Der Kanton Graubünden - Eine geopolitische Analyse

Zehn Erkenntnisse

1. Geografische Lage und Topografie: Der Verlust des Veltlin hat Graubünden zu einem mehrheitlich unbewohnbaren und unproduktiven Kanton schrumpfen lassen, dessen Bewirtschaftung höchste Ansprüche an Investitionen und Technologie stellt. Seine längste Grenze teilt der Kanton mit Italien - einem Land, das im europäischen Machtgefüge traditionell eher leider im Nachteil ist, um es diplomatisch auszudrücken. Obwohl Italien zu den Gründungsmitgliedern der EU zählt, in diesem Gremium nach wie vor ein Nettozahler ist, eine dynamische Wirtschaft beherbergt und kulturell ein Leuchtturm Europas darstellt, wird es im Vergleich zu Deutschland oder Frankreich unter seinem Wert wahrgenommen. Hier herrscht Ein krasses Nord-Süd-Gefälle, das auch Teile Graubündens erfasst. 

2. Dreisprachigkeit: Manche mögen in der Dreisprachigkeit lauter Hindernisse und übermässige administrativen Kosten sehen. Diese Annahme ist kurzsichtig und gründet auf reinen wirtschaftlichen Überlegungen. Denkt man darüber hinaus, erweist sich die Dreisprachigkeit für Graubünden als strategischer Vorteil. Vorausgesetzt, man steht dazu und setzt alle notwendigen Mitteln ein, um die Minderheitssprachen - Romanisch und Italienisch - aufzuwerten. Der Weg dazu führt meines Erachtens über die Gründung einer eigenen Universität, die neben einem hochwertigen Sprachenstudium auch innovative Studienrichtungen anbieten und somit die Wirtschaftsbasis des Kantons erweitern könnte.

3. Demografie: Graubündens Demografie ist schwach und alternd. Ohne eine Strategie, um die wirtschaftliche Attraktivität des Kantons zu steigern, seine Jugend zu behalten und Zuzügerinnen und Zuzüger anzuziehen, wird er nicht zuletzt wegen der Ökoligisierungswelle früher oder später grösstenteils zu einem einzigen Naturpark und/oder zu einem Ferienparadies für Touristen und Zweitwohnungsbesitzer verkommen. In beiden Fällen könnte ein solches Gebiet keine 200’000 Einwohner mehr beherbergen geschweige denn ernähren.  

4. Rivalität Zentrum-Peripherie: Als peripherer Kanton leidet Graubünden stark unter den herrschenden Machtansprüchen der Zentren, denen er ausgesetzt ist - Bern und dem Raum Bodensee- Zürcher Agglomeration. Aber auch innerhalb des Kantons stellen wir ein starkes Gefälle zwischen dem Zentrum - Chur - und der Bündner Peripherie fest. Umkehren kann man diese Machtverhältnisse nicht. Doch man kann sie ein Stück weit verschieben und neu gewichten, indem die wirtschaftliche Orientierung von Norden nach Süden, also vom Raum Bodensee-Zürcher Agglomeration nach Norditalien, und vom Churer Rheintal in die mittleren Zentren der Bündner Regionen, verlagert wird. Das würde gleichzeitig die Stellung Churs auf der Nord-Süd-Verkehrsachse stärken und gleichzeitig neue Perspektiven für das Engadin und die Südtäler eröffnen. 

5. Verkehrspolitik: Das geografische Zentrum des Kantons liegt nicht in Chur, sondern wie der Name es verrät, im Mittelbünden. Eine ideale Eisenbahnpolitik bestünde darin, dieses geografische Zentrum zu nutzen, um das Engadin und die Südtäler näher an das Zentrum Chur rücken zu lassen. Die Idee ist übrigens nicht neu. Schon zur Pionierzeit des Eisenbahnbaus am Ende des 19. Jh. wurde erwogen, den Eisenbahnknotenpunkt des Kantons in Thusis zu legen. Doch es setzte sich die Meinung durch, dass Chur besser - oder strategischer - dafür lag als Thusis. Diesen Standpunkt sollte man vielleicht überdenken, wenn der Kanton eine Eisenbahnpolitik haben soll, die das Engadin und die Südtäler besser berücksichtigt. Zudem besteht ein dringender Bedarf, das Engadin und die Südtäler in das europäische Eisenbahnkonzept einzugliedern.

6. Finanzressourcen: Graubünden täte gut daran, seine Abhängigkeit vom Bundesfinanzausgleich zu reduzieren, um mehr Entscheidungsfreiheit zu gewinnen und eine eigenständige Politik zu führen. Der Weg dazu führt über die Erweiterung der Wirtschaftsbasis. Wenn aufgrund eines Rückgewinns wirtschaftlicher Souveränität gegenüber Asien gewisse Güter wieder in der Schweiz produziert werden sollten, darf der Standort Graubünden nicht vergessen werden. 

7. Natürliche und kulturelle Ressourcen: Es ist richtig, Sorge zur Natur zu tragen, denn sie ist das Grundkapital Graubündens. Graubünden zählt im Bundesinventar einen Nationalpark, vier Naturparks und 16 Landschaften und Naturdenkmäler nationaler Bedeutung für eine Gesamtfläche von 132’579 ha. Das entspricht 18,6 % des Bündner Territoriums. Die Crux mit der Ökologisierung besteht darin, gleichzeitig Naturschutz und ein kritisches Mass an Wirtschaftsleben nebeneinander am Leben zu erhalten. Dieses Dilemma hat dazu geführt, dass die Kantone Tessin und Graubünden die Gründung eines zweiten Nationalparks an der Urne verworfen haben. Seitdem wird die Gründung von Naturparks bevorzugt. Schweizweit sind es bereits 18. Dem Netzwerk Schweizer Pärke zufolge liegt das Ziel zwischen 20 und 25. Naturparks lassen zwar etwas Wirtschaftsleben zu, ihr Hauptziel bleibt jedoch die Ökologisierung des Gebiets. Diesem Aktivismus gegenüber bleibt das Potenzial von Graubündens kulturellem Erbe mit wenigen Ausnahmen weitgehend unterbewertet und unerschlossen. Der Kanton arbeitet derzeit noch an einem Kulturförderungskonzept. Kreativwirtschaft ist in Graubünden so gut wie unbekannt, Kulturmanagement ebenso wenig. Dabei könnte Kulturmanagement ein Hauptfach der eigenen Universität werden. Nicht zu sprechen von einem Netz von Kulturhäusern, das, als gesellschaftliches Projekt konzipiert und verstreut über den ganzen Kanton, zur Stärkung der Identität, des Kulturlebens und der lokalen Wirtschaft beitragen könnte. 

8. Wasserbewirtschaftung: Die Möglichkeit, die Kontrolle über die eigene Ressource Wasser auszuüben, ist in Graubünden nicht gegeben, einerseits weil ein Teil der Wasserkraftwerke in ausserkantonalen Händen liegt, andererseits weil der Wasserzins von Bundesbern bestimmt wird. In Bezug auf die Wasserbewirtschaftung und Strompolitik wird künftig ein Seilziehen zwischen Bern und Brüssel die Machtverhältnisse prägen. Hier wäre Graubünden gut beraten, die Hoheit über das Wasser Bern zu überlassen, weil in der jetzigen Lage ein Gebirgskanton so gut wie keine Chance hat, sich gegenüber Bern bzw. Brüssel durchzusetzen. In Bezug auf den Energiebedarf hingegen dürfte Graubünden vermehrt auf Solarenergie setzen und somit etwas energetische Souveränität zurückgewinnen.

9. Entwicklung der EU: Das ist ein leidliches und äusserst komplexes Thema, das sich schwer auf einige einzige Kriterien reduzieren lässt. Ich wähle hier die Identitätsfrage: Eine Regionalisierung der EU basierend auf Sprachkriterien könnte Graubünden und die Schweiz im Allgemeinen in ihrer Grundzügen erschüttern. 

10. Globale Klimaerwärmung: Graubünden spürt deutlich den Trend zur Ökologisierung der Alpen. Es wird befürchtet, dass infolge der Klimaziele von Paris und den Auswirkungen der Coronakrise der Druck auf den Kanton zunimmt, diese Ökologisierung zu verstärken und das Wirtschaftsleben auf einige wenige  Inseln zu konzentrieren (Churer Rheintal, Davos, St. Moritz). 

 

Virginia Bischof Knutti©15.01.2020