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Natur-, Landschafts- und Heimatschutz in der Schweiz

Ein Spiessrutenlauf durch Bundesinventare

Anlass für diese Analyse ist eine Pressemitteilung des Tiefbauamts des Kantons Graubündens vom 28. Februar 2023 (1). Sie offenbart, dass die sich seit Jahren in Planung befindliche Dorfsumfahrung von Santa Maria im Val Müstair nun zum Erliegen kommt. Grund dafür ist ein Gutachten der Eidgenössischen Kommission für Denkmalpflege (EKD) und der Eidgenössischen Natur- und Heimatschutzkommission (ENHK).  Beide lehnen zwei vom Tiefbauamt präsentierte Varianten ab, weil sie „zu schweren Beeinträchtigungen des ISOS (Inventar  der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung) sowie des IVS (Bundesinventar der historischen Verkehrswege von nationaler Bedeutung) führen würden.“ 

In Graubünden wurde ein ähnliches Projekt der Gemeinde Schmitten 2019 vom Bundesgericht abgelehnt. 

In Surses wartet man gespannt auf die Beurteilung durch den Bund über ein ähnliches Dorfumfahrungsprojekt der bundeseigenen Julierstrasse in Bivio, während das Umfahrungsprojekt von Cunter bereits gestorben ist. 

Solche Beschlüsse werfen Fragen auf.  Welche Chancen haben heute solche Projekte noch? In den betroffenen Gemeinden, fragt man sich vor allem, welchen Stellenwert die von Lärm und Immissionen geplagte Bevölkerung noch hat, wenn bevölkerungsschützende Projekte systematisch zu Fall gebracht werden. 

Ein Grund für diese Lage liegt bestimmt in den zahlreichen Bundesinventaren, welche die Raumplanung der Gemeinden erschweren, insbesondere ausserhalb der Bauzone. 

In dieser Analyse geht es mir darum, etwas Klarheit über das heillose Durcheinander an Bundesinventaren zu schaffen und den Stand der Entwicklung aufzuzeigen. 

 

 

Definitionen

Die Lage ist verwirrend. In den Medien, aber auch in der fachlichen Literatur, wird öfters mit Begriffen hantiert, die für den Laien schwer von einander abzugrenzen sind. So spricht man von Natur-, Landschafts-, Heimat- oder Umweltschutz und meint möglicherweise dasselbe. 

 

Diese Verwirrung lässt sich dadurch erklären, dass die schweizerische Gesetzgebung kaum Legaldefinitionen für Begriffe im Bereich des Natur-, Landschafts- und Heimatschutzes kennt. Die Bedeutung ergibt sich aus der Interpretation der Gesetze und aus dem Gebrauch in der mehrsprachigen Praxis der Schweiz. 

 

Die in der Schweiz verwendeten Begriffe wurden 2001 durch das Bundesamt für Umwelt (BAFU) in den drei Amtssprachen aktualisiert (2).

 

  • Naturschutz: Unter Naturschutz werden Massnahmen verstanden, welche die Erhaltung und Förderung der Naturgüter zum Ziel haben. Dazu gehören die biologische Vielfalt und die Fülle an Erscheinungen der unbelebten Natur (z.B. Geotope). 
  • Landschaftsschutz: Landschaftsschutz erhält und fördert Landschaftselemente in ihrer regionaltypischen Ausprägung und in ihrem Zusammenspiel. Mit einer nachhaltigen Nutzung der Landschaft werden die natürlichen Ressourcen langfristig gesichert und dem Menschen sinnlich ansprechende und zu Erholung geeignete Räume zur Verfügung gestellt. 
  • Heimatschutz: Heimatschutz wird auch als „Schutz des baulichen Erbes“ bezeichnet. Er widmet sich erhaltenswerten Ortsbildern, historischen und kunstgeschichtlichen bedeutenden Objekten und archäologischen Stätten. Dazu gehören auch die Beziehungen dieser Objekte zu ihrer Umgebung. 
  • Umweltschutz: Er steht über Natur-, Landschafts- und Heimatschutz und beinhaltet drei Komponenten: die langfristige Erhaltung und nachhaltige Nutzung der natürlichen Ressourcen (Boden, Wasser, Wald, Luft, Klima, biologische und landschaftliche Vielfalt) und Behebung bestehender Beeinträchtigungen; den Schutz des Menschen vor übermässiger Belastung insbesondere durch Lärm, schädliche Organismen und Stoffe, nichtionisierende Strahlung, Abfälle, Altlasten und Störfälle; und den Schutz des Menschen und erheblicher Sachwerte vor hydrologischen und geologischen Gefahren, namentlich vor Gefahren durch Hochwasser, Erdbeben, Lawinen, Rutschungen, Erosionen und Steinschlag.

Im Falle von Santa Maria wäre hier der Umweltschutz ebenso relevant, da die Dorfumfahrungsstrasse die Bevölkerung vor Lärm und Immissionen schützen sollte. Doch erfahrungsgemäss und in der heutigen Lage gewinnt der Menschenschutz bei der Abwägung mit dem Natur- und dem Heimatschutz selten die Oberhand. 

 

Natur-, landschafts- und heimatschutzrelevante Gesetzgebung

Die Gesetzgebung zu den verschiedenen Schutzobjekten dürfte dem Laien nicht minder chaotisch vorkommen. Tatsächlich ist das Regelwerk für den Natur-, Landschafts- und Heimatschutz ziemlich dicht und unübersichtlich. Zudem ist die Verantwortung über die verschiedenen Bundesinventare über mehrere Bundesämter verteilt, was die Koordination zusätzlich erschwert. 

 

Zusammengefasst sind für den Natur-, Landschafts- und Heimatschutz folgende Gesetze relevant: 

 

 

Bundesverfassung (BV): Art. 78 und 79

  • Art. 78: Natur- und Heimatschutz,
  • Art. 79: Fischerei und Jagd.

 

Bundesgesetz über den Natur- und Heimatschutz (NHG)

  • Art. 5 NHG: Inventare des Bundes von Objekten mit nationaler Bedeutung, 
  • Art. 18 NHG: Schutz von Tier- und Pflanzenarten,
  • Art. 18a NHG: Biotope von nationaler Bedeutung, 
  • Art. 23b NHG: Begriff und Abgrenzung der Moorlandschaften, 
  • Art. 23c NHG: Schutz der Moorlandschaften.

 

Bundesgesetz über die Jagd- und den Schutz wild lebender Säugetiere und Vögel (JSG)

  • Art. 11 JSG: Schutzgebiete. 

 

Raumplanungsgesetz (RPG1)

  • Art. 1 Abs. 2 Bst. a RPG: Ziele,
  • Art. 3 Abs. 2 RPG: Planungsgrundsätze. 

 

Europäische und internationale Rechtsgrundlagen

Schliesslich gibt es eine Reihe von internationalen Abkommen zum Natur- und Heimatschutz, zur Jagd und zur Fischerei, welche die Schweiz ratifiziert hat und folglich zur Erfüllung verpflichtet ist, sofern solche Abkommen neben ihrem juristischen auch einen politischen Wert beinhalten. Das kann je nach Konjunktur variieren, z.B. in einer Notlage, im Kriegs- oder Pandemiefall. 

 

Die Massnahmen, die solche Abkommen auslösen, fliessen über das Parlament direkt in Strategien und Pläne ein, was nun in der Ökologie Standard geworden ist. Ein Beispiel hierfür ist das Übereinkommen über die Biologische Vielfalt (CBD) von 1992, zu der die Schweiz sich zur Erhaltung und Förderung der Biodiversität verpflichtet hat. 

 

Die 2012 vom Bundesrat verabschiedete "Strategie Biodiversität Schweiz“ legte zehn Oberziele fest, die in einem Aktionsplan umgesetzt werden sollen. Eines der Ziele bestand darin, bis 2020 17 % der Landesfläche als Schutzgebiet auszuscheiden. 2020 umfassten sie rund 13,4 % (3). Die Schweiz hat also das Ziel vom Übereinkommen CBD nicht erreicht.

 

Ein anderes Beispiel für die Unterschutzstellung von Objekten ist das Übereinkommen zum Schutz des Kultur- und Naturerbes der Welt, mit dessen Verabschiedung 1972 sich die UNESCO den Auftrag gegeben hat, die Kultur- und Naturgüter von aussergewöhnlichem universellem Wert für die kommenden Generation zu erhalten. Heute gelten mehr als 1100 Stätte als Welterbe, wobei 13 in der Schweiz liegen (4).

Zwei weitere Beispiele von internationalen Übereinkommen sind die sogenannten RAMSAR- und SMARAGD-Gebiete. 

 

Nun stellt sich die Frage, welche Instrumente dem Bund zum Schutz der Natur, Landschaft und Heimat zur Verfügung stehen.

 

Instrumente des Natur-, Landschafts- und Heimatschutzes

Zum Schutz der Natur, der Landschafts- und der Heimat hat der Bund sogenannte Inventare aufgestellt. Sie sind die Grundlage für die Pflege und Erhaltung des baukulturellen Erbes.

 

Die Auswahl der Objekte beruht auf einem Kriterienkatalog, der allerdings eine weite Interpretation offen lässt. Inventare werden zwar mehr oder weniger regelmässig überprüft und angepasst, doch die Zahl der geschützten Objekte hat eher Tendenz zu- als abzunehmen. Ausserdem haben manche Inventare einen höheren Stellenwert als andere. Zudem führen auch die Kantone und Gemeinde eigene Inventare. 

 

Natur- und Landschaftsschutzinventare nach NHG

Die Bundesverfassung und das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) sind die Grundlage für zwei Gruppen von Schutzinventaren auf Bundesebene: die „Biotopinventare“ und die „Natur- und Heimatschutzinventare“. 

 

Biotopinventare

Aufgabe der Biotopinventare ist es, genügend grosse Lebensräume zu erhalten, um dem Aussterben einheimischer Tier- und Pflanzenarten entgegenzuwirken. Biotopinventare haben ihre Grundlage in Art. 78 der BV (Abs. 4 und 5), in den Art. 18 a, 23 b,c  und gehen zum Teil zurück auf die vom Stimmvolk 1987 angenommene „Volksinitiative zum Schutz der Moore“ (sog. Rothenthurminitiative). 

 

Es gibt vier verschiedene Arten von Biotopinventare: (5) 

  • Moore: Dabei wird zwischen Flachmooren, Hochmooren und Übergangsmooren unterschieden.  Die Schutzobjekte dieser drei Inventare geniessen einen unmittelbaren und absoluten verfassungsrechtlichen Schutz. Eine Abwägung mit anderen Interessen erübrigt sich. In den inventarisierten Mooren und Moorlandschaften dürfen weder Anlagen gebaut noch Bodenveränderungen irgendwelcher Art vorgenommen werden. Ausgenommen sind Einrichtungen, die der Aufrechterhaltung des Schutzzweckes und der bisherigen landwirtschaftlichen Nutzung dienen (Art. 78 Abs. 5 BV).
  • Auen,
  • Amphibienlaichgebiete,
  • Trockenwiesen und -weiden.

Der Schutz der Auen, Amphibienlaichgebiete und Trockenwiesen und -weiden ist stark, aber nicht absolut. Hier sind nur Bauten und Anlagen zulässig, die auf einen Standort in diesen Gebieten angewiesen und von nationaler Bedeutung sind.

 

Zu diesen Biotopinventaren kann man auch Objekte der sogenannten ökologischen Infrastruktur zählen. Es handelt sich um  Waldreservate, die Wasser- und Zugvölgelreservate, die Wildtierkorridore sowie die aufgrund durch die Schweiz beigetretenen  internationale Abkommen zustandsgekommenen Biotopeinventare wie die RAMSAR-(6) und die SMARAGD-(7) Gebiete. Grundlage dieser Schutzobjekte ist die „Strategie Biodiversität Schweiz“ vom 25.04.2012 und das Landschaftskonzept Schweiz 2020.

 

Der effektive Schutzgrad dieser Biotopen ist allerdings schwer zu beurteilen. Es kommt vielfach auf die internationale Konjunktur an.

 

Natur- und Heimatschutzinventare

Die Natur- und Heimatschutzinventare haben ihre rechtliche Grundlage in Art. 5 des NHG. Darin wird der Bund aufgefordert, schützenswerte Landschafts- und Ortsbilder, geschichtliche Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler von nationaler Bedeutung zu inventarisieren (Art. 5 NHG). 

 

Die vier wichtigsten Inventare sind:

  • das Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN) (8),
  • das Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS) (9),
  • das Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS) (10),
  • Pärke nationaler Bedeutung (Nationalpark, regionale Naturpärke, Naturerlebnispärke und Biosophärenservate) (11).

Dazu kommen vier weitere Inventare, die nicht explizit von nationaler Bedeutung sind, deren Schutzgrad allerdings schwer einzuschätzen ist:

  • das Inventar der Kulturgüter nationaler Bedeutung (KSG), das auf dem Haager Abkommen von 1962 basiert (12),
  • das Schweizer Seilbahninventar (13),
  • das Inventar über militärische Bauten und Anlagen des VBS (14),
  • das Inventar der Armee- und Kriegsdenkmäler INVENTARIO (15).

Bei aller Mühe kann ich nicht garantieren, dass ich alle auf Bundesebene schützenswerte Inventare, Verzeichnisse und Objekte erwischt habe. Und ich versuche gar nicht erst, die Inventare der Kantone und Gemeinden aufzuzählen. Wenn meine Aufzählung stimmt, dann ergibt sich folgende Übersicht: 

 

Tabelle 1: Übersicht der Bundesinventare

 

BV, NHG und JSG Internationale Abkommen
Biotopinventare: ökologische Infrastruktur: 

- Moorlandschaften

- Auen

- Amphibienlaichgebiete

- Trockenwiesen und -weiden

- RAMSAR-Gebiete

- SMARAGD-Gebiete 

- Waldreservate

- Wasser-und Zugvögelreservate

- Wildtierkorridore

 Natur- und Heimatschutzinventare:   Natur und Heimatschutzinventare: 

- Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN)

- Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz (ISOS)

- Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS)

- Pärke nationale Bedeutung 

- Schweizer Seilbahninventar

- Inventar über militärische Bauten und Anlagen des VBS

- Inventar des Armee- und Kriegsdenkmäler

- Inventar der Kulturgüter nationaler Bedeutung (KSG)

- UNESCO-Welterbe

Quelle: eigene Darstellung 

 

Die Angabe des Bundesamt für Umwelt (BAFU), wonach 13,4 % der Landesfläche als Schutzgebiet ausgeschieden sei, ist mit Vorsicht zu geniessen. Viele von diesen Gebieten überschneiden sich und werden womöglich zweimal gezählt, wenn nicht mehrfach. Für raumplanerische Bauten ausserhalb der Bauzonen bleibt tendenziell dennoch immer weniger (Handlungsfrei-)Raum. 

 

Nun stellt sich die Frage, wie bei einem raumwirksamen Projekt der Schutz von betroffenen Inventarobjekten aktiviert wird. Vielfach sind es lokale Interessengruppen oder finanzstarke NGOs mit Sitz im Unterland, die gegen Bauprojekte opponieren. Doch manchmal werden ausserparlamentarische Kommissionen bereits vor der Erteilung einer Baubewilligung eingeschaltet. In Val Müstair ist es der Fall. 

 

Die aussenparlamentarischen Kommissionen EKD und ENHK

Über die Bundesinventare wachen zwei ausserparlamentarische Kommissionen: Die Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege (EKD) und die Eidgenössische Natur und Heimatschutzkommission (ENHK). Ist ein Objekt in einem solchen Inventar verzeichnet, bedeutet dies, dass es bei der „Erfüllung einer Bundesaufgabe“ ungeschmälert zu erhalten oder grösstmöglich zu schonen ist (Art. 6 Abs. 1 NHG). 

 

Zu den Hauptaufgaben der EKD und ENHK gehört die Ausarbeitung von Gutachten und Stellungnahmen zuhanden der Behörden des Bundes und der Kantone. Die EKD ist dem Bundesamt für Kultur (BAK) und die ENHK dem Bundesamt für Umwelt (BAFU) unterstellt. 

 

Wenn ein Bauvorhaben eine Bundesaufgabe darstellt und gleichzeitig ein Objekt betrifft, das im Bundesinventar der schützenswerten Ortsbilder der Schweiz von nationaler Bedeutung (ISOS), im Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS) oder im Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler (BLN) figuriert entscheidet die Behörde des Bundes oder die zuständige kantonale Fachstelle in einer Triage, ob ein Gutachten nach Art. 7 NHG durch eine eidgenössische Kommission zwingend einzuholen ist. Ob diese Kommissionen auch bei anderen Bundesinventare aktiv werden können, ist zwar nicht explizit ersichtlich, jedoch nicht auszuschliessen.

 

Würde ein Inventarobjekt durch das Vorhaben erheblich beeinträchtigt werden oder wenn sich in diesem Zusammenhang grundsätzliche Fragen stellen, werden die eidgenössischen Kommissionen eingeschaltet; bei geringfügigen Eingriffen wird auf Gutachten verzichtet. Im Falle von Val Müstair hat die EKD die Dorfsumfahrungsstrasse als einen erheblichen Eingriff in der Landschaft beurteilt und hat entsprechend ein negatives Gutachten erstellt. 

 

Wie kommen nun die Kantone und Gemeinden mit soviel Bundesinventaren zurecht? 

 

 

Handlungsbedarf erkannt, aber nicht umgesetzt

Im Zusammenhang mit der Revision des zweiten Teils des  Raumplanungsgesetzes (RPG2) sind im Bericht der Arbeitsgruppe der Bau-, Planungs- und Umweltdirektorenkonferenz (BPUK) vom 21. September 2017 mit dem Schwergewichtsthema „Raumplanerische Interessenabwägung“ (16) drei Problemfelder in Bezug auf die Bundesinventare aufgetaucht:

 

  1. die fehlende gesetzliche Konkretisierung des Kriteriums der nationalen Bedeutung, 
  2. die hohe Zahl der geschützten Objekte, die den Handlungsspielraum von Kantonen und Gemeinden einschränken,
  3. das Fehlen einer systematischen Überprüfung aller Bundesinventare. 

In allen drei Fällen wurden Vorschläge von der BPUK erarbeitet:  

  • Gesetzliche Konkretisierung des Kriteriums der nationalen Bedeutung: Die gesetzlichen Kriterien für die Auswahl der Inventarobjekte sollen präziser gefasst werden. Im Vordergrund steht eine Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der nationalen Bedeutung. Neben Legaldefinitionen wären auch quantitative Begrenzungen wie Höchstzahlen denkbar (z.B. „nur die 10, 15, 20… besten Objekte“). 
  • Entwicklung einer Methode zur Inventarisierung: Die bisherigen Prozesse der Inventarisierung sollen einer Analyse unterzogen werden. Die Methodik der Auswahl der Schutzobjekte muss für die verschiedenen Inventare nachvollziehbarer und transparenter gemacht werden.  
  • Systematische Überprüfung aller Bundesinventare: Sämtliche Bundesinventare sollen auf der Grundlage allfälliger gesetzlicher Konkretisierungen des Kriteriums der nationalen Bedeutung und einer ausdifferenzierten Methode überprüft und überarbeitet werden. 

Handlungsbedarf wurde also von der Kommission eindeutig erkannt. Wie so oft aber fehlte der Konsens bei den Massnahmen, sodass die Arbeitsgruppe der BPUK schliesslich empfahl, alle drei Lösungsvorschläge nicht weiterzuverfolgen. Zusammengefasst fürchtete man sich über den grossen Aufwand, den solche Massnahmen hervorgerufen hätten. Ausserdem wurden die vorhandenen Regelungen zur Inventarisierung für Fachleute als klar und eindeutig genug beurteilt. Unklarheit bestünde mehrheitlich bei Nicht-Fachleuten. 

 

Weitere potenzielle Konflikte

Im Falle von Santa Maria haben die Kommissionen als Alternative empfohlen, entweder eine Lichtsignalanlage vor dem Dorf zu installieren, allenfalls einen bergmännischen Tunnel zu bohren, wobei die beiden Tunnelportale möglichst ausserhalb des Ortsbilds errichtet werden müssten. Die Machbarkeit beider Varianten wurde im Vorfeld vom Kanton und der Gemeinde geprüft und als nicht realisierbar erachtet. So wie der Tiefbauamt es in seiner Mitteilung verlauten liess, hat es keine andere Möglichkeit, als die verschlagenen Alternativen nochmals zu prüfen. 

 

Am Schnittpunkt des Natur-, Landschafts-, Heimat- und Umweltschutzes, wobei Letzteres die Interessen des Menschen wahrnehmen soll, lässt ich ein inventarisiertes Objekt nur verändern, wenn das Interesse am Eingriff ebenfalls von nationaler Bedeutung ist und als gleich- oder höherwertig beurteilt wird. Das ist offensichtlich nach Beurteilung der beiden Kommissionen in Santa Maria nicht der Fall. 

 

Es ist aber der Fall bei den 15 Staudammprojekten des Runden Tisches von alt- Bundesrätin Simonetta Sommaruga zur Sicherstellung der Schweizer Energieversorgung. Dabei soll das Parlament die Schutzbestimmungen grundsätzlich und speziell für Gletschervorfelder und Auengebiete aushebeln, obwohl Frau Sommaruga dieses Vorhaben explizit nicht vorgesehen hatte. 

 

Infosperber (17) hat eine Reihe von potentiellen Konflikten zwischen dem Natur- und Landschaftsschutz und den Imperativen der Energieversorgung hervorgehoben. Mit Ausnahme des Projektes zur Erhöhung der Staumauer am Lago del Sambuco bei Fusio (TI) wären bei allen anderen Projekten Schutzgebiete von nationaler und kantonaler Bedeutung betroffen. 

 

Schlussfolgerung

Die Bewohner von Santa Maria Val Müstair und Schmitten, aber auch von Bivio und Cunter - um nur diese zu nennen -, werden täglich in der Reisezeit, an Wochenenden und Feiertagen durch Verkehrslärm und schädliche Immissionen geplagt. Dass sie versuchen, den Verkehr aus ihren Dörfern zu verlegen, liegt auf der Hand. Mit einer Dorfsumfahrung versuchen sie auch, das Ortsbild zu wahren und somit für den Tourismus attraktiv zu bleiben.

 

Nach der letzten Erfahrungen haben Santa Maria und Schmitten bei der Abwägung von Interessen zwischen Bundesinventaren und örtlichen Gegebenheiten jedoch das Nachsehen gehabt. 

 

Es ist nun ein Prinzip des Föderalismus, dass Bundesrecht über kantonales und Gemeinderecht Vorrang hat. Doch was, wenn der Bund mit seiner Gesetzgebung allzu sehr wuchert? Wenn vor lauter Schutz keine Entwicklung mehr möglich wird? 

 

Zudem stellt sich eine grundsätzliche Frage bezüglich des Auswahlverfahrens der schützenswerte Objekten. Was unter Schutz gestellt wird, entscheidet nicht das Stimmvolk, sondern eine Bundes- oder kantonale Behörde. Man kann es werten, wie mal will, aber hier liegt ein Demokratiedefizit, das es möglicherweise zu beheben gilt. 

Eigentlich hätten Santa Maria und Schmitten das Umweltschutzgesetz, das für die Gesundheit der Menschen sorgen soll, auf ihrer Seite. Doch der Natur-, Landschafts- und Heimatschutz ist offenbar stärker als der Umweltschutz. 

 

Mit zunehmender Urbanisierung des Unterlandes geht der zunehmende Natur-, Landschafts- und Heimatschutz einher, wobei die Bürde des Schutzes stillschweigend der Bergbevölkerung auferlegt worden ist, während die Städte und Agglomerationen sich weiterentwickeln dürfen/müssen. Von den Bergdörfer verlangt man, dass sie sich herausputzen, attraktiv und innovativ sind und ein Gefühl von „Heimat“ vermitteln, vor allem für die urbane Bevölkerung, die in der Freizeit auf der Suche nach ihrer verlorenen Identität ist. 

 

Doch die Staudammprojekte des Runden Tisches zeigen, dass der Naturschutz plötzlich zweitrangig werden kann, wenn die  Energieversorgung des Landes auf den Spiel steht oder - pragmatischer gesagt -, Wirtschaftsinteressen tangiert sind.

 

Virginia Bischof Knutti©21.03.2023

 

Quellen:

  1. Kanton Graubünden, Tiefbauamt, Val Müstair: Umfahrung Sta. Maria abgelehnt, Chur, 28.02.2023, https://www.gr.ch/DE/Medien/Mitteilungen/MMStaka/2023/Seiten/2023022801.aspx.
  2. Bundesamt für Umwelt (BAFU), Begriffe, in: Umwelt-Materialien Nr. 123, Bern, 2001, https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/landschaft/publikationen-studien/publikationen/begriffe-naturschutz-landschaftsschutz-heimatschutz.html.
  3. Bundesamt für Umwelt (BAFU), Biodiversität: Das Wichtigste in Kürze, https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/biodiversitaet/inkuerze.html.
  4. Bundesamt für Kultur (BAK), UNESCO-Welterbe, https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/baukultur/archaeologie-und-denkmalpflege/patrimonie-mondial-de-l-unesco.html.
  5. Bundesamt für Umwelt (BAFU), Biotope von nationaler Bedeutung, https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/biodiversitaet/fachinformationen/oekologische-infrastruktur/biotope-von-nationaler-bedeutung.html.
  6. Bundesamt für Umwelt (BAFU), Das internationale Übereinkommen über Feuchtgebiete (RAMSAR-Konvention) ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der die nachhaltige Nutzung sowie den Schutz der Lebensräume für Wasser- und Watvögel sicherstellt. Die Schweiz als Beitrittsstaat setzt die RAMSAR-Konvention vor allem mit Hilfe bestehender Bundesinventare um, BAFU, RAMSAR-GEbiete, https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/biodiversitaet/fachinformationen/oekologische-infrastruktur/ramsar-gebiete.html.
  7. Bundesamt für Umwelt (BAFU), Das Netzwerk SMARAGD will europaweit besonders wertvolle Lebensräume und Arten schützen. Die Schweiz hat sich als Vertragsstaat der Berner Konvention ebenfalls zu diesem Ziel verpflichtet. Bislang wurden 37 Gebiete aus der Schweiz in das Smaragd-Netzwerk aufgenommen, BAFU, SMARAGD-Gebiete, https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/biodiversitaet/fachinformationen/oekologische-infrastruktur/smaragd-gebiete.html.
  8. Bundesamt für Umwelt (BAFU), Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler von nationaler Bedeutung (BLN), https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/landschaft/fachinformationen/landschaften-nationaler-bedeutung/bundesinventar-der-landschaften-und-naturdenkmaeler-von-national.html.
  9. Bundesamt für Kultur (BAK), Bundesinventar der schützenswerte Ortsbilder der Schweiz (ISOS), https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/baukultur/isos-und-ortsbildschutz.html.
  10. Bundesamt für Strassen (ASTRA), Bundesinventar der historischen Verkehrswege der Schweiz (IVS), https://www.ivs.admin.ch/.
  11. Bundesamt für Umwelt (BAFU), Pärke nationaler Bedeutung, https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/landschaft/fachinformationen/landschaften-nationaler-bedeutung/paerke-von-nationaler-bedeutung.html.
  12. Bundesamt für Kultur (BAK), Schweizerisches Inventar der Kulturgüter von nationaler und regionaler Bedeutung (KSG), https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/baukultur/archaeologie-und-denkmalpflege/inventare/kgs-inventar.html.
  13. Bundesamt für Kultur ( BAK), Schweizer Seilbahninventar, https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/baukultur/archaeologie-und-denkmalpflege/inventare/kgs-inventar.html.
  14. Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), Inventare militärischer Bauten und Anlagen, https://www.bak.admin.ch/bak/de/home/baukultur/archaeologie-und-denkmalpflege/inventare/inventare-militaerischer-bauten-und-anlagen.html.
  15. Departement für Verteidigung, Bevölkerungsschutz und Sport (VBS), Inventar der Armee- und Kriegsdenkmäler INVENTARIO, https://www.vtg.admin.ch/de/die-schweizer-armee/geschichte-der-schweizer-armee/inventario.htm.
  16. Bau-, Planungs- und Umweltdirektorenkonferenz BPUK, Raumplanerische Interessenabwägung, Bericht der Arbeitsgruppe, Delémont, 21.09.2017, https://www.bpuk.ch/fileadmin/Dokumente/bpuk/public/de/dokumentation/berichte-gutachten-konzepte/planung/D_Bericht_Arbeitsgruppe_raumplanerische_Interessenabwaegung.pdf.
  17. Infosperber, Hier will das Parlament Schutzgebiete zerstören, 13.03.2023, https://www.infosperber.ch/umwelt/energieproduktion/hier-will-das-parlament-schutzgebiete-zerstoeren/.

 

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