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9th Report on the state of the Alps - Teil 2

Debatten

Im Dezember 2022 ist der 9. Bericht über den Zustand der Alpen der Alpenkonvention erschienen: „9th Report on the state of the Alps“ - abgekürzt RSA9. 

Der Bericht ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil fokussiert auf eine Analyse der Alpenstädten und mündet auf eine Reihe von Erkenntnissen und Debatten. Der zweite Teil präsentiert fünf  mögliche Szenarien  für die Entwicklung von Alpenstädten. 

Ich habe den 9th report on the state of the Alps in drei Teile gegliedert. Letzte Woche haben wir den ersten Teil „Erkenntnisse“ besprochen. Diese Woche widmen wir uns den „Debatten“. 

Im Gegensatz zu den Erkenntnissen, die z.T. vollkommen neue Elemente in die Wahrnehmung des Alpengebiets geliefert haben, widerspiegeln Debatten viel mehr Hoffnungen und Unsicherheiten, Pro und Contra, die mit Megatrends verbunden sind wie Globalisierung, Dezentralisierung, demographische Entwicklung, Klimawandel usw. Diese Debatten sind uns allen bewusst, aber die Möglichkeiten, die sich ergeben, bleiben möglicherweise für den einen oder anderen von uns im Verborgenen. Deshalb ist es wichtig, den Inhalt dieser Debatten zu kennen und sich als Politiker oder Unternehmer ihnen gegenüber zu positionieren.  

In diesem zweiten Teil habe ich acht Debatten identifiziert und rezensiert. Ein Schlusskommentar rundet das Ganze ab.

Der dritte und letzte Teil „5 Szenarien“ erscheint voraussichtlich in einer Woche. 

 

Die Alpenstädte und das Siedlungssystem

Debatte 1: Urbanisierung in den Alpen - Potenzial oder Bedrohung?

n weiteren Abschnitten dieses Berichts wird aufgezeigt, dass viele Alpenstädte in sozioökonomischer Hinsicht weit vor dem EU-Durchschnitt liegen und die Tourismusbranche aussergewöhnlich ist. Zudem müssen die Alpenstädte aufgrund des rasanten Klimawandels bei der Anpassung an den Klimawandel eine Vorreiterrolle übernehmen.

 

Die zentrale Frage ist, welches Urbanisierungs- und Siedlungssystem für den Alpenraum am geeignetsten und nachhaltigsten ist. Der Bericht unterscheidet hier zwischen zwei Perspektiven: Die interne Perspektive konzentriert sich auf die Rolle der Städte im Innern der Alpen, während die externe Perspektive die Rolle der umliegenden Metropolen in unmittelbarer Nähe zu den Alpen (z. B. Annecy, Zürich, München, Turin, Ljubljana) reflektiert.

 

Ausgehend von der internen Perspektive ist die Debatte komplex. Auf der einen Seite kann Urbanisierung vor allem als Bedrohung für das fragile Natur- und Kulturerbe der Alpen gesehen werden. Andererseits kann die Verstädterung auch als Chance für eine effiziente räumliche Organisation gesehen werden, die eine hohe Lebensqualität gewährleistet. Die Zugänglichkeit dieser Dienstleistungen ist der Schlüssel für die Lebensqualität, den Wohlstand und die Lebensweise der Alpenbevölkerung in allen Altersgruppen.

 

Hier kommt das Prinzip der „dezentralen Konzentration“ zum Tragen: „Konzentration" bezieht sich auf die Notwendigkeit, räumliche Dynamik an ausgewählten Orten zu bündeln, während „dezentralisiert“ darauf hindeutet, dass diese Konzentration auf die Metropolregionen konzentriert werden sollte. Im Grunde findet man im Konzept der dezentralen Konzentration nichts anderes als den von der Bergbevölkerung bevorzugten Mittelweg. 

 

Die Grundidee besteht darin, eine gute räumliche Infrastruktur zu schaffen, ohne Zersiedelung zu fördern. Aus dieser Perspektive ist das alpine Siedlungssystem, das sich entlang grösseren Tälern konzentriert, die Grundlage der räumlichen Effizienz. Die Unterstützung der Funktionen von Städten unterschiedlicher Grösse entlang dieser Achsen ermöglicht eine effiziente Organisation der Verkehrswege, des Energieverbrauchs und der Wirtschaftsströme.

 

Die externe Perspektive bringt ebenso vielfältige Argumente mit sich. Denn die Nähe zu den grösseren Ballungsräumen rund um die Alpen birgt Chancen und Gefahren.

Chancen, weil die kurzen Entfernungen zu den grossstädtischen Arbeits- und Verbrauchermärkten und die Integration in grosse Verkehrsinfrastrukturen das Potenzial für wirtschaftlichen Aufschwung bieten. Orte, die nicht in die internationalen Netzwerke integriert sind, leiden tendenziell unter Abwanderung und wirtschaftlicher Stagnation. Gefahren, weil für die stärker integrierten Städte die offensichtliche Gefahr in der Überausbeutung der perialpinen Nachfrage (z. B. Verkehr, Freizeit und Tourismus) besteht. Darüber hinaus könnte die alpine Kulturlandschaft mit ihren Städten als alpine Restelemente auf ästhetische Klischees reduziert oder durch eine rein touristische Infrastruktur ersetzt werden.

 

Die zentrale Herausforderung besteht darin, so die Autoren, einen räumlichen Integrationsansatz zu etablieren, der ein ausgewogenes sozioökonomisches Gleichgewicht mit hoher ökologischer Effizienz gewährleistet. Ziel ist es, in diesem Zusammenhang endogene Potenziale mit der intelligenten Nutzung internationaler Integration zu verbinden.

 

Debatte 2: Wie "alpenspezifisch" ist die Lebensqualität in den Alpen?

Die Debatte über die Lebensqualität steht derzeit ganz oben auf der Tagesordnung der Raumentwicklung in Europa.

 

Die „Alpenspezifizität“ umfasst materielle, soziale und Umweltqualitäten, die zu einem subjektiv und objektiv „guten“ Leben führen und zu einem gewissen Mass an Glück, Zufriedenheit und Gesundheit führen. Intuitiv ist das Konzept nachvollziehbar, aber es ist nicht einfach zu definieren oder gar zu messen. Ein Stück weit beruht es sogar auf Jahrhunderte währende Mythen. 

 

Derzeit - und vermehrt seit der Coronapandemie - wird der Alpenraum mit einer hochwertigen Lebensqualität assoziiert, welche das Potenzial hat, Kapital und Menschen als Arbeitskräfte, als „neue Highländer“ anzuziehen. Auch wenn das Gesamtpotenzial offensichtlich gross sein mag, bleibt die Frage, welche alpinen Qualitäten spezifisch sind und inwieweit diese als positiv angesehen werden.

 

Ohne Überraschung ist es die Morphologie des Geländes, oder die Topographie, die dem alpinen Kontext eine gewisse „Hebelwirkung“ auf die Lebensqualität bietet: Die Landschaft, mit ihren Panoramaausblicken, wirkt attraktiv. Die Bergbahnen und andere touristische Anlagen ermöglichen kurze Erlebnisse in dieser Landschaft. Es liegt also für gewisse Menschen auf der Hand, solche Erlebnisse dauerhaft zu machen. 

 

Die bergspezifische Topographie behindert jedoch die Zugänglichkeit und damit die Dichte der wesentlichen Dienstleistungen, wenn auch oft in geringerem Mass als in manchen unterländischen ruralen Kontexten. Darüber hinaus schränkt die Topographie den Siedlungsraum stark ein, was in Verbindung mit der hohen Landnachfrage von Zweitwohnungsbesitzern und Tourismusunternehmen zu (sehr) hohen Immobilienpreisen führt.

 

Ob die positiven oder negativen Aspekte die Lebensqualität in den Alpenstädten bestimmen, hängt von drei Aspekten ab: den individuellen Vorlieben, dem sozioökonomischen Status und dem politische Umgang mit territorialen Gütern (z.B. sozialer Wohnungsbau, Lärmschutzmassnahmen, Förderung von lokalen Initiativen, etc.).

 

Daher ist das Potenzial für eine hohe Lebensqualität im Alpenraum sicherlich besonders hoch. Dieses Potenzial entfaltet sich jedoch nicht automatisch und muss sich den Risiken der Gentrifizierung und Polarisierung stellen. Wenn es darum geht, die Lebensqualität der etablierten Bevölkerung zu sichern, Fachkräfte zu gewinnen und gleichzeitig die gesellschaftliche Integration zu gewährleisten, dann sind die Herausforderungen beträchtlich. Die städtische Qualität und Kultur müssen sorgfältig entwickelt werden.

 

Demografische Entwicklung

Debatte 3: Freizeitwirtschaft - Potenzial oder Bedrohung?

Hier kommt ein neuer Aspekt der Migration zum Tragen: die sogenannte Freizeit-Migration. In den letzten Jahren hat sich die Debatte um den Alpenraum auf die zunehmende Bedeutung der Lebensstil orientierten Migration konzentriert. Diese Art der Migration wird nicht in erster Linie durch Arbeitsmarktchancen ausgelöst, sondern durch persönliche Entscheidungen aufgrund der landschaftlichen Attraktivität, Freizeitmöglichkeiten und persönlichen Vorlieben.

 

Auch wenn das Thema Freizeit-Migration für viele Alpenstädte von grosser Bedeutung ist, ist es wichtig zu betonen, so die Autoren, dass die Motivation für Zu- und Auswanderung nicht auf Freizeitaspekte beschränkt ist - ganz im Gegenteil. Die wichtigsten Mobilitätstreiber sind Bildung, Familienwechsel und berufliche Entwicklung, die im engeren Sinne nicht alpenspezifisch sind. 

 

Doch in Zeiten des Fachkräftemangels in den Wirtschaftszentren und der starken Abwanderung aus einigen Alpenorten ist die Freizeit-Migration ein wichtiger alpiner Entwicklungstreiber.

 

Umwelt

Debatte 4: Umweltveränderungen als Entwicklungsimpuls?

Anpassungsfähigkeit ist ein Oberbegriff, welcher der Klärung und Konkretisierung bedarf: Institutionen und Governance-Strukturen müssen ortsbezogen und zunehmend innovativ entwickelt werden. Während einige Alpenstädte ihr Potenzial für eine grüne Wirtschaft entwickeln könnten, werden andere die touristischen Möglichkeiten nutzen, die sich aus den sich verschlechternden Bedingungen im Unterland ergeben. Innovationen in der Governance und technologische Lösungen können auf vielfältige Weise helfen. 

 

Die Alpenstädte, d. h. ihre Gesellschaften und Volkswirtschaften, müssen eine Anpassungsfähigkeit entwickeln, die es ihnen ermöglicht, Bedrohungen wie Wasserknappheit, Hitzestress, CO2-intensiven Industrien usw. zu begegnen. Gleichzeitig müssen die Chancen, die der Klimawandel mit sich bringt, frühzeitig erkannt und genutzt werden, wie z. B. eine innovationsgestützte Wirtschaft. 

 

Debatte 5: Wie soll mit der Landnachfrage umgegangen werden?

Eines der drängendsten Themen auf der gegenwärtigen Agenda der Raumentwicklung ist die Landnachfrage. Es ist ein Schlüsselthema in ganz Europa, aber der alpine Kontext ist etwas Besonderes.

 

Der Hauptgrund dafür ist, dass der Anteil der bewohnbaren Fläche in Berggebieten wesentlich geringer ist als in den perialpinen Gebieten. Das Bauen wird in der Regel durch die steilen Hänge behindert, und die Gefahr von Erdrutschen und Lawinen schränkt die Siedlungsgebiete weiter ein. Selbst kleine Flüsse können ein hohes Überschwemmungsrisiko bedeuten, daher ist auch das Risikomanagement entlang der Täler von entscheidender Bedeutung. Zudem nehmen die Risiken mit dem Klimawandel zu. Hohe Immobilienpreise und eine begrenzte Verfügbarkeit von Grund und Boden für Siedlungs- und Wirtschaftsentwicklung sind daher in vielen Alpenstädten ein dringendes Problem.

 

Gleichzeitig stellen Bodenversiegelung, Landnutzung und Zersiedelung auch in vielen Alpenstädten kritische Entwicklungen dar. Dies gilt für sehr attraktive touristische Regionen, in denen Chalets und ähnliche Bauten zur Zersiedelung beitragen, aber auch für urbanisierte Orte und Täler. Das Ziel der Minimierung und Vermeidung des Landverbrauchs hat im gesamten politischen Spektrum in der Schweiz und im EU-Raum an Bedeutung gewonnen (Bodenstrategie Schweiz, EU- Ziel „Null-Netto-Landverbrauch bis 2050“).

 

Während der Alpenraum nicht einfach aufhören kann, sich zu entwickeln, werden alternative Entwicklungspfade diskutiert. Optimierte Raumstrukturen, effiziente Flächennutzungsmuster, multifunktionale Flächennutzung und Renaturierungsmassnahmen müssen intelligent miteinander verknüpft werden. Dabei kommt den Alpenstädten eine Schlüsselrolle zu. Wenn das Ziel dezentrale Konzentration ist, dann stehen die Alpenstädte noch stärker im Mittelpunkt.

  

In Krisenzeiten und in schwachen Regionen spielen die Städte eine stabilisierende Rolle, indem sie Mindeststandards für grundlegende Dienstleistungen bereitstellen und langfristig auf Zusammenhalt abzielen. In stärkeren Zeiten und Regionen kommt den Städten die erste Rolle zu, gesellschaftlichen Wandel voranzutreiben, Ideen in Umlauf zu bringen und das Experimentieren mit sozialen und technologischen Innovationen sowie Veränderungen von Werten, Lebensstilen und Governance-Ansätzen zu fördern. Dabei wird die Integration zunehmend heterogener Gruppen - in Bezug auf Lebensstile und regionale Herkunft - zu einer zentralen Herausforderung.

 

Die Beziehung zwischen städtischen und ländlichen Siedlungen ist sowohl im Kontext von Wachstum als auch von Schrumpfung von grundlegender Bedeutung und Gegenstand heftiger Debatten. Einerseits unterstreicht das Konzentrationsargument die Notwendigkeit, die Dynamik auf städtische Siedlungen zu konzentrieren, um die effizienteste Raumorganisation zu erreichen, die Grössenvorteile nutzt und chaotische Zersiedlungen verhindert. Aus dieser Perspektive sollten Krankenhäuser, Gewerbeparks, Gewerbegebiete und neue Wohngebiete auf die am stärksten verstädterten Gebiete

Wo die Dezentralisierung Sinn macht  einer Region beschränkt werden.

 

Dezentralisierungsargumente, auf der anderen Seite, betonen die Notwendigkeit, eine gleichmässige Dynamik auch ausserhalb der urbanisierten Gebiete zu haben. Zuwanderung und wirtschaftliche Dynamik sind für ländliche Siedlungen lebenswichtig und können sogar stärker von politischer Unterstützung abhängig sein als die urbanisierten Gebiete.

 

Die Herausforderung für die Regionalentwicklung und Sonderplanung besteht darin, diese Argumente im Sinne einer „dezentralen Konzentration“ auszugleichen. Ziel ist es, eine dynamische Entwicklung zu ermöglichen und gleichzeitig Landnahme und Bodenversiegelung sowohl ausserhalb als auch innerhalb der Stadtgebiete zu vermeiden. In diesem Zusammenhang sind Alpenstädte wichtige Pole, die zur Vermeidung von Zersiedelung und zur Sicherung von Dynamik ausserhalb der Metropolregionen beitragen.

 

Wirtschaft

Debatte 6: Digitalisierung als Potenzial und Herausforderung

Aus mindestens zwei Gründen ist die Digitalisierung für Alpenstädte wichtig. Erstens ist die Topographie mit einem relativ hohen Aufwand für die Erbringung von Dienstleistungen verbunden. Die Digitalisierung kann dazu beitragen, das Angebot zu verbessern und den Aufwand zu reduzieren.

 

Zweitens ist die Digitalisierung ein kritischer Bestandteil der wirtschaftlichen Dynamik im Allgemeinen. Wie im Teil 1 „Erkenntnisse“ erwähnt, befindet sich der Alpenraum auf einem erfolgreichen technologischen Innovationspfad. Um diesen Weg fortzusetzen, bedarf es eines ernsthaften Ansatzes bei der Digitalisierung.

 

Generell kann die Digitalisierung Diversifizierungsprozesse vorantreiben. Die Integration in grosse wirtschaftliche Netzwerke ist in digitalen Formaten viel einfacher.

Es liegt auf der Hand, dass die Alpenstädte als regionale Knotenpunkte eine wichtige Rolle spielen, da ihre Infrastruktur im Allgemeinen der ihrer Umgebung überlegen ist.

 

Globale Positionierung

Debatte 7: Welche Rolle spielen Alpenstädte in Zeiten des globalen Wandels?

Unter „Zeiten des globalen Wandels“ verstehen die Autoren die Verschiebung der wirtschaftlichen Machtverhältnisse von Europa und Nordamerika zu den BRICS-Staaten und den Golfstaaten sowie die Migrationsbewegungen, die aus Nordafrika oder aus anderen krisengebeutelte Regionen kommen. 

 

Die globalen Machtverschiebungen werfen auch Fragen für die zukünftige Entwicklung des Alpenraums auf. Eine einfache „Think-Big-Strategie“ ist angesichts der kleinräumigen räumlichen Struktur der Region mit eher kleinen Siedlungen, eingeschränkter Erreichbarkeit und begrenzter kritischer Masse keine Lösung. Der erfolgreiche Weg der letzten Jahrzehnte, der auf endogener Entwicklung, Innovation und positiven Pfadabhängigkeiten basiert, muss in zukünftige Zusammenhänge umgesetzt werden. Wird diesen Aspekt vernachlässigt, könnte die wirtschaftliche „Fallhöhe“ beträchtlich sein, warnen die Autoren.

 

Natürlich ist nicht jeder Erfolg alpenspezifisch, wie die IT-Branche in vielen Alpenstädten oder der Finanzsektor im Tessin zeigen. Doch wie die Exportströme und die touristische Attraktivität zeigen, basiert der Erfolg des Alpenraums auf einer einzigartigen Verknüpfung traditioneller endogener Potenziale, die in die internationale Wirtschaft integriert sind.

 

Der Bedarf an nachhaltigen Lösungen ist dagegen im Alpenraum besonders akut. Der Ruf nach einer grünen Kreislaufwirtschaft könnte im Alpenraum noch lauter werden als im Ausland. Dies ist auf die hohe Anfälligkeit der Region zurückzuführen, was als Aufruf verstanden werden kann, Vorreiter bei der Umstellung auf eine grüne Wirtschaft zu sein.

Alpenstädte sind ein wichtiger Bestandteil einer effizienten Raumordnung. Sie müssen Innovationszentren und Plattformen für Bildung, Ausbildung und Austausch sein, die zu Innovation und einer intelligenten Spezialisierung beitragen.

 

Governance

Debatte 8: Spezifische Alpine Governance in einem "Soft space"

Der Alpenraum verbindet periphere und inneralpine Räume, städtische und periphere Orte und zeichnet sich durch eine Vielzahl von Landesgrenzen aus. Dadurch ist die politische Geographie des alpinen Siedlungssystems kompliziert. Es ist unwahrscheinlich, dass mit rein staatlich geleiteten Managementansätzen eine nachhaltige Entwicklung erreicht wird. Denn historisch gesehen, hatte die Staatsmacht in den Berggebieten - und zwar nicht nur in der Schweiz - schon immer Schwierigkeiten, sich durchzusetzen. Die lange Geschichte des Alpenraums mit unterschiedlichen, vielschichtigen Governance-Mustern macht es möglich, Lücken unpolitischer Mandate zu überbrücken und ortsbasierte, experimentelle und kreative Lösungen zu finden. Das ist es, was die Autoren unter dem örtlichen „Soft space“ verstehen. 

 

Dennoch müssen in der heutigen Lage Governance-Ansätze mit der transnationalen, grenzüberschreitenden und interkommunalen Ebene zusammenarbeiten, wenn sie ihre Interessen durchsetzen wollen. Das ist der transnationale Aspekt des „Soft space“, der das ganze Perimeter der Alpenkonvention auszeichnet.

 

Tatsächlich treffen im Alpenraum acht Nationen aufeinander, jede mit ihrem eigenen politischen Umfeld, insbesondere, was die Rolle der Berggebiete innerhalb der Nationen betrifft. Politische Prioritäten, Planungssysteme und Stadtentwicklung spielen in jedem Land eine andere Rolle. Um der Zersplitterung entgegenzuwirken, bilden die Alpenkonvention, die makroregionale EU-Strategie für den Alpenraum (EUSALP) und das INTERREG-Alpenraumprogramm wichtige Konzentrationsebenen, die vielfältige Instrumente für eine nachhaltige Raumentwicklung bieten. 

 

Das Dilemma bleibt hingegen bestehen: Soft Spaces bedeuten einen erheblichen organisatorischen Aufwand und begrenzte Lösungsmöglichkeiten aufgrund des Konsensbedarfs. Pläne in die Tat umzusetzen, bleibt der schwierigste Teil.

 

Kommentar

Eine Geopolitik des Alpengebiets, in dem Sinne, dass ein einheitliches Staatsgebilde entstehen würde, welches das ganze Alpenperimeter abdeckt, hat es noch nie gegeben, und wird es vermutlich auch nie geben. Dafür sorgen die Bergbevölkerungen selbst und die Staaten, zu denen sie angehören. Das ist eine der einzigen Sicherheiten, die es in der Geopolitik gibt. Denn die Topographie der Berge begünstigt eher die Differenzierung und die Heterogenität der Völker und Bevölkerungen als deren Gemeinsamkeiten. Das zeigt sich z.B. dadurch, dass der Zusammenschluss der Drei Bünde zum Kanton Graubünden zuerst von Napoleon und dann von der Eidgenossenschaft diktiert wurde. 

 

Dennoch kommen auf das Alpengebiet Probleme zu, die alle betroffene Nationen gleichzeitig und gleichmässig tangieren und die aufgrund der schwachen Besiedlung in der nationalen Konfiguration zum Teil nicht die nötige politische Aufmerksamkeit erlangen. 

 

Wenn heute im Unterland die Rede von Berggebieten ist, klaffen zwei Ansichten aufeinander, die in ganz Europa zu beobachten sind. Die einen würden am liebsten  jegliche wirtschaftliche Aktivität aus dem Berggebiet verbannen und das Gelände den wilden Tieren und naturliebenden Feriengästen überlassen. Die anderen haben die natürlichen Ressourcen im Visier und hoffen auf eine grössere Ausbeutung von Wasser (und Strom), Holz, Stein und Frei- und Wohnraum für touristische Aktivitäten. 

 

Wenn man die einheimische Bevölkerung fragt, was sie sich wünscht, ist die Antwort verwirrend: Die meisten möchten Wirtschaft und Natur, Arbeit und Freizeit, das Nötige und das Schöne, Konsum und Verzicht. Ich verstehe diese Haltung so, dass die einheimische Bevölkerung den Mittelweg sucht. Alles ist eine Frage des Masses.

 

Die Debatten im vorliegenden Bericht geben einen Geschmack von dem, was dem Alpengebiet in einer nicht allzu entfernten Zukunft wartet. Es ist wichtig, sich der Diskussion zu stellen. Allerdings decken die Debatten, so wie sie von den Autoren präsentiert werden, nicht alle Problemfelder ab. Deshalb ist es auch wichtig, gewissen Tendenzen, die sich abzeichnen, im Voraus zu erkennen und sich frühzeitig ihnen gegenüber zu positionieren. Ich werde vier von ihnen kurz schildern.

 

  1. Raumplanung: Zweitwohnungsgesetz, Zweitwohnungsverordnung, Raumplanungsgesetz und Coronapandemie sind eindeutig an der Quelle des Wohnraummangels in den Tourismusdestinationen. Ihre kombinierte Wirkung hindert den Bau von Erst- und Zweitwohnungen, lässt aber freien Lauf für die Umwandlung von Erst- in Zweitwohnungen. Konsequenz: Die Mieten steigen, die einheimische Bevölkerung und Arbeitskraft wird vertrieben, insbesondere in den Tourismusdestinationen Graubündens und des Tessin. In den Kantonen mit starkem Bevölkerungswachstum ist der Wohnraummangel ebenso ein akutes Problem. Wie gedenken die Behörden, einer wachsenden Bevölkerung (+ 20 % im Durchschnitt bis 2050) mit Wohnraum zu versorgen?  
  2. Identitätsverlust: Die Abwanderung hat vor allem die ältere Generation in den Bergdörfern hinter sich gelassen. Sollte der Trend gebrochen oder umgekehrt werden, ist dies grösstenteils nur mit der Einwanderung von heterogenen Gruppen zu erreichen. In Graubünden geht dies mit einer zunehmenden Germanisierung der romanisch- und italienischsprachigen Gebiete einher. Es ist wichtig, dass man sich diesem Trend bewusst wird und kreative Lösungen sucht, um die Identität der Bergdörfer zu wahren, ohne sie wirtschaftlich zu vernachlässigen.
  3. Asylpolitik: Wenn die Autoren des Berichts über die Zunahme von heterogenen Gruppen im Alpengebiet sprechen, meinen sie möglicherweise unterschwellig auch die Zunahme von asylsuchenden Gruppen. In letzter Zeit wurden zahlreiche Hotels in Graubünden aus Rentabilitätsgründen geschlossen. Die an bester Lage und im besseren Zustand dürften parzelliert und als Zweitwohnungen umgewandelt und verkauft werden. Den anderen, die noch nicht baufällig sind, könnte irgendwann blühen, als Asylunterkunft zu dienen. In Bergdörfern mit einigen Hundert Bewohnern sind Beschäftigungsmöglichkeiten für Asylbewerber sehr beschränkt. Es ist zu fürchten, dass die Berggebiete für diesen Zweck unverhältnismässig zu ihren Kapazitäten herangezogen würden. 
  4. Stromverbrauch, Wasserknappheit und Digitalisierung: Die Digitalisierung wird so gefordert und gefördert, als gäbe es kein Morgen mehr. Das mag so sein, doch die Digitalisierung ist sehr stromintensiv. Im Angesicht der vorangekündigten Wasserknappheit ist es für ein Land am Oberlauf von wichtigen europäischen Strömen wie der Schweiz von Vorteil, bestehende Staumauern zu erhöhen bzw. neue Speicherseen zu bauen. Doch die Überflutung von ganzen Tälern hat Grenzen. Also wird die Alternative, Solaranlagen an den Berghängen zu bauen, immer lauter. Solche schwere Eingriffe sind in der Schweizer Berglandschaft bereits Realität, andere werden folgen. Seitdem der Strom von den Produktionsstandorten in den Berggebieten über Strommasten transportiert werden kann, wird aber kaum mehr Strom im Unterland erzeugt, obwohl der grösste Teil der Konsumenten sich dort befindet. Kreative Lösungen und eine grössere Partizipation des Unterlands für den eigenen Stromverbrauch sind gefragt.

Virginia Bischof Knutti©24.01.2023

 

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