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Das wirtschaftliche Zentrum Europas sind wir!

Folgen für die Bevölkerungsentwicklung und die Raumplanung des Landes

Im Februar 2023 wurde eine Erkenntnis der  ETH-Raumplanerin Sibylle Wälthy in verschiedenen Medien kolportiert, wonach die Schweiz Raum für 16 Mio. Menschen habe. (1)

Tatsächlich haben Schweizer StädteplanerInnen derzeit Hochkonjunktur, und zwar aus gutem Grund, denn die Bevölkerung im Mittelland wächst rasant und unaufhaltsam - voraussichtlich bis 2050. Dafür gibt es mindestens drei Gründe: der Klimawandel, die zunehmende Urbanisierung und der ständige Ruf nach Fachkräften.  

Gleichzeitig machen sich aber die ersten Auswirkungen aus dem revidierten Raumplanungsgesetz bemerkbar: Ausgelöst durch die landesweite restriktive Baupolitik kämpfen  Mieterinnen im urbanen wie im Berggebiet gegen Wohnungsnot und steigende Mietpreise. Mit anderen Worten: Wir haben einerseits ein hohes Bevölkerungswachstum und andererseits grossen Platzmangel. Der Konflikt ist programmiert.

Zweck dieser Analyse ist, anhand einiger Vergleiche die Wahrscheinlichkeit von Frau  Wälthys Aussage stichprobehaltig zu überprüfen. Dann geht es darum, die wirtschaftliche Rolle der Schweiz im europäischen Kontext zu beurteilen und Schlussfolgerungen zu ziehen. 

 

Die 10-Minuten-Gesellschaft

An dieser Stelle soll kurz die Erkenntnis von Frau Wälthy dargelegt werden: Damit die Umwelt möglichst verschont wird und die Lebensqualität erhalten bleibt, sollen alle wichtigen Aussenaktivitäten in Fussdistanz von 10 Minuten stattfinden: Arbeit, Einkaufen und Freizeit. Daher der Begriff „10-Minuten-Gesellschaft“. 

 

Damit dieses Modell funktioniert, braucht es laut Berechnung der Forscherin eine Siedlung von idealerweise 10’000 Menschen und 5’000 Arbeitsplätzen innert einem Radius von 500 Metern. Solche Quartiere existieren bereits, so z.B. in Genf (Rue Dancert) oder in Zürich (Ida-Platz), so die Forscherin. 

 

Raumplanerisch lassen sich solche Quartiere durch das Errichten von 7- bis 8-stöckigen Hochhäusern bewerkstelligen. So gesehen, bietet die Schweiz Platz für 16 Mio. Menschen.

 

Ich will dieses Modell inhaltlich nicht weiter kommentieren oder hinterfragen, obwohl es interessant wäre zu erfahren, ob ein solches Modell auch für das Berggebiet in Frage käme, denn eine Alpenstadt hätte damit ganz andere Entwicklungsperspektiven. Aber das ist ein anderes Thema. 

 

Mich interessiert an dieser Stelle die Frage, ob eine Schweiz von 16 Mio. Einwohner theoretisch überhaupt denkbar ist und ob die demographische Entwicklung, sofern sie nicht kontrolliert werden kann, uns so oder so dorthin führen wird. 

Deshalb machen wir einen Ausflug in die weite Welt. 

 

Geografische Bezugspunkte

Für diese geografische Analyse gehe ich davon aus, 

 

  • erstens, dass die erstrebte Zahl von 16 Mio. Menschen ihren Platz im schweizerischen Mittelland findet - nicht in den Berggebieten. Die Bergbevölkerung, die in dieser Hypothese noch übrig bleibt, kommt dazu.
  • zweitens, dass das Mittelland aus einer zusammengewachsenen Metropole besteht, die sich vom Genfersee bis zum südlichen Ufer des Bodensees erstreckt. Selbstverständlich ist auch denkbar, dass das Mittelland sich in zwei, drei oder fünf mittleren Metropolen teilt mit einigen wenigen Quadratkilometern „Freiraum“ dazwischen, doch in diesem Zusammenhang ist eher die gesamte Bevölkerungszahl als die Anzahl Metropolen ausschlaggebend. 

16 Mio. Einw,, das ist grob vereinfacht das Doppelte der aktuellen schweizerischen Bevölkerung. Doch um sich eine solche Schweiz konkret vorstellen zu können, brauchte es aussagekräftigere Vergleichsmöglichkeiten. 

 

Metropolen dieser Dimension sind in Europa nicht zu finden, sondern eher in Asien oder auf dem amerikanischen Kontinent. So befinden sich acht von den zehn grössten Metropolen der Welt in Asien. Die Schweiz mit ihnen vergleichen zu wollen, ist vor allem aus aus verschiedenen Gründen (geografisch, topografisch, kulturell, nicht zielführend, obwohl es verlockend wäre, die Schweiz mit Singapur oder Hongkong zu vergleichen. Deshalb werde ich in der unten stehenden Tabelle nur die europäischen Metropolen im weitesten Sinne aufführen. Unter den 90 grössten von ihnen gibt es erwartungsgemäss nicht viele europäische -  es sind lediglich sechs.

 

Tabelle 1: Die grössten Metropolen Europas nach Einwohnerzahl

 

Moskau
Rang Staat bzw. Metropole Einw. in Mio.  Fläche in km2 Einw. je km2
15 17'693 5'879 3'009  
22 Istanbul  15'311 1'375 11'133
34 London  11'120 1'738 6'399 
35 Paris  11'027 2'844 3'878
  Schweiz 8'700 41'285 212 
74 Ruhrgebiet (Essen-Düsseldorf) 6'136 2'683 2'287
77 Madrid  6'006 1'365 4'400

Quelle: Wikipedia, Liste der grössten Metropolregionen der Welt

 

Als Metropole betrachtet ist die Bevölkerung des schweizerischen Mittellandes jetzt schon grösser als Madrid und das Ruhrgebiet. Das muss man sich zuerst einmal vergegenwärtigen. Doch um bis 2050 mit Moskau zu konkurrieren, müsste die Schweizer Metropole Paris und London überholen und um das Doppelte wachsen. Ist das realistisch? 

 

Um die Frage theoretisch annähernd beantworten zu können, ist der Einbezug der verfügbaren Fläche unabdingbar. Da das schweizerische Mittelland grob vereinfacht einen Drittel der Landesfläche ausmacht, wäre die Fläche dieser grossen Schweizer Metropole(n) von rund 14’000 km2 gross. 

 

Welche Metropole hat weltweit so viel Fläche zur Verfügung? Keine. Zum Vergleich, Tokio, mit 39 Mio. Einw., ist die grösste Agglomeration der Welt, ruht auf lediglich 8’231 km2, also 59 % der Fläche der Schweizer Metropole. Daraus leitet sich die Feststellung bei manchen RaumplanerInnen ab, dass der Urbanisierungsgrad der Schweiz ein erhebliches - wenn nicht gewaltiges - Potenzial nach oben aufweist.  Für die Schweiz von 2050 sind vielleicht sogar 16 Mio. Menschen eine vorsichtige Zahl. 

 

Überhaupt, wir urbanisiert ist die Schweiz im Vergleich mit anderen Staaten? Die unten stehende Tabelle gibt Auskunft über den Urbanisierungsgrad von 196 Staaten.

 

Tabelle 2: Urbanisierungsgrad (UG) in % der Gesamtbevölkerung von europäischen Staaten (Auszug)

 

 

San Marino 
Rang Staat UG in %  Rang  Staat UG in % 
12 97,2 78 Ukraine 69,4  
13 Malta 94,5 80 Estland 68,9
17 Island  93,8 83 Lettland  68,1
22 Niederlande 91,5 84 Litauen  67,8
23 Luxemburg  91,0 87 Zypern 66,8
29 Andorra 88,1 88 Montenegro 66,8
31 Dänemark  87,9 93 Portugal  65,2
33 Grönland  86,8 101 Albanien  60,3 
38 Finnland  85,4 102 Polen  60,1 
41 Vereinigtes Königreich 83,4 106 Österreich 58,3
44 Norwegen  82,2 107 Nordmazedonien 58,0
49 Frankreich  80,4 110 Kroatien  56,9 
50 Spanien  80,3 114 Serbien  56,1
54 Griechenland  79,1 120 Slowenien  54,5 
55 Belarus  78,6 122 Rumänien  54,0
59 Deutschland  77,3 124 Slowakei  53,7
64 Türkei  75,1 134 Bosnien und Herzegowina 48,2
65 Bulgarien  75,0 144 Moldau  42,6
67 Russland  74,4 146 Färöer 42,1 
68 Schweiz  73,8 194 Liechtenstein  14,3 
69 Tschechien 73,8      
74 Ungarn  71,4      
76 Italien  70,4      

Quelle: Wikipedia, Liste der Länder nach Urbanisierung

 

Man mag staunen, aber die moderne Schweiz findet man erst an 68. Stelle und noch erstaunlicher ist unser kleiner Nachbarstaat Liechtenstein - er liegt an 194. Stelle. 

Jedenfalls kommt die Forderung nach verdichtetem Bauen nicht von ungefähr. Schliesslich, wenn es nach den Forderungen der Schweizer Wirtschaftskreise geht, sollen jährlich 80’000 Personen den Fachkräftemangel kompensieren. 

 

Angenommen, die Raumplanung schafft günstige Voraussetzungen, hat die Schweiz also ein grosses Potenzial an Bevölkerungswachstum. Das bestätigt eine Studie des Bundesamts für Statistik BFS von 2020.

Im Folgenden sollen kurz die wichtigsten Erken

ntnisse zusammengefasst werden. 

 

Referenzszenario zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2020-2050

Mit der Bevölkerungsentwicklung der Schweiz befasst sich der Bericht Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz und der Kantone 2020-2050. (2) Dabei konzentriere ich mich der Einfachheitshalber ausschliesslich auf die Gesamtbevölkerungszahl. Andere demografische Faktoren wie Altersquotient und Bildungsgrad werden ausnahmsweise ausgeblendet.  

 

Die Bevölkerung der Schweiz nimmt in den nächsten 30 Jahren hauptsächlich infolge der Wanderungsbewegungen zu. Wie hoch das Bevölkerungswachstum und die Zunahme der Erwerbsbevölkerung in den nächsten Jahrzehnten ausfallen, wird ausschliesslich vom Ausmass der Wanderungsbewegungen in diesem Zeitraum bestimmt. Dabei wird sich die Bevölkerung zunehmend auf das Einzugsgebiet der grossen Agglomerationen Zürich und Genf konzentrieren.  

 

Basierend auf dem Referenzszenario beträgt die Anzahl Personen mit ständigem Aufenthalt in der Schweiz im Jahr 2020 insgesamt 8,7 Mio. Sie steigt bis 2030 auf 9,4 Mio. und liegt im Jahr 2040 erstmals über 10 Mio. 2050 erreicht sie 10,4 Mio. Dabei nimmt die Erwerbsbevölkerung der Kantone Zürich, Aargau, Zug, Schaffhausen und St. Gallen sowie Genf und Waadt zwischen 2020 und 2050 um mehr als 25 % zu, während das Bevölkerungswachstum schweizweit im gleichen Zeitraum 20 % beträgt.

 

Anschlussfrage:  Ist diese Entwicklung hausgemacht, oder ist die EU - oder Teile davon - ebenfalls davon betroffen? Dieser Frage gehe ich nun nach. 

 

Statistik über regionale Bevölkerungsprognosen der EU

Die Statistik über regionale Bevölkerungsprognosen der EU befasst sich mit den demographischen Entwicklungen in der gesamten EU und den drei EFTA-Staaten Island, Norwegen und der Schweiz.(3) Die jüngste Statistik basiert einerseits auf der Kombination von den demographischen Daten vom 1. Januar 2015 und dem Hauptszenario der Europop2013-Bevölkerungsprognosen, andererseits auf den 273-NUTS-2 (4) Regionen, welche zum Zeitpunkt der Datenerhebung die 28 Mitgliedstaaten bildeten - also vor dem Brexit. 

 

Am 1. Januar 2015 zählte die EU-28 508,5 Mio. Einw. Im Jahr 2048 soll die EU-28 einen Höchstwert von 525,6 Mio. Einw erreichen, was einem durchschnittlichen Bevölkerungszuwachs von 3,4 % entspricht. Bis 2050 soll dann die Bevölkerung der EU-28 auf 525,5 Mio. leicht sinken. 

 

Die erste Erkenntnis daraus ist, dass die Schweiz schneller wächst als die gesamte EU.

 

Die zweite Erkenntnis hebt hervor, dass nicht alle Regionen der EU gleichmässig wachsen werden. 

 

Wie in der Karte auf der Frontseite dargestellt, wird etwas mehr als die Hälfte der NUTS-2-Regionen (141) bis 2050 einen Bevölkerungsrückgang, während 132 Regionen einen Bevölkerungszuwachs erfahren werden. Die blaugefärbten Regionen sind Wachstumsregionen, die orangen die rückläufigen Regionen. 

 

Die dritte Erkenntnis, die schon bildlich in die Augen springt, ist, dass die Regionen mit Zuwachsraten in den westlichen EU-Staaten und die Regionen mit demographischen Schwund an der südwestlichen und östlichen Peripherie des Kontinents liegen. 

 

So wird für 3 Regionen ein Wachstum von über 80 % prognostiziert: Luxemburg, die belgische Hauptstadtregion und die spanische autonome Stadt Ceuta. 

 

Den weiteren 31 Regionen wird ein Bevölkerungswachstum von über 25 % prognostiziert, wobei zwei Drittel von ihnen (23) sich in den westlichen EU-Staaten und im Vereinigten Königreich befinden.  

 

Auf der anderen Seiten sollen 6 NUTS-Regionen bis 2050 den grössten Bevölkerungsrückgang verzeichnen. Es handelt sich um zwei Regionen im Norden Bulgariens sowie um Mecklenburg-Vorpommern, Thüringen, Chemnitz und Sachsen-Anhalt im Osten Deutschlands; in allen wird ein Rückgang um mehr als 36% vorausgesagt.

 

In 78 weiteren Regionen beträgt der Bevölkerungsrückgang mehr als 10 %. Allein in Deutschland werden in insgesamt 22 der 38 Regionen voraussichtlich Rückgänge dieser Grössenordnung zu verzeichnen sein. Die meisten dieser Regionen liegen in der östlichen und in der westlichen Peripherie und nur wenige liegen im Norden der EU.

 

Vierte Erkenntnis: Für die 3 EFTA-Länder (Norwegen, Island, Schweiz) werden relativ hoch Bevölkerungszuwächse prognostiziert. So wird die Bevölkerung Islands, das nur eine Region zählt, voraussichtlich um 24,2 % wachsen. In fünf Regionen Norwegens (von sieben) wird ein Bevölkerungswachstum von über 25 % prognostiziert, wobei allein in der Hauptstadtregion Oslo mit einem Zuwachs von 74,9 % gerechnet wird. In fünf von sieben Regionen der Schweiz wird ebenfalls ein Bevölkerungswachstum von über 25 % prognostiziert. 

 

Mit anderen Worten: Die Schweiz sitzt also mitten im Wachstumsbereich. Nun stellt sich erstens die Frage - und zwar nicht erst seit heute -, ob man diese Entwicklung als Glück oder Unglück betrachten soll. Und zweitens, ob sie gegebenenfalls auch kontrolliert bzw. gebremst werden kann, vorausgesetzt, die Schweiz besitzt den politischen Handlungsspielraum, um es zu bewerkstelligen.  

 

Auf beide Fragen gibt es mehrere Antworten. Es kommt schliesslich erfahrungsgemäss auf das Machtverhältnis zwischen der Wirtschaft und dem Stimmvolk, und den Einfluss der ersten auf das zweite an. 

 

Doch wie ist die Faktenlage bezüglich der Schweiz?

 

 

"Gut gerüstete Schweiz" und "Europas internationalistes Land"

So qualifiziert das Berlin-Institut die Schweiz in einer Studie aus dem Jahr 2017. Das Institut geht der Frage nach, wie sich die Regionen Europas nach einem Jahrzehnt der Krisen entwickelt haben. Nach eine allgemeinen Analyse wird jedes Land unter die Lupe genommen. Der Schweiz ist ein dreiseitiger Bericht gewidmet. (5) Und der Anfang lautet: „Von der massiven Zuwanderung hat die Schweiz bis jetzt überwiegend profitiert - demografisch und ökonomisch.“ 

 

Der Bericht macht aber auch auf die Nebenwirkungen einer massiven Zuwanderung aufmerksam: „Schon jetzt regt sich Unmut gegen dieses Wachstum. Manche Alteingesessene sorgen sich auch um den vermuteten Verlust von Traditionen und fürchten sich vor „Überfremdung““. (6) 

 

Dies vorausgesetzt ist es nicht überflüssig, sich die Trümpfe der Schweiz vor Augen zu führen. Das Berlin-Institut hält einige von ihnen fest: 

 

  • Die Wirtschaftslage ist stabil, trotz der verschiedenen Krisen, die ganz Europa oder gar die Welt erschüttert haben (Pleite der Swissair, Beinahe-Untergang der UBS, Aufhebung des Bankgeheimnisses, Finanzkrise von 2008, Aufwertung des Frankens, Covid, usw.).
  • Die Schweiz verzeichnet das zweithöchste BIP pro Kopf hinter Luxemburg. 
  • Die Schweiz hält den Spitzenplatz in der Wettbewerbsfähigkeit. 
  • Die Schweiz betreibt einen liberalen Arbeitsmarkt.
  • Und sie weist eine tiefe Arbeitslosigkeitsquote auf.

Doch ohne Zuwanderung würde die Bevölkerung der Schweiz schrumpfen. Um den Lebensstandard zu halten, ist sie auf die Einwanderung angewiesen. 

 

Der Bericht gibt sogar noch zu bedenken, dass die EU-BürgerInnen von der Freizügigkeit zu wenig Gebrauch machen würden: „Die Freizügigkeit wird in der EU zu wenig genutzt. So lag die Zahl derjenigen, die in einem anderen EU-Land lebten als in jenem, in dem sie geboren wurden, Anfang 2016 bei 19,3 Millionen. Dies waren nur leicht mehr als halb so viele wie Zuwanderer aus Nicht-EU-Staaten. Letztere stellten zu diesem Zeitpunkt 6,9 Prozent der Einwohnerschaft der EU, die sogenannten Binnenmigranten hingegen nur 3,8 Prozent.“ (7)

 

Mit anderen Worten: Die Schweiz wird es schwer haben, die Freizügigkeit und folglich das Bevölkerungswachstum, das ihr beschert wird, zu kontrollieren. 

 

Fazit und Schlussfolgerung

Bevölkerungswachstum ist Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum, das hat man uns schon in der Primarschule eingebläut. Doch das Bevölkerungswachstum verteilt sich selten gleichmässig auf ein Territorium. So soll der Kanton Genf bis 2050 einen Bevölkerungswachstum von über 30 % erfahren, während Graubünden in der gleichen Zeitspanne 4 % seiner Bevölkerung verlieren soll. Wer auf der Gewinner- bzw. auf der Verliererseite steht, ist eine subjektive Frage. 

 

Dennoch ist die Peripherisierung Teile der Schweiz und der EU keine subjektive Wahrnehmung. Und es fällt auf, dass was früher als Peripherie galt, z.B. das nördliche Norwegen, in den letzten Jahren ins Zentrum des wirtschaftlichen Geschehens Europas vorgerückt ist. Es bedeutet, dass eine Verlagerung und Intensivierung von Know-how-Clusters möglich ist  - alles eine Frage der Kosten. 

 

Die peripherisierung der EU ist eine Entwicklung, die durch Brüssel nicht nur in Kauf genommen, sondern durchaus begünstigt und gefördert wird. Dabei trägt die EU-Binnenpolitik gewollt oder ungewollt den ganzen Kontinent in Gewinner und Verlierer ein. Und es ist davon auszugehen, dass diese Entwicklung sich fortsetzen und sogar verschärfen dürfte. 

 

Ist eine 16-Mio.-Schweiz denkbar? Die RaumplanerInnen meinen ja. Dabei spielen sie gewollt oder ungewollt der Wirtschaft in die Hand. Doch hinter der 10-Minuten-Gesellschaft versteckt sich vielleicht auch die Absicht, den urbanen Menschen die Illusion zu vermitteln, sie würden in einer kleinen, überschaubaren und „cosy“ Welt leben, selbst wenn die Schweiz weit mehr als 16 Mio. Menschen zählen dürfte.

Wird die Zuwanderung aus dem EU-Raum anhalten? So wie es aussieht, ist die Peripherisierung der EU ein anhaltender Vorgang und sicherheitspolitische Probleme an der Ostgrenze der EU werden das Phänomen nur verschärfen. So gesehen bleibt die Zuwanderung schwer zu kontrollieren, auch tiefe Löhne für die wenig begehrten Jobs werden nicht dissuasiv wirken.

 

Kann die Schweiz auf ihre Rolle als Zentrum des Wirtschaftswachstums Europas verzichten, ohne ein „schwarzes Loch“ zu werden? Man kann nur nein sagen, wenn man eine Alternative hat.

 

Gleichzeitig kann man sich auch fragen, ob die SchweizerInnen, die ihre Identität auf die Berge konstruiert haben, sich im schlimmsten Fall mit einer ubiquitären und gesichtslosen Metropole oder im bestem Fall als „EuropäerInnen“ identifizieren könnten. In beiden Fällen wäre es ein geopolitisches Novum für das Land.

 

Ich glaube, wir sind an einem Punkt angelangt, an dem die entscheidende Frage nicht ist, ob man Zuwanderung und Bevölkerungswachstum braucht oder nicht. Die Mehrheit wird die Frage notgedrungen bejagen. Die Frage ist eher, ob der Staat im Allgemeinen als Nation noch überhaupt gefragt ist. Die Wirtschaft hat schon die Grenzen abgeschafft, nun ist sie im Begriff, die Identitäten obsolet zu machen und die Menschen in Hochhäuser in Metropolen zusammenzupferchen. Möglicherweise sind die Vereinigten Staaten Europas keine Utopie mehr…

 

Virginia Bischof Knutti©01.03.2023

 

Quellen:

  1. Blick, „Die Schweiz hat auch für 16 Millionen Menschen Platz“, Forscherin zum Dichtestress, 11.02.2023, https://www.blick.ch/politik/forscherin-zum-dichtestress-die-schweiz-hat-auch-fuer-16-millionen-menschen-platz-id18308363.html.
  2. Blick, „Die Schweiz hat auch für 16 Millionen Menschen Platz“, Forscherin zum Dichtestress, 11.02.2023, https://www.blick.ch/politik/forscherin-zum-dichtestress-die-schweiz-hat-auch-fuer-16-millionen-menschen-platz-id18308363.html.
  3. Eurostat, Statistics explained, Statistik über regional Bevölkerungsprognosen, Revision vom 19.11.2019, https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Archive:Statistics_on_regional_population_projections/de&oldid=458916, gesichtet am 28.02.2023.
  4. NUTS = Nomenclature des unités territoriales statistiques. Der Begriff dient der  Identifizierung und Klassifizierung von räumlichen Einheiten in der EU und EFTA-Staaten. Es gibt 4 Hierarchieebenen  NUTS-0 (Nationalstaaten), NUTS-1 (grosse Regionen bzw. Landesteile), NUTS-2 (Regionen für die Anwendung von Regionalpolitik),  NUTS-3 (kleinere Regionen). Die Schweiz zählt 7 NUTS-2, die den sieben Grossregionen entsprechen. Anmerkung der Autorin.
  5. Berlin-Institut, Europas demografische Zukunft, Wie sich die Regionen nach einem Jahrzehnt der Krisen entwicklen, Berlin, 2017, S. 89-91, https://www.berlin-institut.org/studien-analysen/detail/europas-demografische-zukunft.
  6. Dito, S. 91.
  7. Dito, S. 20.
  8. Bildnachweis: „Prognostizierte prozentuale Veränderung der Bevölkerung nach NUTS-2-Regionen (2015-2050), Quelle: Eurostat, Statistics explained, Statistik über regional Bevölkerungsprognosen, Revision vom 19.11.2019, https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?.

 

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