Welche Geopolitik verfolgt die EU?

Das Misstrauen der Mehrheit der Schweizer gegenüber der EU ist nicht subjektiv. Es erklärt sich durch die Entwicklungen der Geschichte und beruht auf der Tatsache, dass die EU sich bis zum heutigen Zeitpunkt nie zu ihren territorialen Zielen geäußert hat. Wo liegen die Grenzen der EU? Von der Antwort auf diese nie befriedigend beantwortete Frage leiten sich andere nüchternere Fragestellungen ab wie: Welches wäre das Gewicht der Schweiz in dieser Organisation in Bezug auf Stimmen; welches wäre der finanzielle Preis dafür und insbesondere welche Souveränitätsverluste müsste die Schweiz bei einem Beitritt in Kauf nehmen? Kurz gesagt, bevor sie sich in ein Abenteuer stürzen, wollen die Schweizer wissen, wohin die Reise geht. Mangels einer Stellungnahme seitens der EU wird der Schweizer Souverän sich die Antworten wohl selber geben. 

 

Für den Kontinent ist Europa eine wichtige Organisation geworden, der es in den letzten 60 Jahren gelungen ist, interne Konflikte auf friedliche und konstruktive Art und Weise zu regulieren und damit Kriege unter EU-Mitgliedern fernzuhalten. Nicht vergessen darf man hingegen, dass das oberste Ziel der ersten sechs Mitglieder des vereinigten Europas darin bestand, zwei antagonistische Staaten unter ihnen, Frankreich und Deutschland, die, mit ihren jeweiligen Verbündeten ganz Europa zweimal über 40 Jahren in Mitleidenschaft gezogen und Unmengen von Saats- und Volksvermögen vernichtet haben, zu neutralisieren, und die alte Feinschaft zu beenden. Später wurden wirtschaftliche Anreize zum Motor des europäischen Aufbaus. Eine europäische politische Identität ist viel später mit der Anwendung des Maastricht-Vertrages gekommen, die allerdings sehr lückenhaft und kümmerlich vor sich hin lebt. 

Die Lücken im bestehenden Dispositiv füllen

Noch hat das Territorium der EU weiße Flecken. Die EFTA-Staaten Schweiz, das Fürstentum Liechtenstein, Norwegen und Island fehlen noch. Norwegen hat den Beitritt zur EU bereits dreimal durch Volksabstimmungen verweigert, aber die norwegischen Regierungen scheinen seit Jahren das Wort des Volkes nicht verstehen zu wollen. Wie es dort hinsichtlich des EU-Beitritts weitergehen soll, bleibt ungewiss. Island hat nach der Finanzkrise 2009 ein Beitrittsgesuch gestellt. Obwohl Norwegen und Island periphere Staaten der EU sind, ist ein Beitritt seitens der EU in Anbetracht der Nähe zur Arktis aus geopolitischer Sicht wichtig und erfolgsversprechend. Eine zweite Gruppe möglicher Beitrittskandidaten sind Kroatien, Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegovina, Kosovo, Mazedonien und Albanien, sieben Staaten, die eine territoriale Kontinuität der EU sicherstellen könnten. Es ist jedoch heute völlig offen, ob unter dem Konkurrenzkampf mit China und Indien die EU nicht versuchen wird, ihr Territorium weitert auszudehnen, um demografisch auf Augenhöhe mit diesen beiden Ländern zu rivalisieren.

Die umfassende Erweiterung

Um demografisch gesehen gleichwertig mit China und Indien konkurrieren zu können, muss sich die EU jedoch enorm ausdehnen. Eine erste Kandidatengruppe könnte durch Staaten gebildet werden, von denen einige bereits ein bevorzugtes Statut gegenüber der EU genießen. Es handelt sich hauptsächlich um orthodox christliche Länder, nämlich die Ukraine, Weißrussland, Moldawien und im Kaukasus Georgien. Der Eingang der EU im Kaukasus schafft einen Präzedenzfall und impliziert eine konsequentere Erweiterung. Eine aus anderen kaukasischen Staaten gebildete Gruppe wie Armenien und Aserbaidschan (Letzteres ist ein moslemisches Land) könnte dann ihren Eingang in die Union verwirklichen. Folglich würde theoretisch nichts mehr gegen den Beitritt der Türkei sprechen. Eine dritte Gruppe würde nur aus einem Land bestehen, das aber so groß ist wie ein Kontinent, nämlich Russland. Schließlich könnte die EU das Konzept der Römer, das Mare nostrum, wieder aufleben lassen und das Mittelmeer ins Dispositiv durch eine Erweiterung im Süden erschließen. Dies würde dann alle Maghreb-Länder sowie einige Staaten des Mittleren Ostens integrieren. Schematisch kann man sich die potenziellen Erweiterungen der EU nach der unten stehenden Tabelle vor Augen führen: 

Neue potentielle Mitglieder EU-Mitglieder Bevölkerung (Mio.) Fläche (tausend km2)
Aktuelle Lage (März 2011) EU-27 499 4'476
EFTA (Schweiz, Liechtenstein, Norwegen, Island) EU-31 511 4'844
Ex-Jugoslawien (Kroatien, Serbien, Montenegro, Bosnien und Herzegovina, Kosovo, Mazedonien) und Albanien EU-38 538 5'115
Ukraine, Weißrussland, Moldawien, Georgien EU-42 603 6'027
Aserbaidschen, Armenien, Türkei EU-45 684 6'956
Russland (inkl. Kaliningrad) EU-46 826 23'956
Nordafrika und Naher Osten (Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Israel, Libanon, Syrien und Jordanien) EU-55 1'034 30'013
 
Mit 55 Staaten, einer Gesamtbevölkerung von etwa einer Milliarde Einwohner und einer Oberfläche von mehr als 30 Millionen Km2 wäre die EU der drittgrößte Kontinent (ex aequo mit Afrika), gleich hinter Asien (44,5 Millionen Km2) und Nord- und Südamerika zusammen (41 Millionen Km2). Das ergibt ein gewaltiges Machtpotenzial. Aber diese Perspektive scheint heute nicht sehr realistisch, zumal sie erst mit dem Beitritt der Türkei, Russlands und des Südufers des Mittelmeers an Bedeutung gewinnen würde. Abgesehen von der Türkei haben diese Letzten entweder keinen Integrationsehrgeiz (Russland) manifestiert, oder sie sind nicht in der Lage, die derzeitigen Beitrittskrieterien zu erfüllen (Nordafrika und Naher Osten). Um diese Gesamtheit zu verwalten, müsste sich die EU einiges einfallen lassen und ein Riesenheer von Beamten einsetzen. Aber selbst eine gute Verwaltung bedeutet nicht, dass die Bevölkerungen dieser Gesamtheit nach einer solchen Zukunft streben. Schließlich ist es wohl ein Zufall, dass man feststellen kann, dass das einzige einigermaßen gemeinsame Kriterium all dieser Länder in der weißen Rasse besteht. Eine geopolitische Zielsetzung der EU? 

Virginia Bischof Knutti©2011