht verwendet die Alpenkonvention folgende Definition von Alpenstädten: Alpenstädte werden definiert als Siedlungen mit einer Mindestbevölkerung von 5’000 Einw. bzw. 3’000 Einw., wenn sie nicht direkt an einer grösseren Stadt liegen. Nach dieser Definition leben heute 8,5 Millionen Menschen, d. h. 60 % der Bevölkerung im Rahmen der Alpenkonvention, verteilt auf insgesamt 780 Alpenstädte. Die durchschnittliche Alpenstadtsgrösse liegt in allen Ländern zwischen 10’000 und 12’000 Einw. Diese Erkenntnis ist Voraussetzung, damit das Alpengebiet wirtschaftlich an kritischer Masse und (zusätzlicher) Relevanz gewinnt. 

 

Kommentar: Wo das Alpengebiet beginnt, bzw. endet, ist Gegenstand einer andauernden Debatte zwischen Geographen und Politikern. Dasselbe gilt, wenn es darum geht, sogenannte „Alpenstädte“ zu definieren. 2019 veröffentlichte das Bundesamt für Statistik BFS eine neue statische Definition der Berggebiete. Gemäss dieser Definition gelten in der Schweiz alle Hektaren ab einer Höhe von 800 m ü.M. als Berggebiet. Weist eine Hektare unter diesem Wert einen Höhenunterschied von mindestens 225 Metern zwischen dem höchsten und dem tiefsten Punkt auf, wird sie ebenfalls dem Berggebiet zugerechnet. Das Berggebietsperimeter stützt sich auf die Gemeindegrenzen ab. Jede Gemeinde, deren Fläche zu mehr als der Hälfte die Kriterien im Bezug auf die Höhe und die Steilheit des Geländes erfüllt, gehört zum Berggebiet. Enklaven im Berggebiet, wie z.B. das Rhonetal im Wallis, das Alpenrheintal in Graubünden oder die Magadinoebene im Tessin, werden ebenfalls zum Berggebiet gezählt. (1) 

 

Das Berggebietsperimeter umfasst somit gemäss BFS insgesamt eine Fläche von mehr als 28’000 km2. Dies entspricht knapp zwei Dritteln der Schweizer Landesfläche. Über zwei Millionen Personen leben im Berggebiet, was rund einem Viertel der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz entspricht. 22 % der Beschäftigten sind im Berggebiet tätig. 

 

Sieben Kantone liegen gemäss dieser Definition ganz im Berggebiet: Graubünden, Wallis, Appenzell-Innerrhoden, Glarus, Nidwalden, Obwalden und Uri. Lediglich vier Kantone - Basel-Stadt, Schaffhausen, Thurgau und Genf - befinden sich vollständig ausserhalb des Berggebietsperimeters. Alle anderen Kantone liegen zu einem unterschiedlichen Grad innerhalb des Berggebietes. Von den 2’145 Gemeinden, die die Schweiz 2022 umfasste, zählten 788 zum Berggebiet. 

 

Die Zählmethode des BFS ist selbstverständlich ein Politikum. Die natürlichen Ressourcen des Landes - insbesondere das Wasser und folglich die Stromerzeugung -  befinden sich im Berggebiet. Die künstliche Vergrösserung des Berggebietsperimeters dient der Integration des Berggebiets in das Unterland und damit der Kontrolle der Ressourcen durch dieses.  

 

Wenn eine Berggemeinde sich ab einer Bevölkerung von 3’000 Einw. als Alpenstadt bezeichnen darf, so wie die Alpenkonvention es suggeriert, dürfte die Karte Graubündens ganz anders aussehen und das politische Gewicht dieser Berggemeinden und des Kantons wäre um einiges grösser. Das würde zwar an der Kontrolle der Ressourcen vermutlich wenig ändern, dennoch würde die Massnahme einigen Bündner Alpenstädten grössere Sichtbarkeit und wirtschaftliche Dynamik verleihen.  

 

Derzeit wird Graubünden im Schweizerischen Städteverband lediglich durch vier Städte vertreten: Chur, Davos, St. Moritz und Arosa. Mit der Definition der Alpenkonvention wären dann von 101 Bündner Gemeinden (Stand 31.12.2021) 13 Alpenstädte, darunter eine italienischsprachige (Poschiavo) und eine romanischsprachige (Scuol). 

 

Nach dieser Rechnung würden die 13 potentiellen Bündner Alpenstädte 108’082 Einw. zählen, was 53,6 % der kantonalen Bevölkerung entspricht. 

 

Tabelle 1: Alpenstädte Graubündens nach der Definition der Alpenkonvention

 

 

 

Gemeinde Einw. (2021) Gemeinde Einw. (2021)
 Poschiavo (Bernina) 3'450 St. Moritz (Maloja)  4'957
Scuol (Engiadina Bassa / Val Müstair) 4'650 Chur (Plessur) 37'875
Bonaduz (Imboden) 3'499 Arosa (Plessur) 3'101
Domat/Ems (Imboden) 8'244 Davos (Prättigau / Davos) 10'648
Trimmis (Landquart) 3'343 Klosters (Prättigau / Davos)  4'411
Zizers (Landquart)  3'531 Ilanz/Glion (Surselva)  4'851
Maienfeld (Landquart) 3'080 Thusis (Viamala) 3'399
Landquart (Landquart) 9'043    
Total  108'082 oder 53,6 %  

Quelle: Amt für Wirtschaft und Tourismus Graubünden, eigene Darstellung

Erkenntnis 2: "Faktor 10"

Dass die Fokussierung auf die Bevölkerungsgrösse irreführend sein kann, zeigt die zweite Erkenntnis des vorliegenden Berichtes: Ausserhalb der Alpen spielen Siedlungen mit weniger als 20’000 Einw. in Metropolregionen, die beispielsweise als monofunktionale Vorstädte betrachtet werden, oft eine eher begrenzte Rolle. Anders sieht es im Alpenraum aus: Viele Kleinstädte erfüllen Schlüsselfunktionen für grosse Einzugsgebiete der umliegenden Regionen. Sie sind oft in globale wirtschaftliche Netzwerke eingebunden, und ihr Ruf ist manchmal beeindruckend. Alpenstädte spielen nicht nur oft eine grössere Rolle als vergleichbare Städte ausserhalb der Alpen, sondern erfüllen oft mehrere Rollen.

 

Daraus folgt die aus meiner Sicht wichtigste Erkenntnis vom ganzen Bericht, dass die kleineren Städte zwischen 3’000 und 10’000 Einw. erfahrungsgemäss das zehnfache an Leistungen erbringen müssen im Vergleich zu ähnlich grossen Städten im Unterland. Der Bericht spricht vom „10-Faktor-Argument“. Es ist überaus wichtig, dass diese Erkenntnis auf kantonale und Bundesebene durchdringt. 

 

Kommentar: Diese Erkenntnis ist offensichtlich, wenn man die Stadt Chur betrachtet. Die Alpenstadt im Rheintal beherbergt Arbeits-, Bildungs-, Mobilitäts-, Gesundheits- und Dienstleistungsangebote, die nicht nur die Bedürfnisse der Stadt selbst oder des Churer Rheintals, sondern diejenigen des ganzen Kantons und darüber hinaus abdecken. 

 

Was sich auf kantonaler Ebene bewahrheitet, gilt ebenso auf regionaler Ebene: Das mittelbündnerische Thusis, mit einer Einwohnerzahl von 3’399 Einw. (2021) deckt mit seinem Angebot an Dienstleistungen die Bedürfnisse der Regionen Viamala (14’029 Einw.), Albula ((8’144 Einw.) und darüber hinaus ab. Dasselbe gilt sinngemäss für St.Moritz/Samedan, Davos, Ilanz oder Scuol.

 

 

Demografische Entwicklung

Erkenntnis 3: Urbanisierung

Die letzten zehn Jahren lassen eine positive demografische Entwicklung im ganzen Alpengebiet erkennen. Zwischen 2010 und 2019 betrug das Bevölkerungswachstum in den Alpenstädten fast 4 %. Auf den gesamten Alpenraum betrachtet, liegt die Wachstumsrate etwas über 3 %, innerhalb der ländlichen Gebieten des Alpenraums etwas under 3 %. Das ist mehr als der EU-27 Durchschnitt. (2)

 

Das führt zur nächsten Erkenntnis: Das Alpengebiet urbanisiert sich zunehmend. Unter Urbanisierung versteht der vorliegende Bericht die zunehmende Bedeutung von Städten in quantitativer Hinsicht.

 

In der Fachliteratur herrscht die Meinung, dass kleinere Städte sich demografisch gesehen weniger positiv entwickeln als grössere. Die Bevölkerungsstatistik der letzten zehn Jahre zeigt jedoch, dass dies ein Trugschluss ist. Wachstum und Stagnation kommen in allen Alpenstädten aller Grössenklassen vor, obwohl der Bevölkerungsrückgang nur in Städten mit weniger als 50’000 Einw. zu verzeichnen ist. Der vorliegende Bericht betont jedoch, dass die nationale Zugehörigkeit - und nicht die Bevölkerungsgrösse der Städte - massgebend ist.

 

So weisen die Alpenstädte in der Schweiz, Liechtenstein und Monaco ein starkes Bevölkerungswachstum mit einer steilen Kurve und hohen Indexwerten auf. Die Alpenstädte in Frankreich, Deutschland und Österreich weisen ebenfalls einen Bevölkerungszuwachs auf, allerdings mit einer weniger steilen Kurve. Die italienischen und slowenischen Alpenstädte weisen stagnierende Werte und eine vorübergehend rückläufige Kurve auf. (3)

 

Kommentar: Zwischen 2010 und 2020 ist die ständige Bevölkerung in der Schweiz von 7,87 auf 8,67 Mio. Personen angestiegen. Das entspricht einer Zunahme um 10,1 %. Das Bevölkerungswachstum fand dabei vor allem in den Agglomerationsgemeinden statt, in denen die Bevölkerungszahl von 5,74 auf 6,3 Mio. Personen anstieg. Im Berggebiet nahm die Bevölkerung von 2010 bis 2020 um 7,5 % zu und stieg von 1,99 auf 2,14 Mio. Personen. Im gleichen Zeitraum nahm die Bevölkerung in den Regionen ausserhalb des Berggebiets um 11,1 % zu und stieg von 5,88 auf 6,53 Mio. Personen. Das Bevölkerungswachstum war somit in dieser Zehnjahresperiode in den urbanen Räumen deutlich stärker ausgeprägt. (4)

 

Dass die Schweizer Bergbevölkerung dermassen gestiegen ist, liegt selbstverständlich auch an der Zählmethode des BFS. Wenn Grossstädte wie Bern oder Zürich zum Berggebiet zugerechnet werden, und diese ohnehin eine starke demographische Dynamik aufweisen, dann muss man sich nicht wundern, dass die gesamte Bergbevölkerung aussergewöhnlich wächst. Doch auch innerhalb des Schweizer Berggebiets im engeren Sinn wuchs die Bevölkerung nicht gleichmässig. So ist die Bevölkerung des Kantons Graubünden von 2010 bis 2020 von 191’861 auf 199’021 Personen gestiegen, was ein Zuwachs von 3,7 % entspricht. Die Bevölkerung des Kantons Tessin ist im gleichen Zeitraum von 335’720 auf 351’491 Personen gestiegen, was einen Zuwachs von 4,6 % bedeutet. (5)

 

Erkenntnis 4: Bevölkerungsgrösse und Alter

Die Alterung der Bevölkerung wird aus volkswirtschaftlicher Sicht mehrheitlich als negativ betrachtet. Das hat damit zu tun, dass je älter die Bevölkerung ist, desto kritischer sind die Zukunftsaussichten: Medizinische Versorgung und altersgerechte Lebensräume verursachen Kosten und der Anteil der Erwerbsbevölkerung sinkt tendenziell, was die Arbeitsmärkte unter Druck setzt. Darüber hinaus deutet eine alternde Bevölkerung in aller Regel auf einen bevorstehenden Bevölkerungsrückgang. Dass die älteren Semester sich im sozialen Leben engagieren oder z.T. eine grössere Kaufkraft haben als jüngere, wird meist ausgeblendet. 

 

Auffallend ist, dass die Städte mit dem höchsten Alterungsquotient oft am Südrand der Alpen, vor allem in Italien, liegen.(6)

 

Kommentar: Gemäss dem vom Bundesamt für Statistik (BFS) berechneten Referenzszenario wird die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz von 8,6 Millionen Personen Ende 2019 auf 10,4 Millionen im Jahr 2050 ansteigen. Dieses Wachstum wird in erster Linie der Migration zuzuschreiben sein. (7)

 

In allen Kantonen zusammengenommen wächst die Bevölkerung in den kommenden drei Jahrzehnten um rund 20%. In den Kantonen Genf, Aargau, Zug, Waadt, Zürich, Schaffhausen und St. Gallen beläuft sich das Wachstum gemäss dem Referenzszenario hingegen auf über 25%. Die Bevölkerung der Schweiz wird sich folglich weiter im Einzugsgebiet der Agglomeration Zürich und im Genferseeraum konzentrieren. Die Kantone Tessin und Graubünden werden mit einem Minus von knapp 5% als einzige einen leichten Bevölkerungsrückgang verzeichnen. (8) Doch das ist nur ein Durchschnittswert. Manche Bündner Regionen wird ein Bevölkerungsrückgang von über 20 % vorausgesagt. Auf die Regionen Die Bevölkerungsperspektive Graubündens ist Gegenstand meines Beitrages „Bevölkerungsperspektive Graubündens 2020-2050“. (9)

 

Mit 32,7 % haben die Gemeinden im Berggebiet einen leicht höheren Jugendquotienten als die übrigen Gemeinden (32,4 %). Zwischen 2010 und 2020 nahm der Jugendquotient in den Berggemeinden jedoch deutlich stärker ab als in den übrigen Gemeinden. Auf der anderen Seite liegt der Altersquotient in den Berggemeinden mit 34,3 % deutlich höher als in den übrigen Gemeinden (29,5 %). (10)

 

Graubünden und Tessin, die beiden Bergkantone mit der ungünstigsten Bevölkerungsentwicklung, befinden sich somit auf der Schwelle des vom vorliegenden Bericht angesprochenen Nord-Süd-Gefälles. Ihnen droht die gleiche Entwicklung wie in Italien und Slowenien. Doch um den Trend zu brechen bzw. umzukehren, müssten nicht nur Arbeitsstellen kreiert, sondern auch die Raumplanung überdacht werden. Denn die restriktive Handhabung des Wohnungsbaus hindert derzeit die Niederlassung von Einheimischen und potenziellen „Highländern“. 

 

Erkenntnis 5: Höhenlage und sozioökonomischen Entwicklung

Eine weitere interessante Erkenntnis ist, dass es gemäss Bericht keinen Zusammenhang gibt zwischen Höhenlage und sozioökonomischer Entwicklung. Das würde bedeuten, dass ein 1000-Seelendorf im Gebirge gleich viel erwirtschaften würde wie ein ähnlich grosses Dorf im Unterland. Ist dem wirklich so?

 

Objektiv gesehen stellt die Höhenlage grosse Herausforderungen für die alpine Bevölkerung wie Naturgefahren (Lawinen, Bergstürze, Murgänge usw.), enge Raumverhältnisse für die Siedlungen, schwierige Erreichbarkeit und Mobilität. Die Autoren des Berichts gestehen, dass die Nähe von grossen Tälern wichtig sei, doch die nationale Zugehörigkeit spiele die grössere Rolle in der Entwicklung der Bergsiedlungen. 

 

Kommentar: Der Aussage des Berichtes, dass kein Zusammenhang zwischen Höhenlage und sozioökonomischen Entwicklung besteht, liegt kein Beweis zugrunde. Das ist bedauerlich, denn ein solche volkswirtschaftliche Grundlage wäre höchst wünschenswert.  

 

Man kann aus meiner Sicht nicht von der Hand weisen, dass die Höhenlage ein Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung des Alpengebiets darstellt. Wie könnte man ansonsten erklären, dass das Wachstum in den letzten zehn Jahren (und den Jahren davor) im Alpengebiet sich hauptsächlich auf die breiten Täler und Korridore in geringerer Höhe konzentriert hat? 

 

Zur Unterstützung der These der Autoren kann man anbringen, dass Ökonomen Statistiken und einfach anzuwendende Modelle mögen. Sie scheuen komplexe Aufgaben, weil sie in der Regel mit zunehmenden Kosten verbunden sind. So gesehen sind  die oben angesprochenen Hindernisse mehr wirtschaftlichen als natürlichen Ursprungs. Denn es sind schliesslich mehrheitlich Rentabilitätsrechnungen, die vorgeben, ob z.B. ein Bergdorf eine Eisenbahnanschluss erhält oder nicht. Historisch gesehen hätte in Graubünden keine Eisenbahnlinie aufgrund der Bedürfnisse der lokalen Bevölkerung erbaut werden können. Erst der Tourismus legitimierte den Bau der damals als „Touristenbahn“ verspotteten Eisenbahnlinien. 

 

Umwelt

Erkenntnis 6: Wasserverbrauch

Die Wasserversorgung ist ein besonders dringendes Thema: Aufgrund der Topographie, der Niederschläge und der Gletscher dienen die Alpen als Wasserreservoir für grosse Teile Europas. Trinkwasserversorgung, Industrieproduktion, landwirtschaftliche Produktivität, Wasserkraft und andere Nutzungen erfordern eine gleichbleibende Verfügbarkeit von Alpenwasser. Das hat Auswirkungen nicht nur für den Alpenraum, sondern auch weit darüber hinaus.

 

Reduzierte Wassermengen und eine eingeschränkte Zuverlässigkeit der Wasserversorgung werden daher in den kommenden Jahrzehnten ein höchst umstrittenes Thema sein. Der Wettbewerb um Wasser, oft zwischen dem alpinen Raum und dem Unterland, wird bei zunehmender Ressourcenknappheit und globalem Wettbewerb um Ressourcen eine wesentliche Rolle spielen.

 

Die Alpenstädte nehmen in diesem Zusammenhang eine schwierige Stellung ein. Denn sie sind weder Wasserversorger (die Quellen befinden meist sich in ländlichen Alpengebieten) noch Grossverbraucher (das sind eher die grossen landwirtschaftlichen und metropolitanischen Akteure im Unterland).

 

Die Städte im Süden der Alpen (vor allem in Frankreich und Italien) mit ihren trockeneren Klimazonen leiden häufiger unter Wassermangel als die Städte im Norden. Doch auch Schweizer Alpenstädte sind gefährdet. (11) 

 

Kommentar: Die Problematik der topografischen Lage (Flussober- oder unterlauf) und des internationalen Wettbewerbs um Wasser hat die Schweiz spätestens letzten Sommer erreicht. Ein grenzüberschreitender Zielkonflikt zeigt sich am Lago Maggiore. Aus Sicht der Regionen Lombardei und Piemont sollte der See im Sommer als Wasserreserve für die Bewässerung möglichst gut gefüllt sein. Die am Ufer liegenden Städte und Gemeinden hingegen möchten den Wasserpegel auf einem tieferen Stand regulieren. So kann der See die Sommerhochwasser aufnehmen, ohne dass er über die Ufer tritt. Die Anpassung an den Klimawandel erfordert also auch eine nachhaltige und einvernehmliche Bewirtschaftung der Flüsse und Seen über die Landesgrenzen hinaus. (12) 

 

Laut einer Studie des Bundesamt für Umwelt BAFU aus dem Jahr 2021 stammte zwischen 1981 und 2010 ca. 40 % des gesamten jährlichen Abflusses der Schweiz aus der Schneedecke. Die hydrologischen Szenarien lassen einen Rückgang der mittleren jährlichen in der Schneedecke gespeicherten Wassermenge erwarten: bis Ende des Jahrhunderts um 42 % mit konsequentem Klimaschutz und um 78 % ohne Klimaschutz. (13)

 

Fragt sich, wie die am Oberlauf von vier grossen europäischen Strömen befindliche Schweiz ihre geopolitische Stellung künftig ausspielen kann.  

 

 

Erkenntnis 7: Temperaturanstieg

Aufgrund des Klimawandels wird für das Alpengebiet ein höherer Temperaturanstieg erwartet als im europäischen Durchschnitt. Dies gilt insbesondere für die italienischen und französischen Gebiete im Südwesten der Alpenkonvention. Auch viele Schweizer Städte dürften stark betroffen sein. (14)

 

Die Autoren des Berichtes haben zudem eine Korrelation zwischen dem Temperaturanstieg, der Wasserknappheit und dem Alterungsquotient im Alpengebiet gefunden, was die medizinische Versorgung zusätzlich unter Druck setzt.

 

Kommentar: In der Schweiz hat die Jahresdurchschnittstemperatur seit der industriellen Revolution um fast 2 Grad Celsius zugenommen – das ist fast doppelt so viel wie der mittlere globale Temperaturanstieg. Ohne gemeinsame Anstrengungen zur Reduktion von Treibhausgasemissionen ist ein weiterer Anstieg der Durchschnittstemperatur in der Schweiz um 2 bis 3 Grad bis 2060 möglich. Das bedeutet häufigere und extremere Hitzewellen und heisse Tage im Sommer, die durchschnittlich bis zu 4,5 Grad wärmer sein werden als heute. Im Mittel werden die Niederschläge in den Sommermonaten abnehmen, ebenso die Anzahl an Regentagen, während die Verdunstung zunimmt. (15) 

Dass die Berggebiete von der Klimaerwärmung stärker betroffen sind als das Unterland, sollte sie animieren, Vorreiter in der nachhaltigen Entwicklung zu werden und den Weg zu weisen. Dieser Aspekt wird im Teil 2 „Debatten“ ausführlicher präsentiert.

 

 

Wirtschaft

Erkenntnis 8: Arbeitsmarkt

Der Arbeitsmarkt ist eine der wichtigsten Funktionen der Städte. Da die meisten technologischen und wirtschaftlichen Innovationen ihren Ursprung in städtischen Kontexten haben, kommt den Alpenstädten eine Schlüsselrolle bei der territorialen Entwicklung zu.

 

Die meisten Alpenstädte weisen eine positive Beschäftigungstendenz auf, die jedoch einmal mehr mit einem Nord-Süd-Gefälle einhergeht: Mit wenigen Ausnahmen entwickeln sich die nördlichen Alpenstädte deutlich positiv, während die Situation im südlichen Alpenraum kritischer ist. So verschlechtert sich der Arbeitsmarkt in vielen französischen, italienischen und slowenischen Städten, was auf eine abnehmende Arbeitsmarktfunktion hindeutet. (16) In vielen Fällen korreliert dies mit höheren Alterungsquotienten, da die nationale Zuwanderung tendenziell geringer ausfällt.

 

Die Entwicklung des Arbeitsmarktes wird jedoch, so die Autoren, vor allem von den örtlichen Gegebenheiten und der nationalen Zugehörigkeit und nicht von der Grösse bestimmt. Sie stellen ebenso fest, dass die städtischen Systeme im föderalen Kontext eine positivere Entwicklung in kleineren Städten (AT, DE, CH) aufweisen als in stärker zentralisierten Städten (FR, IT).

 

Auf regionaler Ebene können die Alpenstädte eine wesentliche Vermittlerrolle spielen. Das bedeutet, dass die ländlichen Gebiete rund um die Städte nicht nur Arbeitskräfte und Konsumenten liefern, sondern auch Spill-over-Effekte in Form von Innovationen, Unternehmensgründungen und Spin-offs zu erwarten sind. 

 

Kommentar: Der wirtschaftliche Nord-Süd-Gefälle verläuft durch den Kanton Graubünden, quer südlich des Churer Rheintals. Das hat zur Folge, dass unterhalb dieser Linie der Rest des Kantons peripherisiert und marginalisiert wird. Mit der Stärkung von Alpenstädten in der Peripherie kann diesem Phänomen entgegengewirkt werden.  

 

 

Erkenntnis 9: Universitätsstädte

Universitätsstätten sind aus verschiedenen Gründen wichtig für die territoriale Entwicklung. Zunächst einmal leisten sie einen wichtigen Dienst im Hochschulbereich, der eine Voraussetzung für Chancengleichheit und territorialen Zusammenhalt in der Region ist. Darüber hinaus dient ein Universitätscampus als Dreh- und Angelpunkt der öffentlichen Forschung, die langfristig zu Innovation und Wirtschaftswachstum führt, oft mit regionalen Spill-over-Effekten. Die bildungsbedingte Migration und die mit der universitären Forschung verbundene Wirtschaftsdynamik führen tendenziell zu positiven demografischen Entwicklungen. Nicht zuletzt zeichnen sich Universitätsstädte durch eine ausgeprägte Atmosphäre und ein „junges“ Kulturangebot aus. 

 

Dennoch widerspiegelt die Kartierung der Universitätsstädte im Alpengebiet das konventionelle Muster: Universitätsstädte befinden sich primär in Grossstädten. Selbstverständlich gibt es auch Ausnahmen wie die Fachhochschule Chur oder die Universität Vaduz. (17) 

 

Trotz positiver Wirtschaftsperspektiven liegen eine Reihe von Alpenstädten recht weit von der nächsten Universität entfernt. Die Autoren des Berichtes empfehlen die Schaffung regionaler Zweigstellen, um das Potenzial der Hochschulen für die regionale Entwicklung besser zu nutzen.

 

Kommentar: Die zunehmende Akademisierung des Arbeitsmarktes sollte ein Hinweis darstellen, dass Universitäten in dünn besiedelten Alpenstädten eine grosse Rolle spielen können. Für weitere Informationen verweise ich auf meine Beiträge „Wissen ist Macht - Teil 1 und 2“. (18)

 

 

Erkenntnis 10: Erreichbarkeit und Mobilität

Im Alpengebiet ist die Gestaltung attraktiver öffentlicher Verkehrsmittel, insbesondere der Bahn, angesichts der Topographie und der dezentralen Siedlungsstruktur ein lohnendes Unterfangen. Topografische und Rentabilitäsfragen führen jedoch dazu, dass im Alpengebiet die Bahn allein nicht das gesamte Spektrum der Mobilität abdecken kann. Die Bahn muss durch zusätzliche Verkehrsträgern wie Bus oder Auto für die „letzte Meile“ ergänzt werden und der öffentliche Verkehr sog. multimodale Funktionen anbieten.

 

Rentable Bahnknotenpunkte lassen sich aber am ehesten über die Grenzen hinaus auf regionaler Ebene knüpfen. Diese Entwicklung wird allerdings durch die Staatsgrenzen, wenn nicht behindert, dann zumindest erschwert. 

 

Abb. „Space-time lines, rail passenger transport“ zeigt, dass die Verbindung Chur - St. Moritz eine der langsamsten des ganzen Alpengebiets darstellt, obwohl sie zu den relativ verkehrsintensivsten Strecken gehört. (19)

 

Schliesslich muss, so die Autoren, die Rolle der Alpenstädte in einem nachhaltigen multimodalen Verkehrssystem in den kommenden Jahrzehnten weiterentwickelt werden. 

 

Kommentar: Die langfristig rückläufige Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung des Kantons Graubünden sollten die Behörden auf allen Stufen aufrütteln. Ein Grund für diese Entwicklung ist die schlechte Erreichbarkeit der Bergsiedlungen ausserhalb des Churer Rheintals. Obwohl die Verbindung Scuol-Mals für die Entwicklung und Erschliessung des Unterengadins vom Osten und Süden her höchst erwünscht ist, stockt derzeit die Planung auf der politischen Ebene. Doch, selbst wenn dieser Plan Mitte des Jahrhunderts realisiert werden würde, wird er allein nicht ausreichen, um den Kanton aus seiner peripheren Lage zu befreien und ihm neue wirtschaftliche Perspektiven zu bieten. 

 

Erkenntnis 11: Tourismuskapazität

Alpenstädte dienen mehrheitlich der Beförderung von Touristenströmen in die Alpengebiete, allenfalls der Gastronomie und der Hotellerie. Das soll sich künftig ändern, empfehlen die Autoren. Alpenstädte sollten ihre Sichtbarkeit auf der Landkarte verbessern und sich als Bindeglied zwischen dem Unterland und dem Alpengebiet positionieren. 

 

Kommentar: Mit Ausnahme von St. Moritz, Davos und Arosa besitzen die meisten Bündner Tourismusdestinationen nicht die Grösse einer Stadt im Sinne dieses Berichts (3’000 bis 10’000 Einw.). Die kleineren Destinationen müssen überdurchschnittliche Anstrengungen und Investitionen stemmen, um sich künftig behaupten zu können. Denn die Konkurrenz ist äusserst hart. Deshalb kann es in diesem Bericht abartig erscheinen, die Bedeutung von Alpenstädten (wie z.B.Chur) hervorzuheben. Doch wenn Chur sich nicht weiterentwickelt, kann es die Peripherie auch nicht. 

 

Globale Positionierung

Erkenntnis 12: INTERREG-Programm

Governance im Alpenraum hat viele Facetten, bedingt durch die zahlreichen nationalen politischen Territorien und Verwaltungskulturen, die im Alpengebiet zusammenkommen. So unterscheiden sich die Kompetenzen der französischen Gemeinden gegenüber den schweizerischen merklich, und die slowenischen Regionen sind kaum mit denen Italiens vergleichbar. Das hindert die transnationale Zusammenarbeit. Dieses Hindernis versuchen seit einigen Jahren die Alpenkonvention und die EU mit einer transnationalen Governance zu überwinden.

 

Eine Analyse der Projekte, die in den letzten zehn Jahren realisiert worden sind dank dem INTERREG-Programm der EU in den Bereichen Wirtschaft, Forschung und Wissen, Raumplanung, Umwelt, Governance, Gesundheit und Soziales, Mobilität, Kultur und Kunst und Tourismus zeigt, dass die Kooperation am Rande des Alpengebiets viel grösser ist als im Inneren. (20) Es deutet daraufhin, dass die grösseren Alpenstädte am Rande des Alpengebiets grössere Netzwerke aufgebaut haben als die kleineren Alpenstädte im Innern. Aufgrund der bedeutenden Rolle von kleineren Alpenstädten („Factor 10“) sehen hier die Autoren des Berichtes einen grossen Aufholbedarf. 

 

Kommentar: Das vielleicht sichtbarste Instrument dieser transnationalen Governance ist das INTERREG-Programm, das in  Graubünden durch das bereits erwähnte Projekt einer Bahnverbindung zwischen Scuol und Mals bekannt geworden ist. Dieses Generationenprojekt könnte frühestens 2040/2045 realisiert werden, sofern die Teilfinanzierung  durch die EU gewährleistet ist und die Schweiz ihren politischen Willen unter Beweis stellt. Für weitere Information verweise ich auf meinen Beitrag vom 02.02.2021 „Wann kommt der Zug nach Val Müstair?“ (21)

 

 

Governance

Erkenntnis 13: Netzwerke

Die Autoren des Berichtes haben zwei Alpenstädte-Netzwerke untersucht: „Alpenstadt des Jahres“ und „Allianz in den Alpen“ und stellen anhand der Kartierung der Netzwerke fest, dass einmal mehr die Kontakte zwischen Alpenstädte am Rand des Alpengebiets diejenigen der Alpenstädte im inneren Alpenraum bei weitem übertreffen. (22) 

 

Dennoch decken die beiden Netzwerke nur einen Bruchteil der alpinen Bevölkerung ab. So zählt das Netzwerk der 23 Alpenstädte des Jahres im Umkreis der Alpenkonvention rund 932’000 Einw. Dabei haben fast alle mehr als 10’000 Einw. Im Netzwerk der Allianz der Alpen haben nur 14 von 56 Alpenstädte mehr als 10’000 Einw., was insgesamt 700’000 Einw. ausmacht. 

 

Wie bereits erörtert, sind kleine Alpenstädte für ihren regionalen Kontext und für das alpine Siedlungssystem von hoher funktionaler Bedeutung („Faktor 10“). Aus dieser Perspektive besteht ein grosses Potenzial für die weitere Vernetzung kleiner Alpenstädte, die künftig vor gemeinsamen Herausforderungen stehen könnten.

 

Kommentar: Netze sind bekanntlich der Motor der (wirtschaftlichen) Entwicklung. Ihre Form (sternförmig, rasterförmig, linear) und Dichte widerspiegeln in der Regel ein Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Akteuren. Hingegen ist ein nicht oder nur gering erschlossenes Gebiet ein Zeichen von Peripherisierung und Marginalisierung. 

Die Alpenstädte des Jahres mit dem Jahrgang ihrer Erkennung sind folgende: 

 

Tabelle 2: Alpenstädte des Jahres

 

 

Alpenstadt Jahr Alpenstadt Jahr
Passy (F) 2022 Brig-Glis (CH) 2008
Biella (I) 2021 Sondrio 2007
Morbegno (I)  2019 Chambéry (F)  2006
Brixen-Bressanone (I) 2018 Sonthofen (D) 2005
Tolmezzo (I)  2017 Trento (I)  2004
Tolmin (SLO)  2016 Herisau (CH)  2003
Chamonix (F)  2015 Gap (F)  2002
Lecco (I) 2013 Bad Reichental (D)  2001
Annecy (F)  2012 Maribor (SLO) 2000 
Idrija (SLO) 2011 Belluno (I)  1999
Bad Aussee (Ö) 2010 Villach (Ö) 1997
Bolzano-Bozen (I) 2009    

Quelle: Alpenstadt des Jahres, eigene Darstellung

 

Unter den 23 Alpenstädten des Jahres befinden sich lediglich zwei Schweizer Städte. Die grösste Anzahl weist Italien aus (9), gefolgt von Frankreich (5), Slowenien (3), Österreich und Deutschland (jeweils 2). 

 

Das Netzwerk der Allianz in den Alpen ist bedeutend dichter. Von den 310 Mitgliedsgemeinden sind 30 Schweizer. Der Kanton Wallis ist am meisten vertreten, gefolgt von den Kantonen Luzern, Graubünden und St. Gallen.

 

Tabelle 3: Schweizer Alpenstädte in der Allianz der Alpen

 

30
Kanton Mitgliedsgemeinden Total
Wallis Binn, Blatten, Ernen, Isérables, Leuk, Saas-Fee, Saint-Martin, Salgesch, Varen 9
Luzern Biosphärenreservat Entlebuch, Doppelschwand, Entlebuch, Escholzmatt-Marbach, Hasle, Romoos, Schüpfheim 7
Graubünden Lumnezia, Naturpark Biosfera Val Müstair, Poschiavo, Safiental, Scuol, Valsot 6
St. Gallen  Buchs, Gams, Grabs, Sennwald, Sevelen, Wartau 6
Schwyz Sattel 1
Uri Silenen 1
 Total     

Quelle: Allianz in den Alpen, eigene Darstellung

 

 

Erkenntnis 14: Transnationale Kooperation

Die Analysen dieses Berichts zeigen, dass viele Trends und Muster in erster Linie durch die nationale Zugehörigkeit einer Stadt beeinflusst werden.

 

Die Abb. „Alpine towns and border regions“ zeigt, dass sich viele Alpenstädte in einer Grenzregion befinden, wobei diejenigen hervorgehoben werden, die sich auf beiden Seiten der Grenze innerhalb einer Pufferzone von 15 Km befinden. (23)

 

Diese Alpenstädte sind Orte, an denen unterschiedliche politische Systeme sowie wirtschaftliche und kulturelle Rahmenbedingungen aufeinandertreffen. Sie sind zunehmend von Pendler-, Freizeit- und Einzelhandelsströmen geprägt. Dies erfordert bestimmte Anforderungen an die Verkehrsinfrastruktur, die Bereitstellung sozialer Dienste und die politische Zusammenarbeit. Dabei lassen sich zumindest drei verschiedene Kategorien unterscheiden: 

 

Erstens haben wir grenzüberschreitende Korridore, die mit hohem Vernetzungsgrad urbanisiert sind. In diesen Fällen sind die Verbesserung der nachhaltigen Mobilitätsinfrastruktur und die gerechte Gestaltung der grenzüberschreitenden Arbeitsmärkte zentrale Anliegen.

 

Die zweite Kategorie ist sehr unterschiedlich. Fälle, die in diese Kategorie fallen, sind erkennbar an der topografisch bedingten „Sackgasse-Lage“ (z.B. Söldnern in Österreich). Ihre Grenznähe ist ohne grosse Relevanz für eine grenzüberschreitende Integration. Die vollständige Integration der inländischen Dienstleistungserbringung steht hier im Vordergrund.

 

In der dritten Kategorie befinden sich Städte in „Zwischensituationen“, wie am Reschenpass (Mals-Landeck) oder Brig-Domodossola. Niedrige Urbanisierungs- und Erreichbarkeitsgrade können sowohl Chancen als auch Gefahren bedeuten. Zugänglichkeit und Infrastruktur stehen ganz oben auf der Agenda: Wie man Zugänglichkeit verbessern, nachhaltige Mobilitätsmuster erreichen und ohne Tunneleffekte vom Standort profitieren kann - die Herausforderungen sind komplex.

 

Kommentar: Einfalls- und Ausgangstor zu Graubünden ist die A13-Achse mit Einfahrt im Churer Rheintal und Ausfahrt im Moesa-Tal bei Roveredo. Ansonsten bieten Alpenpässe (teilweise mit Wintersperre) einen Durchgang in den Kanton Uri, bzw. in die Lombardei oder nach Südtirol. In gleicher Weise wie Sölden kann Samnaun als Sackgasse bezeichnet werden. Wenn die Dienstleistungserbringung für diese ungünstig liegenden Bergsiedlungen aus Schweizer Sicht als unrentabel betrachtet wird, dann dürfte eine engere grenzüberschreitenden Kooperation angestrebt werden. 

 

Die Bündner Südtäler kann man in die zweite Kategorie eingliedern. Von der Schweiz aus betrachtet, werden sie als Sackgassen wahrgenommen. Von der italienischen Seite hingegen, sind sie weit offen. So sitzen die Südtäler auf zwei Welten, ohne weder der einen noch der anderen richtig anzugehören. Ein Aspekt fällt jedoch auf: Sie werden zunehmend germanisiert.  

 

 

Fazit

Bisher waren die Alpenstädte kein prominentes Thema in den transnationalen strategischen Überlegungen zur Entwicklung der Alpen. Mit dem 9. Bericht der Alpenkonvention ändert sich das. Dabei spielen die Alpenstädte eine grosse Rolle. Das ist für Graubünden die letzte Gelegenheit, auf den Zug zu springen. 

 

Zusammenfassend kann man die Erkenntnisse so formulieren: 

 

  1. Alpenstädte haben Schlüsselfunktionen jenseits ihrer Grösse („Faktor 10“).
  2. Alpenstädte verbinden städtische und ländliche Gebiete. 
  3. Alpenstädte können Vorreiter der nachhaltigen Entwicklung werden. 
  4. Alpenstädte sollen sich vermehrt vernetzen. 

Konsequenz: Nach der Definition der Alpenkonvention zählt Graubünden 13 potentielle Alpenstädte. 

 

Virginia Bischof Knutti©18.01.2023

 

Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Alpenstädte Graubündens nach der Definition der Alpenkonvention, Amt für Wirtschaft und Tourismus Graubünden, eigene Darstellung.

Tabelle 2: Alpenstädte des Jahres, Alpenstadt des Jahres, eigene Darstellung, https://www.alpenstaedte.org/alpenstaedte/, gesichtet am 12. 01.2023.

Tabelle 3: Schweizer Alpenstädte in der Allianz der Alpen, Allianz in den Alpen, eigene Darstellung, https://alpenallianz.org/de/ueber-das-gemeindenetzwerk/mitglieder/, gesichtet am 12.01.2023.

Abbildung auf der Frontseite: Alpine towns, map alpine settlement system, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.

 

Quellenverzeichnis

  1. Bundesamt für Statistik BFS, Raumgliederungen der Schweiz, Neue statistische Definition der Berggebiete, Neuchâtel, August 2019, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/aktuell/neue-veroeffentlichungen.assetdetail.9526706.html.
  2. Fig. 3: Population change 2010-2019 and peri-Alpine areas, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  3. Fig. 4: Population change in Alpine towns by countries 2009-2019, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  4. Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB), Das Schweizer Berggebiet 2022 - Fakten und Zahlen, Nr. 253, Juli 2022, S. 8.
  5. Bundesamt für Statistik BFS, Bilanz der ständigen Wohnbevölkerung nach Kanton 1991-2021, https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/stand-entwicklung/bevoelkerung.assetdetail.23064798.html.
  6. Fig. 6: Ageing Index in Alpine towns, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  7. Bundesamt für Statistik BFS, Bevölkerungsentwicklung von 2020 bis 2050: Wachstum, Alterung und Konzentration rund um die grossen Städte, https://www.bfs.admin.ch/asset/de/12847542, gesichtet am 12.01.2023.
  8. Dito.
  9. Virginia Bischof Knutti, Bevölkerungsperspektive Graubündens 2020-2050, 09.03.2022, https://virginiabischofknutti.jimdofree.com/blog/graubünden/.
  10. Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB), Das Schweizer Berggebiet 2022 - Fakten und Zahlen, Nr. 253, Juli 2022, S. 8.
  11. Fig. 8: Walter use index, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  12. Bundesamt für Umwelt, National Centre for Climate Services NCCS, Internationale Aspekte, https://www.nccs.admin.ch/nccs/de/home/sektoren/wasserwirtschaft/auswirkungen-auf-die-wasserwirtschaft/internationaleaspekte.html, gesichtet am 12.01.2023.
  13. Fig. 9: Projected changes in surface temperature 2021-2050, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  14. Fig. 9: Projected changes in surface temperature 2021-2050, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  15. ETHZ-CSS-Analysen zur Sicherheitspolitik, Christine Eriken und Andren Harri, Klimawandel in den Schweizer Alpen, Zürich, September 2021, https://css.ethz.ch/content/dam/ethz/special-interest/gess/cis/center-for-securities-studies/pdfs/CSSAnalyse290-DE.pdf.
  16. Fig. 10: Employees per inhabitants 2015 und 11: Employment change 2012-2018, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  17. Fig. 13: University locations & number of students, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  18. Virginia Bischof Knutti, Wissen ist Macht, Teil 1 und 2, 15 und 21.09.2022, https://virginiabischofknutti.jimdofree.com/blog/graubünden/.
  19. Fig. 14: Space-time-lines, rail passenger transport, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  20. Fig. 18: Cooperation networks in thematic differentiation of the INTERREG Alpine Space program, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  21. Virginia Bischof Knutti, Wann kommt der Zug nach Val Müstair?, 02.02.2021, https://virginiabischofknutti.jimdofree.com/blog/graubünden/.
  22. Fig. 19: Inner-Alpine governance: networks of Alpine towns, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.
  23. Fig. 20: Alpine towns and border regions, https://alpinetowns.alpconv.org/map-download/.

 

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